Die öffentliche Geschichtsdebatte und die Linke - Tendenzen und Probleme

in (04.11.2002)

In den 90er Jahren entfaltete sich in der Öffentlichkeit ein Interesse an Geschichte, wie es in Deutschland noch nie zu beobachten gewesen ist. Was kann und was soll Geschichtswissenschaft leisten?

In den 90er Jahren entfaltete sich in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik ein Interesse an der Geschichte, wie es in Deutschland noch nie auch nur annähernd an Breite und politisch, moralisch und emotional so aufgeladen zu beobachten gewesen ist. Ungewöhnlich stark frequentierte Ausstellungen, Besucherandrang in Museen, eine Vielzahl historischer Filme, Fernsehserien, zahlreiche Themen quer durch die Geschichte in der Presse und in politischen Magazinen belegen es; man spricht von einer "Inflation des Gedenkstättenwesens ". Fanden die ›großen‹ Geschichts-Debatten wie die Fischer-Kontroverse (60er Jahre) oder der Historiker-Streit (1986/87) im wesentlichen unter den Historikern statt, so beteiligte sich nun eine breite Öffentlichkeit, zum Teil in Großveranstaltungen an ihnen. Höhepunkte waren - exemplarisch - (1)

- die Walser-Bubis-Debatte über die Rede des Schriftstellers bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998, in der dieser einen gewissen Überdruß am Gegenstand ›Holocaust‹ und Befürchtungen über kontraproduktive Wirkungen seiner Strapazierung und politischen Instrumentalisierung artikulierte (2);

- die intensive, wenngleich kurze Aufregung um das Buch Norman Finkelsteins über die "Holocaust-Industrie", mit dem durch den Angriff auf "Schmarotzer" in den Institutionen der Holocaust-Ehrung diese gewissermaßen ihrer moralischen Unschuld beraubt werden sollte (3);

- der jahrelange Streit um ein Holocaustdenkmal in Berlin; und vornehmlich

- die Ausstellung des Hamburger Reemtsma-Instituts über den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, die alle rechts- und halbrechts bis zu national-liberal Denkenden zu exzessiven Reaktionen herausforderte (4); die Besucherzahlen der "alten" Ausstellung erreichten um die 800 000, mit der "neuen" setzt sich der Andrang fort.

Offenbar wurden mit solchen Themen empfindliche Stellen eines Bedürfnisses nach historisch fundierter Identität getroffen, von der seitens der FAZ künstlich entfachten Preußen-Diskussion um ein Land Berlin-Brandenburg hingegen kaum. An den auf die Zeit des Faschismus ausgerichteten Debatten wurde der Holocaust gewissermaßen endgültig als neuer Gründungsmythos des eigenen Staates eingesetzt. Ein imposantes öffentliches Interesse fanden jedoch ebenso Ausstellungen nichtzeitgeschichtlicher Thematik wie die Europarats-Ausstellung "Europas Mitte im Jahre 1000" oder die Bonner Troja-Ausstellung.

Phänomene solcher Art waren es, die Aleida Assmann und Ute Frevert bewogen, in ihrer Monographie zum "Umgang mit deutschen Vergangenheiten" (1999) denn auch von einem Weg von der "Geschichtsvergessenheit" zur "Geschichtsbesessenheit" zu sprechen. Ihre entschiedene These lautet: "Noch nie zuvor hat sich eine Zeit, eine Nation, eine Generation so reflektiert und reflektierend mit sich befaßt; Geschichtserinnerung. ...Selbstbeobachtung steht hoch im Kurs... auch im politisch-intellektuellen Diskurs." (5)

Eine "Flucht in die Geschichte" setzte in der BRD bereits in den 70er Jahren ein, verschiedentlich werden die 80er als "große Zeit des Geschichtsinteresses" angesehen (6), doch keine frühere öffentliche Debatte über die Historie wandelte die Geschichtskultur so tief wie die in dem Dutzend zurückliegender Jahre. Schon der Begriff ›Geschichtskultur‹ ist erst hier zu einer Standard- und Grundkategorie geworden, mit der die ›organisierte‹ Nutzung der Geschichte in einer Gesellschaft in ihrer Komplexität gekennzeichnet wird. Er handelt von der "praktisch wirksame(n) Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft", von der "Gesamtheit der Formen, in denen Geschichtswissen in einer Gesellschaft präsent ist" (7), und von den "normative(n) Gesichtspunkte(n) der Praxis in diesem Bereich" (8). Doch die Expansion des öffentlichen Interesses an der Geschichte wird kontrastiert von schwindendem rationalem Wissen, mangelnder Einsicht in Zusammenhänge und ausbleibender Erkenntnis historischer Prozesse und Verwurzelungen der Gegenwart. An diese allgemeinen Aussagen sind vier grundsätzliche strukturelle, ins Methodologische reichende Merkmale der aktuellen Geschichtsdebatte gebunden.

Erstens wurden in ihr spezifische Ansätze ausgeprägt und Begriffe in zentrale Kategorien der allgemeinen öffentlichen Praxis des Umgangs mit Geschichte erhoben, die zuvor nebenher oder in anderen Wissenschaftsdisziplinen höhere Bedeutung besaßen: Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen; der Zeitzeuge wurde endgültig zur Quelle ersten Ranges befördert, ihm wird ein gewissermaßen ›natürlicher‹ Anspruch auf dominante Aussagekraft zugesprochen. Darin tritt eine hochgradige Individualisierung und Emotionalisierung des Geschichtsbildes und der Geschichtskultur insgesamt zutage. Eine fast extreme Gestalt erreichen jüngste Diskussionen, die statt der Bewahrung von Geschichte als Erinnerung im Gedächtnis sie nun in ein ›Gedenken‹ verwandeln wollen oder Gedächtnis und Gedenken in eins setzen.

Zweitens: Geschichte wird mit der extrem angewachsenen Medialisierung des Lebens nach deren Regelwerk in die Öffentlichkeit transportiert, dort verarbeitet und zelebriert - so, wie Politik selbst nach Meinung vieler ihrer Träger erfolgreich nur als ›Inszenierung‹ betrieben werden kann. Damit tritt unvermeidlich an den Platz des Gegenstandes das Spektakel und mit ihm: Vergröberung, Verzerrung, Dramatisierung, Mystifizierung., Polarisierung (Freund-Feind- Schemata), personale Fixierung bei Sachproblemen und ähnliches mehr.

