"Prestige": Das schwarze Blut neoliberaler Kultur

Hätte man die "Prestige" in einen Hafen schleppen müssen, oder war es richtig, sie vor der Küste untergehen zu lassen? Armando F. Steinko zeigt, dass es für die Hafenwirtschaft befürchtete Kosten

... waren, aufgrund derer einer Umweltkatastrophe der Vorzug gegeben wurde.
Die Natur hat es mit Spanien gut gemeint. Unzählige Gebirgsketten durchkreuzen das Land und bilden Schluchten, Klimazonen und Landstriche, in denen sich die meisten Tiere und Pflanzen Europas konzentrieren. Hinzu kommen 4.000 Kilometer Küste, vom Atlantik bis zum Mittelmeer, die das Land in zwei der wichtigsten ökologischen Systeme auf der Erde einteilt und miteinander in Verbindung bringt. Dem spanischen Wachstumsmodell, einer Mischung aus Neoliberalismus und flexiblem Kapitalismus, ist die Begrenztheit seiner enormen Naturressourcen allerdings wesensfremd. Es erregt Aufsehen wegen seiner im europäischen Vergleich angeblich höheren Flexibilität und seines Wachstumsrhythmus, aber es ist extensiv und versteht wenig von Vorsorge, Langfristigkeit, und Nachhaltigkeit.

Am 13. November 2002 havarierte erneut ein Tanker, die "Prestige", mit fast 80.000 Tonnen Schweröl (das Doppelte der ausgelaufenen Ladung der "Exxon Valdez") vor der galizischen "Todesküste", unweit einer einmaligen Fjordenküste (Rías Altas und Rías Baixas), wo der Golfstrom die besten Meeresfrüchte der Welt gedeihen lässt und damit Hunderttausend Menschen alltäglich zu essen gibt. Die Ausmaße der durch die "Prestige" verursachten Ölpest sind außerordentlich. Mitte Dezember war schon die ganze Nordküste Spaniens betroffen, darunter ein Naturpark und ein Nationalpark an der Atlantikküste. Mindestens 15.000 Vögel und 18 Vogelarten werden umkommen. Der verschmutzte Plankton wird die Meeresfrüchte langsam verseuchen, und auf dem Meeresgrund bilden sich schon jetzt Ölklumpen, die sich mit Sand vermischen und damit unmöglich zu beseitigen sind. Englische Journalisten sprechen von der größten Verseuchung, die Europa je gesehen hat.

Das Relevante an dieser Ölpest sind allerdings nicht nur ihre Ausmaße und der ökologische Wert der betroffenen Küsten, sondern die Handlungsmuster einer ultraliberalen Regierung, die krisenverschärfenden Momente ihrer Denkweise, aber auch die Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit im flexiblen Kapitalismus (schlanker Staat, Externalisierung von technischen Diensten, unzureichende Qualifikation lebenswichtigen Personals und politischer Kader, Kommodifizierung von strategischen Entscheidungsbereichen), die auf solche Situationen nicht eingestellt ist. Politisch relevant sind der Einsatz und die Wirklichkeitsnähe der Zivilgesellschaft, die Einsatzbereitschaft der einfachen Leute und ihre Kreativität bei der Entwicklung von Geräten und Werkzeugen, um das Öl zu entsorgen. Relevant sind auch die enormen Reserven an Solidarität und Uneigennützigkeit, die in der spanischen Gesellschaft schlummern und die den Keim einer möglichen, anderen Gesellschaft enthalten.

Als die Behörden am 13. November vom Unfall hörten, wurden die üblichen Diagnosen gestellt: Die konservativen Regierungen in Galizien und Madrid spielten die Situation herunter, wertvolle Stunden und Tage gingen durch Verharmlosung verloren. Eine verengte, technokratische Denkweise verleitete die Zentralregierung dazu, das Schiff nicht in stille Gewässer zu bringen und mit Schutzbojen zu umgeben, um das konzentrierte Öl dann abzupumpen. Alle Erfahrung und alle wissenschaftlichen Erkentnisse sprachen für diese Lösung. Getan wurde das Gegenteil: Ein Stab von fünf regierungsnahen "Experten" machte den Vorschlag, das Schiff so weit und so schnell wie möglich von der Küste zu entfernen. Es sei "politisch" nicht zu verantworten, das Schiff in ruhigeres Wasser zu leiten. "Wer will schon, dass ein Wrack mit 80.000 Tonnen Rohöl in seinem Hafen ankert?", war die rhetorische Frage des Präsidenten José María Aznar. Als sich die Katastrophe aber Mitte Dezember ausweitete, kam ein anderes, entscheidendes Argument vom Minister für Transport und Infrastruktur, Álvarez Cascos: "Es wäre wirtschaftlich nicht zu verantworten gewesen, den Tanker nach Coruña zu schleppen, weil er den Zugang zu den Häfen versperrt hätte." Der havarierte Tanker wurde also von der Küste in Richtung Nordwesten weggeschleppt, um betriebswirtschaftliche Hafenkosten zu minimieren.

