Hat der Linkssozialismus eine Zukunft?

Die Niederlagen der PDS in den letzten Bundes- und Landtagswahlen haben einen seit längerem schwärenden Substanzverlust bei den bundesdeutschen Linkssozialisten aufgedeckt ...

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(vgl. Brie 2002; Neubert 2003). Mehr noch als die Stimmenverluste haben die innerparteilichen Auseinandersetzungen enthüllt, daß seit längerem programmatisch-inhaltliche und organisatorische Reformen und Erneuerungsprozesse aufgeschoben wurden. Ohne Zweifel ist dieser politische Absturz der PDS überwiegend selbstverschuldet; die Partei hat zentrale gesellschaftliche Entwicklungen in der Berliner Republik und dem globalisierten Europa unzureichend wahrgenommen und politisch verarbeitet. Diese strukturellen Defizite reproduzierten sich in einer mangelhaften politischen Konzeption für die Parlamentswahlen. Wie vor allem an dem großen Anteil von Stimmenthaltungen früherer PDS-Wähler ablesbar, konnte die PDS nicht einmal die eigene Mitgliedschaft und das engere Einflußfeld motivieren. Diese Schwäche schlug sich schließlich in einer unzureichenden Auseinandersetzung mit den grünen Hauptthemen - Ökologie, Friedenspolitik - und einer politischen Rochade der SPD, die sich aus der Mitte der Gesellschaft in Richtung der unteren sozialen Schichten, Sozialverbände und Gewerkschaften bewegt hat, nieder.
Man muß diese Wahlniederlage und den sich anschließenden Krisenprozeß der PDS in den westeuropäischen Kontext einordnen. Denn die politische Schwäche betrifft nicht nur die bundesdeutsche PDS, sondern ist auch bei anderen linkssozialistischen oder reformkommunistischen Parteien in Europa ausgeprägt. Mitte der neunziger Jahre waren die Sozialdemokraten in den meisten Ländern die führende Regierungskraft. Linkssozialistische Parteien waren entweder selbst an der Regierung beteiligt oder mehr oder minder in eine Tolerierung von Mitte-Links-Bündnissen einbezogen. Diese "Linksregierungen" sahen sich vor die Herausforderung gestellt, die Wirtschaft zu sanieren, die sozialen Sicherungssysteme zu reformieren und den europäischen Integrationsprozeß voran zu bringen. Diese Phase ist Ende der neunziger Jahre zu Ende gegangen.(1) Wie die führenden italienischen Linkspolitiker Amato und DÂ’Alema in einem offenen Brief an die Europäische Sozialdemokratie betonen, hat ausgehend von Italien, eine "Abfolge von Niederlagen eingesetzt, die die Rechte in der Mehrzahl der europäischen Länder schnell an die Regierung gebracht hat." Zu Recht stellt der italienische Reformkommunist Lucio Magri in einem Resümee der letzten fünf Jahre fest: "Die Niederlage der Mitte-Links-Regierungen war weder durch eine Politik des ›ein bißchen mehr zum Zentrum‹ noch durch ein ›mehr Links‹ zu vermeiden. Gescheitert ist insgesamt eine reformistische Strategie - nicht der Reformismus im allgemeinen und für immer, wie uns die Politik des 20. Jahrhunderts zeigt. Gescheitert ist aber gewiß ein minimalistischer Reformismus von oben, der die vom Kapitalismus vorgegebenen Strukturen, grundlegenden Mechanismen und Machtstrukturen für unveränderbar hält." (Magri 2002, S. 43; vgl. Bischoff 2002 b) Daraus folgt: Das gesamte linke politische Spektrum muß die gesellschaftlich-politischen Gründe für diesen Hegemoniewechsel aufarbeiten. Das ist zunächst eine Herausforderung an die europäische Sozialdemokratie. Aber es betrifft gleichermaßen die Parteien des linken politischen Spektrums. Unter diesem westeuropäischen Blickwinkel ist die existenzbedrohende Krise der bundesdeutschen PDS keine Besonderheit. Ohne die jeweils spezifischen nationalen Wirkungsmomente bestreiten zu wollen, läßt sich festhalten: Auch Rifonda Communista in Italien, die französische kommunistische Partei, die Vereinigte Linke in Spanien sowie die Linkspartei in Schweden sind von diesen Umgruppierungen des gesellschaftlichen und politischen Systems erfaßt.