Drittens erleben wir eine Zeit der Hochblüte und (relativen) Effizienz von Geschichtspolitik. Daß Geschichte als Instrument der Politik dienstbar gemacht wird, um zu legitimieren, zu begründen und zu mobilisieren, ist normal; Geschichtspolitik als verwerflich zu betrachten heißt, weltfremd zu moralisieren. Es findet sich auch unter den Historikern kaum noch jemand, der die politische und gesellschaftskritische Rolle der Geschichtswissenschaft bestreitet. Doch Geschichtspolitik ist stets ambivalent, je nach dem damit verfolgten Ziel und der Art des Umgangs mit dem Objekt, und sie neigt, wer immer sie betreibt, von sich aus dazu, die Komplexität historischer Ereignisse, Zusammenhänge und Prozesse zu ignorieren, zu vereinseitigen, Akzente irreführend zu setzen und ähnliches mehr. Sie legt sehr grobe Raster über die objektive Geschichte, wenn sie diese nicht gar verfälscht.

Daran schließt ein viertes Merkmal der öffentlichen Geschichtsdiskussion an. Wo Politiker Geschichte instrumentalisieren, wird in aller Regel der Historiker, soweit er nicht selbst zum politischen Akteur mutiert, ›enteignet‹. Die Berufshistoriker haben, wenn sie es denn je besaßen, längst ein ›Monopol‹ auf den Zugang zur Geschichte, auf deren ›Verwaltung‹ und ›Bearbeitung‹ verloren. Mehr noch: Sie geraten teilweise geradezu in groteskem Maße in Konfrontation zur dominanten öffentlichen Meinung (9), wenn diese die Resultate ihrer Arbeit nicht wahrhaben will, oder wenn, wie im Falle von Politikern, die Resultate der Forschung politisch-utilitaristisch und populistisch mißbraucht werden. Am Ende vertrauen Geschichtslaien sich selbst und manchen historisierenden Medien und Politikern mehr als den Historikern. Das originär kritisch-aufklärerische Anliegen der Geschichtswissenschaft droht beständig durch die Mühlsteine eines emotional stimulierten Interesses - ob zur ›Selbstfindung‹ oder um des ›Raunens der Vergangenheit‹ willen - und die Begründungsbedürfnisse der Politik in der Gesellschaft zerrieben zu werden. (10)

Zum Hintergrund des Diskurses auf dem Feld der deutschen Geschichte

Natürlich wurde der Geschichts-Boom in den Medien zunächst inhaltlich wesentlich dadurch geprägt, daß die DDR in die Bundesrepublik eingegliedert und nach ihrem Muster transformiert wurde, wodurch neue innere politische und gesellschaftliche Konfliktfelder entstanden. Zugleich wuchsen mit dem Zuerwerb der DDR Größe und Potential der BRD im Herzen Europas enorm, und ein Denken in Kategorien der Weltpolitik in den regierenden Kreisen griff um sich, das in die aktive Kriegsteilnahme einmündete. Diese Entwicklung konfrontierte die Bundesrepublik allerdings mit der internationalen machtpolitischen Rolle Deutschlands seit dem Ende des 19. und vordringlich des 20. Jahrhunderts. Da die Regierenden den Anschein eines Kontinuums deutscher Machtpolitik scheuen, verlangt die äußere Glaubwürdigkeit eine verstärkte Auseinandersetzung vor allem mit der faschistischen Vergangenheit. Die nötige innere Stabilität löst zugleich beharrliche Bemühungen um nationale Sinnstiftung und Identität im vereinten Deutschland aus.

Diese Tendenzen vollziehen sich vor einem tieferen Hintergrund. Pierre Nora kleidete ihn wiederholt in Worte wie: "Wir erleben eine weltweite Konjunktur des Gedächtnisses ... es ist, als wäre eine Flutwelle der Erinnerung über die Welt hereingebrochen ... die Konjunktur des Gedächtnisses (erfolgt) am Schnittpunkt ... großer historischer Phänomene Â… Das erste Phänomen hat mit der sogenannten ›Beschleunigung der Geschichte‹ zu tun ... einer Veränderung, die immer mehr Tempo gewinnt, die mit zunehmender Beschleunigung alle Dinge in eine immer schneller sich entfernende Vergangenheit befördert. ... Dieser Umbruch ... hat ... die Einheit der historischen Zeit zerstört, die schöne und schlichte Linearität, die die Gegenwart und die Zukunft mit der Vergangenheit verband." (11)

Dies ist wesentlich durch den Epochebruch mit dem Untergang des europäischen Staatssozialismus bedingt. Michael Jeismann spricht daher in seinem jüngsten Buch von einer
"Zwischenzeit, in der ... die Vergangenheit politisch nützlich zu werden (beginnt), ohne daß sie schon zu einem Punkt in der Ferne geschrumpft wäre. Nicht zuletzt aus diesem Grund barsten die vergangenen zehn Jahre fast vor Historischem. Es ist, als lade die Gegenwart sich mit Vergangenheit auf, um sich wieder einen Vorrat an Geschichte zu schaffen." (12)

Die ›Inflation‹ an Geschichte weist auf Grunddefizite in der Gesellschaft hin, auf eine gewisse Art Flucht im Gefolge von Verunsicherung, allzumal in der nachfordistischen Epoche des galoppierenden, sich rasant globalisierenden High-Tech-Kapitalismus. Sicherlich hat auch der Jahrzehnte währende starke Zug zur Strukturgeschichte mit ihrer Tendenz zur Entpersonalisierung der Historie als Gegenreaktion das Bedürfnis nach anschaulicher Geschichte gefördert. (13) Für die Hinwendung der Historikerzunft selbst zur kritischen Analyse der Rolle der Geschichtswissenschaft während der Herrschaft des Faschismus in den 90er Jahren wirkte sich hier wie in anderen Ländern der Generationenwechsel aus - die Plätze der Schüler der einst Involvierten aus den 20er und 30er Jahren, die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik nach 1945 zunächst Prägenden, nehmen nun Schritt für Schritt die "Schüler der Schüler" ein, subjektiv frei von Verstrickungen. (14) Jan Assmann wertet diesen Abtritt einer ganzen Generation 40 Jahre nach der größten Katastrophe in der Weltgeschichte zugleich als eine "Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung", so daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma aufbaut, in dem die Zusammenhänge neu gesehen werden. (15)