Der spanische Nordwesten ist eine der gefährlichsten Küsten Europas, eine regelrechte Tankerautobahn, wo alljährlich 700 Alarmfälle gemeldet werden, und fast jedes Jahr große Mengen Rohöl das Wasser vergiften (in zehn Jahren sind das 450.000 Tonnen Öl). Trotzdem gibt es immer noch keine einsatzbereite Anlagen oder Häfen für solche Fälle. Die Entscheidung, das Schiff von der Küste zu entfernen, war ein ökologischer Selbstmord, weltanschaulich kleinkariert und technisch dilettantisch. In den regierungsnahen Medien sprach man von einem "gelösten Problem", als das Schiff von der Küste aus nicht mehr zu sehen war. Der Vizepräsident meinte noch am 23. November, man könne kaum von einer Ölpest reden, und am 30. November durfte der Begriff "Ölpest" ("marea negra") in den öffentlichen Massenmedien nicht einmal mehr erscheinen.

Was passierte nun mit dem Wrack? Am 14. November wurde die schwimmende Zeitbombe mit noch 50.000 Tonnen schwefelhaltigen Schweröl in Richtung Nordwesten abgeschleppt. Jedes kleine Kind weiß, dass an der spanischen Atlantikküste die Stömungen von Südwesten nach Nordosten verlaufen. Das bedeutet praktisch, dass die Verlagerung des Schiffes in Richtung Nordwesten im Falle, dass Öl austritt, die französische, nicht aber die spanische Küste verseuchen würde. Dieses kleinkarierte, kindische Denkmuster ließ die spanischen Behörden aufatmen. Manuel Fraga, Ex-Innenminister Francos und zur Zeit Präsident von Galizien, machte sich noch ein schönes Jagdwochenende in Zentralspanien, während in Muxia schon die ersten selbstorganisierten Säuberungskolonnen und Fischkutter einen verzweifelten Kampf gegen die Verschmutzung der Küste starteten.

Die öffentliche Rettungsinfrastruktur ist ausgesprochen kläglich. Der einzige einsatzbereite Schleppdampfer, so wie die vom Reeder engagierte Rettungsfirma gehören Privatunternehmern, die an den katastrophalen Folgen privatkapitalistischer Handlungsdiktate mitverdienen wollen. Auch die internationalen technischen Überwachungsdienste sind in privater Hand. Das "American Bureau of Shipping", das die "Prestige" vor einigen Monaten einer technischen Revision unterzogen hatte, stellte nicht viel mehr als ein unverbindliches Zertifikat aus, ohne irgendeine Verantwortung zu übernehmen. Hinzu kommt, dass bei Tankerhavarien praktisch niemand eindeutig für Schäden haftbar zu machen ist: Das gültige Seerecht stammt noch aus dem "liberalen Zeitalter" (E. Hobsbawm), also aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im Falle der "Exxon Valdez" hat es der Druck der öffentlichen Meinung noch geschafft, den Multi Exxon zu zwingen, einen Teil der Schäden zu begleichen. Im Wirrwar von Unternehmen, Gesellschaften und Reedereien von Griechenland bis Holland und Großbritannien, die an der "Prestige" beteiligt sind und sich teilweise in Steueroasen versteckt halten, ist die Haftpflicht viel undurchsichtiger.

Wirtschaftlich und juristisch glasklar ist aber, dass die Rettungsfirmen ein Drittel des Wertes von Fracht und Schiff einkassieren, wenn sie gerettet werden können. Das sind im Falle der "Prestige" nicht weniger als 30 Millionen Euro. Die Entscheidung der spanischen Behörden, das Schiff von der Küste zu entfernen, war nicht im Interesse der holländischen Firma Smit Tak, weil durch das Abschleppen des Tankers in die unruhigen nordatlantischen Gewässer die Möglichkeit, das Schiff, also 30 Millionen Euro, zu retten, in weite Ferne rückte. Das war der Grund für die Kursänderung Richtung Süden am Morgen des 15. November. Die Kleinkariertheit ist in diesem Fall auf egoistische und privatwirtschaftliche Gründe zurückzuführen. Die spanischen Behörden hatten das Schiff zuvor verlassen und sich nicht mehr um seinen Kurs gekümmert. Wozu denn auch? Der Tanker schwamm 120 Seemeilen von den spanischen Küsten entfernt. Am 17. November erklärte ein spanischer Funktionär erleichtert: "Die ›Prestige‹ ist nun ein Problem für Portugal."

