Zweite Spielzeit für Rot-Grün

Rot-Grün kann weiterregieren. Mit wenigen tausend Stimmen Vorsprung bleibt die Sozialdemokratie die stärkste Fraktion im neuen Parlament. ...

... Der eigentliche Überraschungseffekt der Wahl war das positive Abschneiden der Grünen, das deutlich unter den Erwartungen bleibende Ergebnis der FDP und das katastrophale Resultat für die PDS.
CDU und CSU versprechen eine harte Opposition und wollen die Regierung frühzeitig zur Strecke bringen. Die Zusammenlegung von CDU-Partei- und CDU/CSU-Fraktionsführung soll die nötige Entschlossenheit sicherstellen. Die Kampfansage wird man ernst nehmen müssen. Nicht nur, weil die bürgerlichen Parteien im Bundesrat über die Mehrheit verfügen und wichtige Regierungsprojekte blockieren können.

Andererseits sollte man die Drohungen von Seiten der bürgerlichen Opposition auch nicht überschätzen. Der Rücktritt von FDP-Vize Möllemann und die Auseinandersetzung Merz-Merkel signalisieren, dass in den bürgerlichen Parteien noch reichlich Konfliktstoff politisch zu verarbeiten ist. Bereits die Wahlkampagne hat deutlich gemacht, dass die bürgerliche Opposition über keine hinreichenden inhaltlichen Alternativen verfügt - demoskopische "Kompetenzvorsprünge" waren mehr auf Hoffnung an den Kandidaten als auf ein solides konzeptionelles Fundament gebaut. So war das grandiose Steuersenkungsprogramm spätestens vom Tisch, als das Hochwasser von Elbe und Donau stieg, und der Plagiats-Vorwurf an die Adresse der Hartz-Kommission nutzt wenig, wenn damit der sozialdemokratische Kanzler punktet. Auch die bürgerlichen Parteien können keine stabile Hegemonie organisieren. Ein solches Projekt wäre nur über eine neue Gestaltungsdimension der Lohnarbeit im flexiblen Kapitalismus zu haben. Wer aber die Lohnzurückhaltung und die Erhöhung der Unsicherheit der Lebenslage der eigentumslosen Klassen zu den obersten Grundsätzen der Politik erklärt, kann nur von der Schwäche und den Halbherzigkeiten der politischen Linken seine Lebenskraft ableiten.

Der FDP-Politiker Möllemann hat seinen zügigen Abtritt aus der Bundespolitik auch damit begründet, dass er einem Teil der liberalen Führungscrew keinen Anlass bieten will, von ihren Schwächen abzulenken. Unbestritten ist, dass die FDP in Nordrhein-Westfalen ein deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegendes Ergebnis eingefahren hat. Vor allem die Landesverbände in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind unter den Erwartungen geblieben. Die Auseinandersetzung um eine rechtspopulistische Ausrichtung der FDP ist mit dem vorläufigen Rückzug von Möllemann noch nicht ausgestanden. Die Parteien des bürgerlichen Lagers werden Mühe haben, ihre Geschlossenheit und Klarheit aufrecht zu erhalten.

Unter Druck gesetzt wird die alte und neue Regierungskoalition vor allem von der sozio-ökonomischen Entwicklung:
- Der immer wieder angekündigte Aufschwung wird von den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten erst für Mitte des kommenden Jahres erwartet. Auch wenn man eine erneute Rezession (double dip) in den kapitalistischen Hauptländern ausschließt, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Konjunkturerholung nicht im Selbstlauf zu haben ist. Vor allem die so genannten Schwellenländer (Argentinien, Brasilien, Türkei etc.) haben mit der schwersten Krise seit 1997/98 zu kämpfen.
- In Deutschland wird das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr voraussichtlich noch unter dem des Vorjahres (0,6%) zu liegen kommen. Faktisch werden der Regierungskoalition damit in den verbleibenden Monaten etliche ungedeckte Wechsel präsentiert.
- Die Arbeitslosigkeit fällt mit über vier Millionen deutlich höher aus als kalkuliert; die Kosten steigen, während die Steuer- und Sozialeinnahmen geringer ausfallen.
- Der Sanierungsbedarf bei den Sozialkassen wird entweder die öffentlichen Haushalte oder die Beitragszahler treffen; die Stimmung im rot-grünen Lager wird sich rasch verschlechtern.
- Aus Brüssel steht eine Abmahnung wegen des Überschreitens der Defizitgrenze ins Haus, was in seinen praktischen Konsequenzen möglicherweise zu vernachlässigen ist, aber das politische Klima belasten dürfte.

Außenpolitisch steht die Regierung vor einem sich vorerst weiter verschärfenden Konflikt zwischen den USA und dem Irak. Auch eine Aufwertung der UNO wird den Unilateralismus der USA nicht bremsen. Das Verhältnis der Bundesrepublik zu den USA und der Nato bleibt belastet. Hinzu kommen die ökonomischen, finanziellen und politisch-administrativen Risiken der EU-Osterweiterung.

Angesichts dieser Problemlage wäre es naiv, von dieser Regierungskoalition in den nächsten Monaten weitere Reformprojekte zu erwarten. Pragmatik oder Durchwursteln ist die oberste Handlungsmaxime. Die Koalition wird versuchen, die wachsenden Finanzprobleme im Griff zu behalten und auf eine durchgreifende Besserung der Konjunktur zu setzen. Schon bei der vollmundig angekündigten "Eins-zu-Eins-Umsetzung" der Vorschläge der Hartz-Kommission sind Auseinandersetzungen zu erwarten. Die rot-grüne Regierungskoalition verfügt über keine ausgebaute oder stabile Hegemonie. Die Regierungsparteien haben keine finanziellen Reserven. Sie werden in den nächsten Monaten durch Mängelverwaltung und Impulse aus dem internationalen und nationalen Bereich getrieben, die zielgerichtete Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird eher Nebensache. Wenn im Verlauf der neuen Legislaturperiode die Umgestaltung des Rheinischen Kapitalismus in Richtung einer flexiblen gesellschaftlichen Betriebsweise etwas vorankommt, dann ist dies faktisch das Ergebnis einer reaktiven Regierungspolitik. Schließlich sind auch an der politisch-ideologischen Führungskraft massive Zweifel angebracht.