Hauptstränge des öffentlichen nationalen zeitgeschichtlichen Diskurses

An dieser Stelle kann knapp nur auf zwei Tendenzen hingewiesen werden, die für den Drang zur Geschichte als politischer Hintergrund hindurchschimmern. Erstere bewegt sich um die Selbstfindung zu elementaren Problemen aus der Zeitgeschichte als Problem deutscher Identität. Darin geht es um "nationale Orientierungen", die bereits zu Beginn der 80er Jahre unter Helmut Kohl von konservativer Seite eingeleitet wurden, nämlich die Geschichte Deutschlands als die einer "normalen Nation" zu zeichnen, diese von permanentem "Schuldgefühl" und "Minderwertigkeitskomplexen " zu befreien und den Bürgern neues Selbstvertrauen, nationalen Stolz und Selbstbewußtsein in einem sich vereinigenden Europa einzuflößen. (16) In der Geschichtswissenschaft verheißt dies zum einen Neudeutung des geschichtlichen Weges Deutschlands im 19./20. Jahrhundert - in erster Linie "Deutschlands langen Weges nach Westen" - und komplexe, modifizierte Sichten auf die ›Erfolgs‹-Geschichte der BRD bis 1989. In Wechselwirkung damit wächst ein "revisionistischer" Kurs, der sich um die "Einebnung" der Zeit des deutschen Faschismus in den Gesamtprozeß einer deutschen Nationalgeschichte bemüht. Seine Vertreter sehen die Jahre 1933-1945 nicht mehr als Orientierungspunkt eines geschichtlichen Bezuges der BRD an - dies trage einen negativen, destruktiven Charakter -, sondern relativieren sie als eine nur kurze Periode in der 1000jährigen Gesamtgeschichte Deutschlands, in die sie gewissermaßen zurück- und herabzustufen wäre. Im Fachkreis der Historiker brach dieses Bestreben geschichtstheoretisch bezogen zuletzt in zwei Fällen auf:

- im bis heute nachwirkenden Eklat um Horst Möller bei der Verleihung des "Konrad-Adenauer-Preises für Wissenschaft" an Ernst Nolte (4. Juni 2000) durch die CDU/CSU-nahe Deutschlandstiftung e.V.; der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München hielt die Laudatio auf den Mann, dem "der Versuch einer Revision des deutschen Geschichtsbildes in nationalapologetischer Absicht" (Heinrich August Winkler) vorgehalten wurde; die Reaktionen auf das Verhalten Möllers sollen zwischen "Resignation und Entsetzen" gelegen haben (17);

- im Aufsehen um Karl-Heinz-Bohrer, der vordringlich Historiker zum Widerspruch reizte, doch auch in den Medien außergewöhnliche Resonanz fand. Der namhafte Mitherausgeber des "Merkur" sprach und schrieb im Juni 2001 von der "Nichtexistenz eines Verhältnisses zur geschichtlichen Ferne, das heißt zur deutschen Geschichte jenseits des Bezugsereignisses Nationalsozialismus"; das bedeute "Erinnerungslosigkeit ... an die kollektive Vergangenheit der Nation"; das ausschließliche Nahverhältnis anstelle eines Fernverhältnisses zur Nationalgeschichte stelle Ignoranz gegenüber der eigenen Nation dar. (18) Bohrer geriet damit selbst für die FAZ in den Verdacht falscher nationaler Sinnstiftung, weil er den neuen Gründungsmythos der Bundesrepublik - den Holocaust - in Frage stellte. Gleichartig trat kurz darauf auch der Philosoph Rudolf Burger gegen eine "dauerhafte Memorierung von Großverbrechen", für ein Ende der Holocaust-Akzentuierung ein. (19)

Wie fließend auf diesem Felde die Grenzen sind, offenbarte die Rede Martin Walsers zur Eröffnung des Gesprächs mit Bundeskanzler Gerhard Schröder am 8. Mai 2002, in der er aus einem "Geschichtsgefühl " heraus für ein unabdingbares nationales Selbstbewußtsein in der BRD plädierte - die Proteste in der Öffentlichkeit und von Historikern folgten prompt. (20)

Den zweiten Hauptstrang bildet die historische Aburteilung der DDR als Staat und Gesellschaft. Diese ist verwoben mit den Anstrengungen, dem arrondierten Staatsgebilde BRD eine historisch fundierte Gesamtidentität seiner Bürger zu beschaffen, indem - in diesem Zusammenhang - die DDR aus dem Lauf der deutschen Geschichte als ein mißlicher Abweg disqualifiziert und letztlich möglichst ausgeblendet wird.

Der DDR-Strang des Geschichtsdiskurses tritt in der nationalen allgemeinen Öffentlichkeit nicht thematisch zentriert auf, sondern vollzieht sich in der Breite und überwiegend über die Medien, häufig spontan aus geringfügigem Anlaß, oft durch frontale primitive und grobe Verunglimpfung. Auf wissenschaftlicher Ebene wird er hingegen in der Sache inzwischen relativ gesittet geführt. Natürlich bestehen unterschiedliche methodische Sichtweisen - es sei auf das kürzlich erschienene Buch von Beate Ihme-Tuchel über die DDR (21), praktisch ein Forschungs- und Problembericht, verwiesen. Gewiß finden sich immer wieder ideologische (Dauer-)Eiferer. Mit der alles in allem Versachlichung geht einher, daß die Geschichtswissenschaft den Weg von der Dominanz der vordergründigen Faktenpräsentation zur analytischen Vertiefung eingeschlagen hat. Seit 1990 wurden über 1000 Forschungsvorhaben abgeschlossen; noch immer arbeiten nach letzten Angaben (2000) zirka 500 Wissenschaftler an Projekten zur DDR-Geschichte. (22) Doch die Zahl der Lehrveranstaltungen zur DDR ist an den Universitäten seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich zurückgegangen: 62 Prozent hatten 2001 keine einzige explizit ostdeutschlandbezogene Lehrveranstaltung mehr im Programm. (23) Das Interesse der Öffentlichkeit an der Geschichte der DDR flaut gleichfalls ab. (24) Auf diese Tendenzen muß man sich einstellen, auch um zu ermessen, wie der Geschichtsdiskurs innerhalb der PDS einzuordnen und zu bedenken ist.

Die Geschichtsdebatte der Linken

Die sozialistische Linke in der BRD führt an sich eine rege Geschichtsdebatte am Rand der Öffentlichkeit, in die allgemeine Öffentlichkeit dringt sie nur in speziellen Fällen vor. (25) Es sei hier im allgemeinen nur darauf hingewiesen, daß die aus ihren Kreisen teilweise beachtlichen wissenschaftlichen Produkte in der Fachwelt zwar punktuell wahrgenommen, zuweilen, eher selten, auch anerkannt werden, ihnen aber Grenzen schon durch ungenügenden Zugang zu den Medien gezogen sind, das heißt, daß sie durch die praktischen Verhältnisse wie die subjektiven Aktionen der Öffentlichkeitsmagnaten weitgehend ausgegrenzt werden. Nicht zu vergessen ist jedoch, daß selbsterzeugte innere Probleme sich ebenfalls auf dieses Defizit auswirken: das theoretische und methodische Niveau und - im Zusammenspiel damit - nicht selten vordergründige, aufdringliche ideologische Orientierungen und Überladungen.