Niedergang der Linken und Aufstieg des Rechtspopulismus

Dabei haben wir es nur vordergründig mit einer Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses zwischen den bürgerlich-konservativen Parteien und dem linken Spektrum zu tun. Die Unzufriedenheit der Bürger/innen mit der Regierungspraxis der Linksparteien schlägt sich auch in einer weiter sinkenden Wahlbeteiligung und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen nieder, wie Ulrich Beck zu Recht notiert. (2)
Die Erfolgsstory rechtspopulistischer Bewegungen am Beginn des 21. Jahrhunderts - die Widersprüche bei der österreichischen FPÖ und der Liste Pim Fertuyn in den Niederlanden ändern den Grundtenor dieser Einschätzung nicht - vergällt den bürgerlichen Parteien die Freude über den Niedergang des politischen Gegners. Der Bedeutungszuwachs des Rechtspopulismus in der politischen Arena basiert einerseits auf dem politischen Bankrott der bisher dominierenden bürgerlichen und Mitte-Links-Kräfte, andererseits auf einer wachsenden Verunsicherung größerer Teile der Bürger und Bürgerinnen über die Gefährdungen und Fehlentwicklungen im globalisierten Kapitalismus. "Die einst ›großen‹ Parteien der Linken und der Rechten, die zusammen einmal über 90% der Stimmen hatten, sind selbst in Großbritannien auf 75 % oder weniger geschrumpft. Nimmt man das Schwinden der Wahlbeteiligung noch hinzu, so liegt der Schluß nahe: Viele Wähler wollen entweder gar nichts mehr mit der Politik zu tun haben, oder sie wollen etwas ganz anderes als die traditionellen Parteiapparate. Nicht ephemere Erfolge der Linken oder der Rechten, sondern der Zweifel am hergebrachten System der Demokratie und ihrer Parteien ist das Kennzeichen der Stunde." (Dahrendorf 2002) Jede realistische Reform auf seiten der politischen Linken muß diese Rahmenbedingungen in Rechnung stellen.

Zerfall der fordistischen Lohnarbeitsgesellschaft

Alle europäischen Gesellschaften sind seit Mitte der siebziger Jahre infolge einer beschleunigten Modernisierung sozialen Spannungen ausgesetzt. Der moderne Kapitalismus basiert auf einer kundenzentrierten, flexiblen Massenproduktion und einer entsprechenden Arbeitsorganisation. Durch die flexible Produktion werden die unter dem fordistischen Fabrikregime erkämpften Rahmenbedingungen der Lohnarbeit und die darauf aufbauenden Aspekte sozialer Sicherheit in wachsendem Umfang zerstört. Die Mitte-Links-Regierungen in Europa haben versucht, einen Umbau des Sozialstaates entsprechend diesen Spielregeln eines neuen Produktionsmodells vorzunehmen. Dieser setzt sich in Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie den Arbeits- und Entlohnungsbedingungen um. Von sozialer Steuerung und Regulierung kommt bei großen Teilen der eigentumslosen Bevölkerung nicht viel an. (3)
Die verschiedenen Ansätze zur "Neujustierung des Sozialstaates" stellen sich als repressive Manöver zur Erhöhung des Arbeitseinsatzes und der Leistungsorientierung dar. Fakt ist, daß der sozial regulierte Kapitalismus in Europa in geringem Maße redistributiv gewesen ist; der Sozialstaat gewährte - national selbstverständlich unterschiedlich - in hohem Maße soziale Sicherheit, indem verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen soziale Rechte und ein Bündel von sozialen Sicherungen gewährleistet wurden. Diese Veränderungen des kontinentaleuropäischen Sozialstaatstypus sind zudem in eine Weiterentwicklung von Hegemonialkonstellationen unter den kapitalistischen Hauptländern eingebunden, was hier ausgeklammert bleibt (Bischoff 2002 b).(4)