Der Gegensatz, den die Zivilgesellschaft zu dieser Kleinstbauernmentalität gezeigt hat, kann größer nicht sein. Wenige Stunden nach der ersten Ölpestwelle waren schon Kutter auf der Suche nach Öl. Die Freiwilligen strömten aus ganz Spanien, aus ganz Europa und inzwischen aus der ganzen Welt herbei - trotz der beruhigenden offiziellen Propaganda, die am 30. November noch behauptete, Freiwillige seien überflüssig (erst 3-4 Wochen nach dem 13. November wurde das Heer mobilisiert). Zehntausende vor allem junge Freiwillige, ganz und gar auf sich selber verwiesen, auf ihre eigene Durchhaltekraft und ihren Optimismus, auf Werte wie Solidarität und globales Denken, ohne jede sanitäre, technische oder logistische Unterstützung, arbeiten jetzt schon wochenlang bis zur Erschöpfung, um die krebserregenden Klumpen in knapp gewordene Container zu entsorgen. Die Empörung der galizischen Fischer ist so groß, dass sie, zusammen mit den städtischen Mittelklassen, mit Studenten und Arbeitern, in einen mächtigen Politisierungsstrudel hineingeraten sind, dessen Ende noch offen ist. Am 1. Dezember demonstrierten 175.000 Menschen in Santiago de Compostela unter dem Slogan "Nie wieder"; zehn Tage später waren es sogar 200.000 in ganz Galizien. Das waren die größten Demonstrationen in ihrer Geschichte. Sie sind nur dadurch zu erklären, dass ökologische und andere Befürchtungen (Arbeitsplätze, die langfristige Entwicklung Galiziens, Liebe zur zerstörten Landschaft, Bewusstsein für Nachhaltigkeit usw.) sich wechselseitig verstärkten. Die Opposition stellte einen Misstrauensantrag im galizischen Parlament. Der spanische Ministerpräsident wagte es erst einen Monat später, Galizien, allerdings nur sehr flüchtig, zu betreten.

Der Legitimationsdruck ist so groß, dass die spanische EU-Kommissarin Loyola de Palacio, bekannt für ihre Unterstützung der Atomenergie, sich in eine Vorreiterin der Nachhaltigkeit verwandelt hat. Die EU sei zu träge bei der Erfüllung der Tankerinspektionen und habe kaum aus dem "Erika"-Unfall vor der französischen Küste 1999 gelernt. Die Zeit sei gekommen, um wirklich konsequente Maßnahmen zu treffen (schrittweise Verschrottung aller einwandigen Tanker, systematische Kontrollen ihres Alters und technischen Zustandes, Entfernung der Seestraßen von den galizischen Küsten usw.). Was aber Loyola de Palacio nicht sagt ist, dass es für jedes Land durchaus möglich ist, einseitige Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, ohne auf "Europa" zu warten. Sie sagt auch nicht, dass die Ausrede für das jahrelange Nichtstun das neoliberale Dogma der "uneingeschränkten Freiheit der Schifffahrt" gewesen ist. Sie kann auch nicht ehrlich mit der Tatsache umgehen, dass 80% der Tankerunfälle auf menschliches Versagen, mangelnde Qualifikation und prekäre Arbeitsverhältnisse zurückzuführen sind. Schließlich ist ihre Überzeugungskraft nicht zuletzt deshalb begrenzt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das spanische Modell auf extrem niedrigen Benzin- und Ölpreisen beruht, die u.a. dadurch möglich sind, dass alle spanischen Großtanker älter als 15 Jahre und einwandig sind, sodass Spanien heute unter Versorgungsengpässen leiden müsste, wenn diese Sicherheitsmaßnahmen wirklich durchgesetzt würden.

Die "Prestige" wurde mit ihrem Aderlass noch einige Tage durch den Atlantik geschleppt und zwar in Richtung Süden. Circa 20.000 Tonnen ihres schwarzen Blutes verpesten immer größere Küstenstreifen, da der Golfstrom das Öl nach Nordosten treibt. Am 19. November zerbrach die "Prestige" in zwei Teile und sank 3.600 Meter tief in den atlantischen Ozean mit ca. 40.000 Tonnen Öl in ihrem Bauch - eine Zeitbombe, die eine der ökologisch wertvollsten Meere und Küsten auf unbestimmte Zeit bedrohen wird. Es kann sein, dass diese Katastrophe der Anfang vom Ende der neokonservativen Ära in Spanien bedeutet, das Ende einer gewissen politischen Kultur, die leider auch noch große Teile der Sozialdemokratie erfasst. Aber wer gibt uns unsere sauberen Küsten zurück? Wann werden wir lernen, dass der Erhalt und der pflegliche Umgang mit unseren natürlichen Lebensbedingungen mit der neoliberalen Kultur auf Dauer unvereinbar sind?


Anmerkungen:
Armando Fernández Steinko lehrt Soziologie mit dem Schwerpunkt "industrielle Beziehungen" an der Universidad Complutense in Madrid.

aus: Sozialismus Heft Nr. 1 (Januar 2003), 30. Jahrgang, Heft Nr. 262