Die randständige Schwäche und die Defekte des linken Diskurses offenbaren sich sehr deutlich am Exempel PDS. Als markantes Merkmal tritt zutage, daß sie an dem erstgenannten nationalen Selbstfindungs-Diskurs kaum beteiligt ist, Geschichtsdebatten mehr oder weniger in den eigenen Reihen austrägt und sich hier zudem sehr schwer tut. (26) Dies schwächt die ohnehin bescheidenen Möglichkeiten eines produktiven Beitrags noch mehr. Umso lautstärker bewegt man sich in der PDS um die Geschichte der DDR und der SED, man erschöpft sich in einer unendlichen Beschäftigung mit sich selbst, vor allem mit seiner Herkunft. Diese zunächst wegen der für viele unbegreifbaren katastrophalen Niederlage 1989/90 verständliche und notwendige, auf die Dauer jedoch hemmende Selbstbezogenheit und der Druck ideologischer und theoretischer traditioneller Positionen bilden das schwierigste Problem im Umgang mit der Geschichte für die Partei und innerhalb dieser. Sie belasten sie nicht nur politisch und ideologisch, sondern behindern gleichermaßen die Neusichtung der eigenen historischen Bestände aus der revolutionär gewandelten Realität der Gegenwart heraus und - schlimmer noch - die Suche nach einer Erneuerung auch des Geschichtsbewußtseins. Die Überwindung solcher Defizite ist jedoch Bedingung, um die Chancen des Mitredens und der positiven Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auszuweiten.

Dabei ist die PDS geschichtsverbunden und geschichtsbewußt wie keine andere Partei. Die politische Meinungsbildung, die parteiinterne Formierung ihrer Politik erfolgt im Vorfeld und als Begleitung oft über die Diskussion zur eigenen Herkunft, zur DDR und zur Geschichte des Staatssozialismus in Europa. Praktisch spielt die Geschichte oft den Stellvertreter, über den politische Orientierungskämpfe ausgetragen, ideologische Differenzen bemäntelt und Unzufriedenheit mit der Gegenwart artikuliert werden.

Die Ursachen für den hohen Rang der Geschichte in der PDS liegen auf der Hand: Die Mehrzahl der Mitglieder entstammt einer Partei, die der Geschichte einen übermächtigen Platz in der Begründung der Politik zuwies. Der exzellente Geschichtsdenker Reinhard Koselleck meinte ein Jahr vor dem Umbruch optimistisch, "die historischen Erkenntnisgewinne stammen - langfristig - von den Besiegten... Denn: Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlaß überdauern, gerade wenn der Besiegte genötigt ist, wegen seiner eigenen auch die übergreifende Geschichte umzuschreiben." (27) Im politischen Leben hat sich allerdings immerfort gezeigt, daß dazu der Besiegte sich selbst noch einmal bezwingen und den Panzer der Selbstgerechtigkeit abwerfen muß. Vor der PDS standen für einen solchen Erkenntnisprozeß jedoch von vornherein drei gravierende ideologische und politisch-praktische Hürden:
- Zum einen die jahrzehntelange intensive Prägung des größten Teils der Mitgliedschaft durch die leninistische und stalinistische Version des Marxschen Werkes, ohne daß in der Breite das tatsächliche Marxsche Denken tief verwurzelt worden wäre. (28)
- Zum anderen war die Geschichtswissenschaft einem Wissenschaftsverständnis unterworfen, das seine Erfüllung darin sah, mit der Geschichte eine Magd der Politik zu Diensten zu halten.
- Schließlich begünstigten die Verwerfungen im deutschen Vereinigungsprozeß mentale Blockaden, einen selektiven Erinnerungsoptimismus, der über die triste Gegenwart hinweghilft und bis in die Wählerschaft hinein Sentimentalität, wenn nicht nostalgische Stimmungen erzeugt. Eine Allensbach-Umfrage Ende 1997 ergab, daß zwei Drittel der Ostdeutschen meinten: "Eigentlich war es eine schöne Zeit in der DDR". (29) Dies schlägt natürlich auf die Parteimitgliedschaft und auf das politische Agieren der PDS durch - sprich: Es bestärkt in der Abwehrhaltung gegenüber neuen Bedingungen und drängt zu moderater Dosierung der Selbstkritik.

So stehen wir faktisch, in sich differenziert und sich überlappend, vor zwei Grundprozessen im Geschichts- und Wissenschaftsverständnis innerhalb der PDS.

Auf der einen Seite trat die PDS als Partei ihren Weg mit eindeutiger Absage an Stalinismus und fundamentaler Kritik am DDR-Sozialismus an. Parteitage und Vorstandsgremien bekennen sich geschichtspolitisch eindeutig in diesem Sinne. Die Führung drängt wieder und wieder auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sozialismusmodell in der Komplexität von Staat und Gesellschaft in einem integrativen und komplexen Horizont; sie betrachtet die DDR nicht als politisches Leitbild.

Sie vertritt ein dem der SED entgegengesetztes Wissenschaftsverständnis, das die Autonomie auch einer so politischen Wissenschaft wie der Geschichte gewährleistet und kein parteiamtlich verbindliches Geschichtsbild verhängt. Nur dies ermöglichte eine so breite und intensive Geschichtsdiskussion in ihren eigenen Reihen. Die Historiker in den Reihen der PDS und in ihrem Umfeld haben unter oft schwierigen sozialen Bedingungen außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft eine Fülle von Forschungen und neuen Ansätzen insbesondere zur Zeitgeschichte, zur DDR-Geschichte, zum Weg des Sozialismus und zum Stalinismus vorgelegt, die Respekt erheischen. Viele werden in der Öffentlichkeit "weggeschwiegen", doch so mancher Autor hat sich dennoch seinen Platz in der Wissenschaft erkämpft.