Wir sind mit einer weitreichenden Veränderung des modernen Kapitalismus durch den Übergang zur flexiblen Massenproduktion und einem entsprechenden Arbeitsregime konfrontiert. Diese Umwälzung in der gesellschaftlichen Betriebsweise erzwingt Veränderungen in der sozialstaatlichen Regulierung. In Kontinentaleuropa wurden diese Regulierungen und sozialen Sicherungen in den sechziger Jahren massiv ausgebaut, so daß die Transformation des Europäischen Sozialmodells die größten Anforderungen und Widerstände hervorruft. Robert Castel, der 1995 diese Veränderungen zusammengefaßt hat, wie sie seit der Zäsur Mitte der siebziger Jahre aufgetreten waren, hat selbst Zweifel, ob seine damalige Diagnose noch zutrifft: "Da sich die Lage seither beträchtlich verschlechtert zu haben scheint, könnten wir eher vom Zusammenbruch einer ganzen Struktur sprechen, von einem Übergang zu einem völlig anderen Regime der Arbeitsorganisation in einer Gesellschaft, die völlig vom Markt beherrscht wird" (Castel 2001 a). Sicherlich gewinnt dieser Umbau des europäischen Sozialstaates mehr und mehr an Dynamik, gleichwohl wäre es überzogen, bereits von der Zerstörung und einem neuen Regime von Lohnarbeit und sozialer Regulierung zu sprechen. (5)
Auf der anderen Seite sind die wirtschaftlichen Eliten mit Tempo und Umfang der Neu-Justierung des Sozialstaates unzufrieden. Als Akkumulationsbremse gilt ihnen nach wie vor nicht die chronische Überakkumulation von Kapital und eine massive Verzerrung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen, sondern die vermeintlich überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen und der subalternen sozialen Schichten. Dieser neoliberale Politikansatz zur Dynamisierung der Kapitalakkumulation und der Reduktion der Massenarbeitslosigkeit ist zwar gescheitert - dies ist die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Ihre praktisch wie theoretisch belegte Erfolglosigkeit hindert diese politischen Kräfte und den entsprechenden Block sozialer Kräfte allerdings nicht daran, eine beständige Radikalisierung dieser Therapie zu propagieren und durchzusetzen. Der bundesdeutsche Sachverständigenrat argumentiert auch in seinem neuesten Jahresgutachten wieder für eine solche Konzeption.
Auch nach fast drei Jahrzehnten Veränderung des die kapitalistischen Gesellschaften im Kern bestimmenden Produktionstypus und Regimes der Lohnarbeit, sowie eines Umbaus der national geprägten Systeme sozialer Sicherung und sozialstaatlicher Regulierung muß sich jede reformpolitische Konzeption dieser gesellschaftlichen Herausforderung stellen. Sie besteht darin, in Absetzung zu der in den letzten Jahrzehnten verfolgten Strategie der Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse zunächst eine umfassende Erneuerung von flexibler Arbeitsorganisation und sozialer Sicherheit mehrheitsfähig zu machen und dies als Einstieg in eine weitergehende Gesellschaftsreform vorzustellen. Die Politik der Entkoppelung von Lohnarbeit und sozialer Sicherheit bringt weder die behauptete Konstellation ökonomischer Prosperität zurück, noch kann sie die wachsende soziale Zersplitterung und Zerklüftung der politischen Willensverhältnisse überbrücken. "Wenn man realistisch ist, kann man die starke und ökonomische Dynamik nicht ignorieren, die zweifellos irreversibel ist und mit der man rechnen muß, denn in ihrem Gefolge wird der Arbeitnehmerstatus umgestaltet im Sinne einer Anpassung an neue Erfordernisse der Produktion, also der Flexibilität ... Die Herausforderung liegt darin, die Koppelung von Arbeit und Absicherung - die große historische Innovation der Lohnarbeitsgesellschaft - auf einer neuen Basis umzugestalten. " (Castel 2001 b, S. 19)