Die von den rot-grünen Führungsleuten immer wieder beklagte "blockierte Gesellschaft" wird auch in der zweiten Regentschaft nicht wirklich überwunden werden. Bei der Regierungsübernahme 1998 hatte sich Schröder das Modell eines "dritten Weges" zwischen alter Sozialdemokratie und Neoliberalismus zu eigen gemacht. Mittlerweile hat sich diese Konzeption als recht fadenscheinig erwiesen. Die programmatische Modernisierung ist in der Programmkommission versackt. Noch in den 80er Jahren wurde die Verständigung über die Ziele und den Charakter der Sozialdemokratie mit viel Engagement und Leidenschaft durchgekämpft. Heute sind die Zeiten, in denen sich die SPD als Programmpartei profilierte, nahezu vergessen. Medienpräsenz, Themenzappen und das Zurschaustellen von Führungsqualitäten sollen ein enttraditionalisiertes Wahlvolk an die SPD binden; Programme erscheinen da als Relikte eines überwundenen "ideologischen Zeitalters"; politisches Benchmarking liefert die neuen Orientierungsmarken.

Die Grünen versprechen sich thematisch wie personell eine Aufwertung in der Regierungskoalition. Ein hartes Power-Play um eine neue Koalitionsvereinbarung wird uns erspart bleiben. Immerhin ist selbst der Seeheimer-Kreis, jene illustre Versammlung der SPD-Rechten, von der zivilisatorischen Notwendigkeit einer nachhaltigen ökologischen Politik überzeugt, sofern sie nicht mit den Anforderungen an eine effektive Standortpolitik kollidiert - aber das wollen auch die Grünen nicht. Die grüne Führungsmannschaft ist realistisch genug: Sie lässt sich als Wahlgewinnerin feiern, weiß aber, dass ein Gutteil des Stimmenzuwachses aus den Ängsten sozialdemokratisch gesinnter Wählerschichten um den Koalitionspartner gespeist worden ist. Fischer kokettiert gezielt mit seinem Ruf als Ober-Realo: Er hat die Stimmung in der Republik und im rot-grünen Lager richtig eingeschätzt; geistige Führung ist aus seiner Sicht nur insoweit noch nötig, als man den reaktionären Kräften um Stoiber, Merkel und Westerwelle den politischen Schneid abknöpfen muss.

Schröder wird sich in seiner zweiten Spielzeit weiter als Konsenskanzler profilieren wollen. Die Regierungsparteien werden einige Anstrengungen unternehmen, ihr etwas lädiertes Verhältnis zu den Wirtschaftsverbänden wieder in eine normale Arbeitsbeziehung zu verwandeln. Die Gewerkschaften atmen erleichtert auf, dass ihnen Frontalattacken gegen das Tarifrecht, die Mitbestimmung und die Regulierung des Arbeitsvertrages erspart bleiben. Doch sollten sie jetzt nicht wie 1998 leisetreten aus Rücksicht auf die knappen Mehrheitsverhältnisse und die fragile öffentliche Stimmung. Wenn sie ihre Grundsatzpositionen in der Gesundheits- oder in der Arbeitsmarktpolitik ernst nehmen, müssen sie sich gerade auch bei einem sozialdemokratischen Kanzler Gehör verschaffen. Die zahlreichen unerledigten Wahlversprechen aus der ersten Legislaturperiode (z.B. hinsichtlich der Novellierung des Streikrechts und des Arbeitszeitgesetzes) mahnen, dass keine Zeit bleibt, sich zurückzulehnen.

Auch innerhalb der Regierungskoalitionen wird das Führungspersonal neu sortiert. Was sich mit dem Wechsel zum SPD-Fraktionsvorsitzenden Müntefering ankündigt, ist eine klare Botschaft. Der politische Widerspruchsgeist und die Diskursfähigkeit der Regierungsparteien ist noch weniger gefragt als in der letzten Legislaturperiode. Die Bündnisgrünen haben aus eigener erfolgreicher Kraftanstrengung den Großteil ihres der Friedensbewegung nahe stehenden, politisch eher linken Flügels entsorgt. Übrig geblieben sind der ausgewiesene Pazifist Hermann und der Experte in Sachen Korruption und Kriminalität, Ströbele. Welchen Handlungsspielraum diese beiden Kritiker des grünen Mehrheitskurses - die der neuen Fraktion eigentlich nicht mehr angehören sollten -, haben werden, bleibt abzuwarten.

Bei der Sozialdemokratie bedarf es letztlich keiner straffen Fraktionsführung, weil die in der letzten Legislaturperiode schmollende Parteilinke durch die personelle Zusammensetzung der Fraktion weiter geschwächt wurde. Im Prinzip könnte die Sozialdemokratie versuchen, über den Ausbau der im Wahlkampf vorzüglich rekonstruierten Beziehungen zur linksstehenden Intelligenz und etlichen selbstkritischen Gewerkschaftsfunktionären eine Rekonstruktion oder Wiederbelebung der sozialdemokratischen Linken anzustoßen. Aber in den neu formierten autoritätsgläubigen Regierungsparteien ist für eine solch feinsinnige Entwicklung von Hegemonie kein Platz.