Auf der anderen Seite: Viele Mitglieder denken ernsthaft, selbstkritisch und kreativ über die Vergangenheit und ihre eigene Rolle darin nach und sind offen für neue Überlegungen. Doch das Erbe der SED wirkt in gehärteten Resttraditionen weiter: in Verständnis, Bild und Bewußtsein von Geschichte, in einer stalinistisch simplifizierten Auffassung des Historischen Materialismus und im Stil des praktischen Umgangs mit der Geschichte, im Modus der Diskussion, in der Sprach- und Streitkultur. Das deterministische Geschichtsmodell, zeitbedingte Urteile über historische Fakten und Prozesse aus der DDR-Geschichtswissenschaft, die sich inzwischen in Legenden verwandelt haben, halten sich hartnäckig. Man fragt sich zuweilen, ob immer noch gilt, was die Historische Kommission 1993 meinte: "Stark treten noch Wahrnehmungs- und Wertungsmuster des Parteilehrjahres hervor." (30)

Öffentliche PDS-Diskussionen sind nicht selten von Nachwirkungen genannter Art geformt, auch Riten des politischen Meinungsstreits unsäglicher Erinnerung leben auf. Darin treten zwei sich anscheinend ausschließende, praktisch jedoch durchaus ergänzende Forderungen auf: Zum einen sollen sich die Aussagen über historische Ereignisse am politischen "Nutzen für die Politik der Partei" ausrichten und im gleichen Atemzuge der "Wahrheit" gerecht werden. Ersteres soll praktisch heißen, daß nützlich ist, was früheres eigenes Handeln rechtfertigt und schönt, um sich politisch selbst zu legitimieren - wie gehabt. Da gilt manchen als die ganze Wahrheit, was er als die kleine eigene erlebt haben will. Wie schwierig die Wahrheit in der Geschichte aufzuspüren ist, sollte man inzwischen als vertraut erwarten, und auch, daß die Wahrheit von der Frage abhängt, auf die man eine Antwort erhofft - oder ob man gar keine Frage stellen will, sondern nur Belege für die eigene Meinung und Absicht sucht. Wissenschaftlich gesehen jedenfalls nähert man sich mit dem Gebot "Nützlichkeit" gefährlich der Fälschung der Geschichte. Musterexempel solcher "Einheit von Nützlichkeit und Wahrheit" konnte man bei der Debatte um den 13. August 1961 im zurückliegenden Jahr erleben. Ich wähle ein Beispiel institutionell außerhalb der PDS, personell jedoch nicht unbedingt: In der Erklärung des Berliner alternativen Geschichtsforums "Wahrheit und Geschichte" vom 7. August 2001 steht: Am 13. August 1961 "übte (die DDR) lediglich das jedem souveränen Staat nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen zustehende Selbstverteidigungsrecht aus." (31) Tatsächlich lautet die entsprechende Passage des Artikels 51: "Keine Bestimmung der vorliegenden Charta soll das unveräußerliche Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung beinträchtigen, wenn ein bewaffneter Angriff auf ein Mitglied der Vereinten Nationen erfolgt, bis der Sicherheitsrat die zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat ... die ... erforderlichen Maßnahmen ... sollen dem Sicherheitsrat sofort gemeldet werden." (32)

Hat tatsächlich keiner der Autoren diesen Text gelesen - oder pflegt man eine eigene Definition des "bewaffneten Angriffs"? Am "Vetorecht der Quellen" (Reinhard Koselleck) kommt freilich letzten Endes niemand vorbei, wenn er nicht zu guter Letzt disqualifiziert werden will. Anstelle, daß Geschichte wirklich legitimiert, delegitimiert sie in diesem Fall am Ende eher, auch sich selbst. (33)

Es hält sich die manichäische Figur des "objektiven Gegners" (34): Der muß eigentlich gar nicht tun, was man ihm vorwirft - man glaubt ihm von vornherein nicht, mit jedem Wort lügt und verfälscht er. In solchen Debatten scheint es manchmal mehr um die Abwehr eines wolkigen "Klassengegners" an sich als um eigene Einsichten, Erkenntnisse oder Schlußfolgerungen zu gehen - ein in Freund-Feind-Schemata erstarrtes Denken. Die Programmdiskussion offenbart, daß sich einige, auch Historiker, an die Anwendung des Marxismus(-Leninismus) als Maßstab und alleinige Methode klammern, andere also strikt verwerfen, und eine erneute weltanschauliche Fixierung einklagen. Ist tatsächlich das Marxsche Denken als Forschungsmethode gemeint, worum es in einer unserer Zeit gemäßen Praxis nur gehen kann, nicht um das Wiederholen von aktuell bezogenen Urteilen aus dem 19. Jahrhundert? Sollen die Überlegungen Friedrich Engels in seinen Altersbriefen weiterhin ein Schattendasein führen? Weisen nicht gerade diese darauf hin, beispielsweise die Resultate der Sozialpsychologie und die Einsichten eines Sigmund Freud in den Werkzeugkasten aufzunehmen? Werden einerseits Subjektivität und Bewußtheit gesellschaftlichen Handelns herabgestuft, tauchen statt beteuerter historisch-materialistischer subjektivistische, voluntaristische Sichtweisen auf: Verschwörungstheorien, die den Untergang der DDR auf Verrat, ein Komplott Gorbatschows mit Bush und Kohl und ähnliches mehr zurückführen. Es finden sich Theoretiker, die sich ziemlich atheoretisch schlicht weigern, in der DDR strukturelle, systembedingte Defizite als Wurzeln des Scheiterns auch nur zu nennen, geschweige denn darüber zu reden - aus welchen Gründen auch immer: Ob sie es nun für politisch nicht "opportun" halten (was nicht Sache des Wissenschaftlers wäre) oder sich politisch ein verblichenes Gesellschaftsmuster als Option reservieren wollen. Soziale Errungenschaften und Leistungen der DDR werden als vorbildlich in den Raum gestellt, ohne ihre Voraussetzung zu erwähnen: die ökonomische Leistungsfähigkeit des Landes zu überfordern und zum Ruin beizutragen. Ein Streit um den Charakter des politischen Systems der DDR und den historischen Platz des "Realsozialismus" ist stets latent, außerhalb der Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit. Daß dabei ein orientierendes analytisches Beschreibungsmodell wie die Totalitarismustheorie - selbst in ihren modernisierten Gestalten - ein zentraler Punkt heftiger Attacken mit geradezu hysterischen Zügen ist, ohne die Bereitschaft, hinreichende Sachkenntnis zu erwerben, ohne sachliche theoretische Prüfung verworfen wird, bietet sich an. Ob man die Erklärungen der PDS-Führung zur SED-Gründung, zum 13. August 1961 oder ein politisches Dokument mit historischer Präambel oder ähnliche nimmt: Die mehrheitliche Reaktion in der Partei ist ablehnend, empört, trotzig und unreflektiv, wenn man die eigene Denkweise aus vergangener Zeit nicht noch einmal bestätigt findet.