Eine solche Umgestaltung muß sich zentral auf zwei Aspekte konzentrieren: Zum einen kommt es darauf an, die verschiedenen Dimensionen der Flexibilisierung - betrieblich wie gesamtgesellschaftlich - zu regulieren, das heißt sozial zu gestalten; zum anderen gilt es, die Prekärisierung von Teilen der Lohnarbeit und den Bedeutungszuwachs von Zins- und Vermögenseinkommen bei jedweder Reform der sozialen Sicherungssysteme zu berücksichtigen. Wir müssen die Finanzbasis der sozialen Sicherheit vom Arbeitseinkommen auf andere Einkommens- oder Revenueformen (Zins, Rente, Vermögenseinkommen) erweitern, wenn wir ein universelles Sicherungssystem für alle Gesellschaftsmitglieder verwirklichen wollen. Teile der politischen Linken haben Schwierigkeiten, die Tendenz zur Flexibilisierung von Massenproduktion und Arbeitsorganisation sowie die Notwendigkeit der sozialen Regulierung anzuerkennen. Teile der Linkssozialisten oder Reformkommunisten sind - wie die jüngsten Programm- und Strategiedebatten zeigen - noch nicht einmal soweit, die sich jetzt auflösende historische Errungenschaft der Herausbildung einer Lohnarbeitsgesellschaft durch die sozialstaatliche Regulierung als Realität zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man sich theoretisch in der Welt des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bewegt, muß der Aufstieg und Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaften im 20. Jahrhundert unverständlich bleiben. Mehr noch: Die von der neoliberalen Politik vorangetriebene Veränderung wird als eine reine Veranstaltung der Wirtschaftselite oder der besitzenden Klasse mißverstanden. Eine auf dieser Grundlage entwickelte Reformstrategie ist blind für die gesellschaftliche Breite des von den Neoliberalen geführten Blocks sozialer Kräfte. Vielmehr ist Castel zuzustimmen, wenn er anmerkt: "In dem Maße, wie diese Transformationen einen ambivalenten Charakter haben, muß man vermeiden, sie ausschließlich negativ zu bewerten." (Castel 2001 b)(6)
Die Veränderung der gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals und die damit verknüpfte Veränderung der sozialen Regulierung bringt also eine widersprüchliche Konstellation hervor. Die politische Linke muß den Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft überwinden, was aber wegen der Ausbildung von prekären, ungeschützten Arbeitsverhältnissen, wachsender sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung schwer fällt. Auf der anderen Seite verliert der von den neoliberalen Parteien geführte Block sozialer Kräfte an Reichweite, weil rechtspopulistische Mentalitäten eine Kritik am gesamten politischen Willensbildungssystem der Demokratie bedingen. Die gesellschaftlichen Gründe für gewachsene Existenz- und Zukunftsängste sowie die Krise der politischen Repräsentation wirken als Treibhausbedingungen für rechtspopulistische Mentalitäten und Bewegungen. (7)
Die konkreten politischen Gestalten des Rechtspopulismus sind zu einem guten Teil an die nationalen Gegebenheiten geknüpft. Gleichwohl konstatieren Amato und DÂ’Alema für die europäische Sozialdemokratie: "Und dennoch durchzieht sie ein roter Faden, der aus unserer gemeinsamen Unfähigkeit besteht, eine angemessene Antwort auf die Ängste und Unsicherheiten zu geben, die sich in den letzten Jahren in unseren nationalen Gesellschaften ausgebreitet haben ... Wir haben auf die Zukunftsängste, die auf unserem Kontinent um sich greifen, keine Antwort zu geben gewußt: Ängste, die an die Veränderung der gesellschaftlichen Identitäten sowie an die Überwindung der Bedeutung des Nationalstaates beziehungsweise an die Prozesse gebunden sind, an deren Entwicklung wir selbst beteiligt waren. Sicher aber ist, daß wir den auf sozialer Ebene spürbar gewordenen Ergebnissen dieser Prozesse weitgehend unvorbereitet gegenüberstanden." (Amato)

Zerfall der Demokratie