Hinzu tritt das weit verbreitete Selbstverständnis, als "Zeitzeuge" aus erster Hand umfassend kundig zu sein. Der Historiker weiß die punktuell aufschlußreiche oder gar einzigartige Aussagekraft und die mögliche Plastizität in der Darstellung von Milieus, Personen und Details durch solche Quellen zu schätzen. Allerdings unterwirft er auch sie den Regeln der Quellenkritik, und ihn können zwanghaft Skrupel und Zweifel zu plagen beginnen gegenüber Zeitzeugen, die Inhaber von Macht waren und nun historische Urteile mit unbedingtem Wahrheitsanspruch über die von ihnen selbst beeinflußte, bewirkte oder gar initiierte Geschichte fällen, also praktisch über sich selbst. Kritische Distanz zu sich selbst zu gewinnen ist zweifellos ein hartes Brot, selbst für Historiker. Die wissen auch von der Fragwürdigkeit und Begrenztheit der "Erinnerung": Selbst bei beanspruchtem "guten Willen" des Erinnernden - was ja auch nichts anderes als eine Form eigenen Freispruchs wäre - trügt sie, weil sie stets aus der Gegenwart heraus aktiviert, situativ beeinflußt und immer wieder neu erzeugt wird. (35) Doch die methodisch größten Mühen bereitet offensichtlich einzusehen, daß der Erlebnishorizont des einzelnen und der Erklärungshorizont des Historikers auseinander fallen. Wenn dann noch Darstellungen und Interpretationen der Historiker verdächtigt und als "Geschwätz" abgetan werden, sind warnende Grenzschilder eines internen Diskurses erreicht. (36) Denken wir besser an Pierre Noras Bemerkung: "Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung... Die Geschichte ist die Entlegitimierung der gelebten Vergangenheit." ( 37)

Alles in allem stellte sich sehr rasch heraus: Die PDS lebt eine zerrissene Kultur des Umgangs mit der Geschichte in ihren eigenen Reihen, wodurch nicht nur die Aufklärung des eigenen politischen Scheiterns Schaden nimmt, sondern auch die Zukunftsorientierung erschwert und die eigene politische Kultur insgesamt beeinträchtigt wird. Der wissenschaftliche Pluralismus steht außer Frage - in Frage steht das rationale, fachliche und logische Niveau des allgemeinen Diskurses zur Geschichte innerhalb der PDS.

Mit der Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms kann der unverkennbare Widerspruch des 1993-ers zwischen Absage an ein verbindliches Geschichtsbild und einem praktisch ausgemalten überwunden werden. Ich halte die Empfehlung der Historischen Kommission für wohlüberlegt, die Aussagen zur Geschichte in einem neuen Programm auf ein "Grundverständnis von Geschichte überhaupt", auf "ein maßsetzendes Verständnis von Geschichte" zu beschränken und die PDS als Partei von der "Warte" her zu bestimmen, "Teil einer der großen, weit in die Geschichte zurückreichenden Ströme" des antikapitalistischen Kampfes zu sein. (38) Auf diese Weise könnte das Programm ein Exempel historischen Verständnisses und Denkens liefern, um dem Dringlichsten beizukommen - dem unbefriedigenden Zustand des Geschichtsbewußtseins: Ein Diskurs über Theorien und Realitäten der Zeitgeschichte mit offenem Ausgang und ein wissenschaftlich begründeter politischer Gebrauch können von daher perspektivisch erleichtert werden. Die Selbsterziehung zu einem Geschichtsdenken in Alternativen auch außerhalb der Fachzirkel schärft den Blick für die Varianz und Multivalenz politischer Entscheidungen. Man würde sich wohl auch den Umgang mit der eigenen Vergangenheit erleichtern und sich - vielleicht ein wenig - von den Schlachten um die Einschätzung geschichtlicher Ereignisse unter aktuellen politischen und subjektiven Auspizien, wenn nicht gar um der Selbstrechtfertigung willen, befreien. Dieser ungleich gewichtete Konflikt zwischen selbstgewissem Anspruch im Urteil einerseits und der Bereitschaft zur kritischen Analyse und zur Revision irriger Maximen und Sichtweisen andrerseits wird in der Programmdebatte nicht zuletzt im Grad der Offenheit für neue Überlegungen und im Rückblick auf das eigene politische Wirken zuweilen sichtbar - manchmal geradezu fatal.

Für eine wichtige Bedingung halte ich den bewußten, als unabdingbar artikulierten "Bruch mit der SED" gerade auf dem Felde der Geschichte. Er komplementiert zwingend den vollzogenen politischen Schnitt zum Partei-, Politik- und Gesellschaftsmodell der SED. Natürlich bedeutet dies nicht, sich von den proklamierten abstrakten allgemeinen emanzipatorischen Intentionen der SED abzuwenden, auch wenn sie diese politisch mißachtete. Dieser Bruch ist anscheinend strittig. In einer ND-Geschichtsdiskussion des vergangenen Jahres erklärte Heinz Niemann, man dürfe überhaupt nicht von einem "notwendigen Bruch" mit dem SED-Erbe reden, weil man dann die DDR mit dem Faschismus gleichsetze, mit dem tatsächlich gebrochen worden sei. (39) Das scheint mir nicht nur unlogisch argumentiert, sondern erweckt den Eindruck, der Bruch mit der SED sei in der Sache nicht geboten. Daran hängt natürlich auch die Frage, wie können vor dem Hintergrund dieser Hinterlassenschaft der SED, ihres "Erbes", eigene Traditionen entwickelt werden. Solche zu etablieren und zu pflegen ist für die PDS unentbehrlich, gerade weil die "konservative", die "konservierende" Rolle von Traditionen aus dem SED-Erbe immer noch zu spüren ist. Es sollten also neue sein, Werte, Normen, "Ideale", "Leitbilder" sowie eine innerparteiliche gelebte Kultur, die dem Charakter der PDS als moderner linkssozialistischer Partei (40) sowie ihren politischen Zielen entsprechen (41).

Zum Schluß

Abschließend: Ich möchte davor warnen, der Geschichte ein zu großes Gewicht für die Politik zuzuweisen. Wenn Goethe meinte: "Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt", so möchte man heutzutage gerade davon eher abraten. Der Rohstoff Geschichte wird von jedem und für alle Zwecke genutzt, auch für verbrecherische politische Akte. Und selbst der Beitrag, den Geschichtskultur vor allem im Dienste der Politik leisten soll, Identität zu gründen und zu festigen, kann sich in ethnischen Konflikten, Fremdenhaß und Rechtsextremismus entladen. So bleibt nichts anderes, als am Verlauf der realen Geschichte vornehmlich praktisch-politisch zu arbeiten, den Umgang mit ihr selbst zu kultivieren und sich darauf einzustellen, daß am Ende immer die Gegenwart über die Geschichte siegen und die kämpfenden Parteien ihre Sicht auf sie neu schreiben werden - nicht vorrangig um der "Wahrheit" willen, sondern um - unbelehrt - erneut damit Politik zu machen, so wenig früheren Nutzen es auch brachte. Aus sich selbst heraus legitimiert die Geschichte schließlich gar nichts. So, wie wir sie kennen und mit unseren Fragen zu erkennen versuchen, ist sie stets eine Rekonstruktion der objektiven, amorph hinter uns liegenden Vergangenheit durch Menschen. Das von Menschen selbst geformten Bild der Geschichte ist doch nicht die Antwort der Geschichte, sondern die eigene Interpretation der Geschichte, auf dem Felde der Politik folglich eine ideologische Selbstbestätigung. Dies kann dazu dienen, moralische und politische Ansprüche als subjektive, von Interessen geleitete Konsequenzen zu formulieren. Bei den "Lehren aus der Geschichte" geht es immer um politische und moralische Urteile über sie, mit denen man Rechte zu begründen sucht. Zudem findet jeder geschichtliche Vorgang unter spezifischen, singulären Bedingungen und in eigenen Zusammenhängen, mit anderen Akteuren und Kräften statt, die sich nicht wiederholen oder revitalisieren lassen; was sich dereinst als falsch erwies, kann heute richtig sein - und umgekehrt. Auch daraus folgt, daß ich mit einem historischen Faktum heutiges Handeln nicht sinnreich begründen kann. Die Beschäftigung mit der Geschichte ist daher immer nur sehr begrenzt die Ciceronische "Lehrmeisterin des Lebens" gewesen. "Weise für immer" im Sinne Jacob Burckhardts kann man aus der Beschäftigung mit Geschichte allerdings sehr wohl werden, wenn man sie als Aufforderung zur komplexen Analyse und zum alternativen Denken betrachtet, in ihr Strukturen politischer Prozesse und Handlungen erkennt, allgemeine Lebenserkenntnisse wiederfindet und nicht zuletzt sie als hohen kulturellen Wert pflegt.

Ich plädiere daher für einen behutsamen Umgang linker Politiker mit der Geschichte - von anderen dies zu erwarten, mag man sich gar nicht erst anmaßen. Für den Gebrauch der Geschichte gilt nach meiner Ansicht immer noch, was Habermas allgemein über den Nutzen der Theorie für die Politik anmerkte: "Entscheidungen für den politischen Kampf können nicht vorweg theoretisch gerechtfertigt und dann organisatorisch durchgesetzt werden. Einzig mögliche Rechtfertigung auf dieser Ebene ist der in praktischen Diskursen zu erzielende Konsensus unter den Beteiligten, die im Bewußtsein der gemeinsamen Interessen und in Kenntnis der Umstände, der prognostizierbaren Folgen und Nebenfolgen nur selber wissen können, welche Risiken sie mit welchen Erwartungen eingehen wollen... Keine Theorie und keine Aufklärung entlastet uns von den Risiken der Parteinahme und ihrer nicht intendierten Folgen." (42)

Ernst Wurl - Jg. 1933; Dr. sc. phil., Historiker und Politikwissenschaftler. Der hier veröffentlichte Text ist die überarbeitete Fassung eines Referats des Autors vor der Historischen Kommission beim PDS-Parteivorstand am 27. April 2002 in Berlin.

1 Vgl. insgesamt zu diesem Komplex Michael Klundt: Geschichtspolitik. Die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das ›Schwarzbuch des Kommunismus‹, Köln 2000.

2 Frank Schirrmeister (Hrsg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999.

3 Norman G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird. Aus d. Amerik. v. Helmut Reuter, München, Zürich 2001. Zur Debatte über dieses Buch siehe Ernst Piper (Hrsg.): Gibt es wirklich eine Holocaust- Industrie?, Zürich 2001.

4 Siehe Hans Günther Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament, Bonn 51 (2001) 28, S.19 f.

5 Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 11.

6 Vgl. dazu: Edgar Wolfrums: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung, Darmstadt 1999; Geschichte als Waffe: Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001.

7 Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 8.

8 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann/ Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 11. Seine Definition lautet: "Geschichtskultur ist die ... durch das Geschichtsbewußtsein geleistete historisc^he Erinnerung, die eine zeitliche Orientierung der Lebenspraxis in der Form von Richtungsbestimmungen des Handelns und des Selbstverhältnisses seiner Subjekte erfüllt." (S. 20).

9 Vgl. zu dieser "Spaltung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft": Johannes Heil/Rainer Erb (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel Goldhagen, Frankfurt am Main 1998.

10 Vgl. zu diesem Komplex die informativen Ausführungen bei Hans Günther Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament, Bonn 51 (2001) 28, S. 15-30.

11 Freitag, Nr. 11, 8. 3. 02. (http://www.freitag.de/2002/ 11/02111601.php).

12 Michael Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart, München 2002, S. 168.

13 Siehe dazu unlängst Gina Thomas: König David. Die neuen Medienstars in England sind Historiker, in: FAZ, 6. 3. 02, S. 45.

14 Siehe den fast eruptiven Ausbruch auf dem 18. Deutschen Historikertag 1998: Intentionen - Wirklichkeiten. 42. Deutscher Historikertag in Frankfurt am Main, 8. bis 11. September 1998. Berichtsband hrsg. im Auftrag des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. von Marie-Luise Recker, München 1999.

15 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2000, S. 11.

16 Siehe dazu Johannes Klotz/Ulrich Schneider (Hrsg.): Die selbstbewußte Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten, Köln 1997; Gerd Wiegel: Die Zukunft der Vergangenheit. Vom Historikerstreit zur Walser-Bubis-Debatte: Konservativer und neurechter Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie, Köln 2001.

17 Vgl. exemplarisch Süddeutsche Zeitung, 3. 6. 00.

18 Karl Heinz Bohrer: Erinnerungslosigkeit. Ein Defizit der gesellschaftskritischen Intelligenz, in: Frankfurter Rundschau, 16. 6. 01; dazu: Jan Assmann, ebenda, 22. 6. 01; Hans Ulrich Gumbrecht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 5. 9. 01 und Gustav Seibt in: Die Zeit, 7. 7. 01.