Charakteristisch für den Rechtspopulismus sind der Frontalangriff auf die Strukturen der gesellschaftlichen Willensbildung und die politische Klasse und das Versprechen, über eine Aufwertung von Familie und Nation die gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben und so die Lebenslage der "kleinen Leute" zu stabilisieren, ohne auf den Markt als zentrales Steuerungsinstrument zu verzichten. Auf diese Weise wird der für neoliberale Politik charakteristische Spannungsbogen zwischen Marktradikalismus, gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen und konservativ-autoritären Wertorientierungen neu austariert.(8)
In dieses Versprechen des Rechtspopulismus eingeschlossen ist stets eine verschärfte innenpolitische Repression und die Ausgrenzung von angeblich parasitären sozialen Gruppierungen, also Migranten, Asylanten und anderen an der Rand der Gesellschaft gedrängten Schichten. Die Art von schneller Therapie, die der Rechtspopulismus verspricht, kann an der Konzeption von "Sicherheit" verdeutlicht werden. Während wir mit einer massiven Zunahme bei der Wirtschaftskriminalität (Bilanzfälschung etc.) und wachsender Korruption im politischen System konfrontiert sind, werden rechtspopulistische Mentalitäten durch eine Reduktion auf "Straßenkriminalität" bedient. Während dem Staat in wirtschaftlichen wie sozialen Belangen immer stärkere Ohnmacht teils attestiert und nachgesehen wird, soll im Hinblick auf die Straßenkriminalität, einen vermeintlichen Mißbrauch des Asylrechtes und die vorgebliche Erschleichung von Sozialleistungen die Handlungsfähigkeit des repressiven Staatsapparates aufrecht erhalten und ausgebaut werden.
Sowohl die Defizite in der politischen Willensbildung (Wahlbeteiligung, Korruption) als auch die Tendenz zur Veränderung von rechtsstaatlichen Normen im Justizbereich legen die These nahe, daß sich "ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden ... Das austarierte System von ›checks and balances‹ (Tocqueville), wodurch gewährleistet werden soll, daß ein Interesse nicht alternativlos durchgesetzt werden kann, ist aufgehoben. Dies ist ein Zeichen autoritärer Macht, die sich durch die Dominanz ökonomischer Institutionen gegenüber anderen gesellschaftlichen Institutionen ausdrückt." (Heitmeyer 2001, S. 500)
Auch hier gilt es meines Erachtens zu differenzieren. Ohne Zweifel gibt es eine Entwicklungstendenz in diese Richtung. Gleichwohl gilt für die hochentwickelten kapitalistischen Länder immer noch die Konzeption von ›contervailing power‹ (Galbraith ) und zwar gerade auch auf dem Terrain der Ökonomie. Die mächtigen Wirtschafts- und Sozialinteressen sorgen über den Einfluß innerhalb des politischen Systems dafür, daß keine ruckartigen Veränderungen bei sozialen Besitzständen oder des Kräfteparallelogramms stattfinden. Die Neujustierung des Sozialstaates oder die Transformation des europäischen Sozialmodells geht voran, aber nur in kleinen Schritten, die von neoliberaler Seite häufig als zu bescheiden kritisiert werden. Zu Recht konstatiert Steinmeier, der Chef des Bundeskanzleramtes, Deutschland - aber auch die anderen westeuropäischen Staaten - scheine "befallen von einer merkwürdigen Starre, die das Land unfähig mache, auf Prozesse jenseits des in Legislaturperioden gerasterten politischen Alltags - Globalisierung, demographische Entwicklung, Veränderungen der Arbeitswelt - eine tragfähige Antwort zu geben." (Steinmeier 2001, S. 263) (9)
Während diese Starre und das vermeintliche Abschieben in Kommissionen als Ausdruck einer politischen Blockade von konservativneoliberaler Seite angegriffen wird, will Steinmeier diese Methodik (siehe Hartz-Kommission über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) als innovativen Konsens verstanden sehen. "Konsenssuche wird hier zu einem dynamischen Prozeß, in dessen Verlauf man traditionelle Blockaden überwindet und dafür sorgt, daß sich in komplexen Entscheidungsprozessen die Waagschale im richtigen Moment zugunsten der Erneuerung senkt." (Steinmeier 2001, S. 265 f.)