19 Siehe Rudolf Burger: Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Wider die Rede von der "Verdrängung der Nazizeit " - Ein Plädoyer für das Vergessen, in: DER STANDARD, Wien vom 9./10. Juni 2001. Vergleiche dazu den Bericht Arnulf Barings: Plädoyer für das Nicht-Erinnern. Der Umgang mit der Vergangenheit / Aus politischen Zeitschriften, in: FAZ, 4. 10. 01, S. 14.

20 Siehe den Wortlaut in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 107 v. 10. 5. 2002, S. 46; dazu Hans Mommsen in: Die Zeit, Nr. 21, 17. 5. 2002 und Heinrich August Winkler in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 12. 5. 2002.

21 Beate Ihme-Tuchel: DDR, Darmstadt 2002 (Kontroversen um die Geschichte).

22 Siehe Hermann Weber: Die DDR 1945-1990, 3. Auflage, München 2000, S. 211.

23 Siehe Peer Pasternack: Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000). Unter Mitarbeit von Anne Glück und anderen vom Institut für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wittenberg 2001 (HoF-Arbeitsberichte 5'01).

24 Siehe exemplarisch die Pressemitteilung des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München vom 6. August 2001: Nur wenige Deutsche für weiteres Erinnern an Mauerbau. Im Geschichtsbewußtsein spielt auch der Mauerfall eine untergeordnete Rolle, in: http://www.cap.-uni-muenchen.de.

25 Eine genaue Analyse ihres Wirkens und ihrer Leistungen insgesamt muß ich einer gesonderten Behandlung vorbehalten. Auch bedeutet die Konzentration auf die PDS keineswegs, daß sie als Gesamtrepräsentant der Linken angesehen wird. Sie wird exemplarisch herangezogen, zumal dies die Historische Kommission im Zuge der Programmdebatte besonders interessiert.

26 Der Versuch, auf modernem Niveau das Problem Nationalstaat zu diskutieren, wie es Erhard Crome unter der Fragestellung Europäische Union - Globalisierung - Nationalstaat versuchte, löste im Freitag Februar/März 2002 in dieser Hinsicht eine aufschlußreiche Debatte aus. - Siehe Erhard Crome: Die Linke und ihr Verhältnis zu Nation und Nationalstaat. Die Nation zwischen Europäischer Union und Regionen, Berlin: Rosa-Luxemburg- Stiftung, Dezember 2001 (Manuskripte 28).

27 Reinhard Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Christian Meier/ Jörn Rüsen: Historische Methode, München 1988, S. 52 f.

28 So wird tatsächlich behauptet, man habe den wahren Marxismus gelehrt bekommen, einen Fahrplan der Geschichte habe man darin nicht gefunden. Siehe Leserbrief aus Dresden in: Neues Deutschland, 18. 10. 2001, S. 15.

29 Elisabeth Noelle- Neumann: Eigentlich war es eine schöne Zeit. Überzeugungen, Werte und Ziele der DDR-Zeit sind gespenstisch konserviert, in: FAZ, 10. 12. 1997. Zurück in die DDR strebten allerdings nur sechs Prozent.

30 Den Sozialismus am humanistischen Ansatz messen. Erklärung der Historischen Kommission beim Bundesvorstand anläßlich des 3. Parteitags zur Geschichtsdiskussion in der PDS, in: Neues Deutschland, 18. 1. 1993, S. 7.

31 junge Welt vom 8. und 9. August 2001.

32 Helmut Stoecker (Hrsg.) unter Mitarbeit von Adolf Rüger: Handbuch der Verträge 1871-1964, Berlin 1968, S. 367.

33 Siehe Wolfgang Reinhard: Geschichte als Delegitimation. Dankrede bei Entgegennahme des Preises des Historischen Kollegs am 23. November 2001 in München, in: FAZ, 26. 11. 01, S. 45.

34 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, München, Zürich 1991, S. 654; Dies.: Über die Revolution, München, Zürich 1994, S. 127.

35 Vgl. dazu den Vortrag Wolf Singers auf dem 43. Deutschen Historikertag in Aachen (September 2000): Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, in: FAZ, 28. 09. 2000, S. 10. Exemplarisch ferner: John Kotre: Der Strom der Erinnerung. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichte schreibt, München 1995.

36 Siehe Werner Hübner: "Zwang, Täuschung, pipapo. " In der Debatte über die SED-Gründung offenbaren sich erhebliche Differenzen, in: Neues Deutschland, 28./29. 4. 01, S. 5.

37 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1990, S.13 f.

38 Zum Wechselverhältnis von Programmatik und Geschichte. Wortmeldung von Vertretern der Historischen Kommission der PDS (vom 14. 3. 2000), in: www. pds-online.de/programmdiskussion/ dokumente/ 0003/historiker.htm Datum: 24. März 2000; ähnlich Jürgen Hofmann: Geschichte ins Programm? in: Neues Deutschland, 30. 9. 2000.

39 Siehe Heinz Niemann: Geschichte und Programmatik, in: Neues Deutschland, 12. 10. 01, S. 16.

40 Vgl. dazu Beiträge auf dem Kolloquium der Historischen Kommission am 12. Januar 2002, veröffentlicht in UTOPIE kreativ 141/142 (Juli/August 2002), S. 666 ff.

41 Die PDS wird gleichfalls auf neue Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft achten müssen, die sich aus den Weltveränderungen ergeben. Zunehmend wird vom Überschreiten der nationalstaatlichen Grenzen hin zu einer europäischen und ebenso einer globalen Perspektive auf die Geschichte gesprochen. Nicht um die traditionelle universalgeschichtliche Sichtweise soll es dabei gehen, sondern um den Aspekt der Vernetzung der historischen Prozesse auf dem Erdball als methodisches Axiom. Exemplarische Hinweise: Johannes Fried: Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: Historische Zeitschrift München 273 (2001) 3, S. 561-593; Michael Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern; die Zeitschriftenübersicht in: Die Welt, 17. 11. 2001; Jan Ross: Die Vergrößerung der Vergangenheit. Ob es um das Verhältnis zu Israel geht oder um Flucht und Vertreibung nach 1945: Die Geschichtspolitik europäisiert sich, in: Die Zeit, Nr. 18, 25. April 2002.

42 Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt am Main 1982, S. 37-39.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 145 (November 2002), S. 994-1005