Zu Recht wird von der Sozialdemokratie darauf bestanden, daß in modernen demokratischen Gemeinwesen Entscheidungsprozesse nicht mehr per Rechtsbefehl oder Verwaltungsanordnungen abgeschlossen werden. Der Charakter der politischen Willensbildung und der politischen Führung hat sich im Übergang zum 21. Jahrhundert radikal verändert. "In der modernen, hochkomplexen Gesellschaft verfügen Regierung und Parlament (damit Parteien - J. B.) nicht mehr a priori über das notwendige Wissen, geschweige denn den Wissensvorsprung, um sachadäquate Entscheidungen zu treffen, vielmehr müssen sie die notwendigen Lernprozesse selbst organisieren. " (Steinmeier 2001, S. 268) Wer unter solchen Bedingungen eine grundlegende Erneuerung des Zusammenhanges von Lohnabhängigkeit und sozialer Sicherheit durchsetzen will, muß sich auf den Prozeß einlassen und aus der Gesellschaft das entsprechende Wissen und die entsprechende Kompetenz organisieren.

Erneuerung des Linkssozialismus

Diese Anforderung - Lernprozesse zu organisieren und die Partei in eine lernende Organisation zu verwandeln - gilt in besonderer Weise für die linkssozialistischen Parteien in Westeuropa. Sie werden ihre großen programmatischen und organisatorischen Defizite nur in dem Maße aufheben können, wie ihre politischen Führungen einen solchen Lernprozeß unter Rückgriff und Einbezug von in der Gesellschaft vorhanden Gegenmachtpotentialen organisieren. Konkret heißt dies: Jede Kommission, die mit der Entwicklung einer neuen Epochenbestimmung beauftragt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Die Entwicklung eines Grundsatzprogramms muß als Kommunikationsprozeß mit gesellschaftlichen Gegenmachtpositionen angelegt sein. Ein solcher Erneuerungsprozeß muß zudem den Grundorganisationen die Chance bieten, an einem solchen Prozeß der Bündelung von Positionen beteiligt zu werden. Die PDS muß - wie die anderen linkssozialistischen Parteien in Europa - eine eigene Konzeption zur Gestaltung und Überwindung des flexiblen Kapitalismus entwickeln. Die zur Zeit vorherrschende politische Abgrenzung von der europäischen Sozialdemokratie ist dabei Teil des strukturellen Defizits, aber kein Lösungsansatz.
In den zurückliegenden Jahren dominierte in der PDS die Einschätzung, daß es sich bei der Politik der europäischen Sozialdemokratie und dem "Dritten Weg" um einen weichgespülten Neoliberalismus handelt. Offenkundig ist die Möglichkeit einer, wenn auch partiellen, Rückwendung zu den Positionen und Werten von "old labour" so überraschend gewesen, daß die PDS-Führung im zurückliegenden Lagerkampf weder in der Friedens-/Kriegsfrage noch mit Blick auf die soziale Gestaltung oder soziale Gerechtigkeit im flexiblen Kapitalismus eine Chance hatte, die Eigenständigkeit der PDS-Programmatik und -Politik zu verdeutlichen. Man kann gute Gründe dafür geltend machen, daß die europäische Sozialdemokratie auch künftig keinen wirklichen Durchbruch bei der Zurückdrängung sozialer Unsicherheit und der Ausweitung esellschaftlicher Teilhabe erzielen wird. Eine fundierte Kritik an den politischen Konzeptionen der Sozialdemokratie ist nicht auf die Formel von starken Rechtstendenzen zur reduzieren. Wenn keine umfassende Erneuerung der PDS angestrebt und durchgesetzt wird, droht ein irreversibler Zerfallsprozeß der Partei. Denn die politisch-soziale Isolation ist zum Teil hausgemacht und kann zu einer völligen Bedeutungslosigkeit in den Medien und im Kommunikationsalltag führen.(10)
Eine demokratische Umgestaltung des Kapitalismus wird darüber hinaus nur dann den nötigen Rückhalt bei der Bevölkerung finden, wenn die Politik der Ausweitung sozialer Unsicherheit zur Erhöhung der Leistungsabforderung bei den eigentumslosen sozialen Schichten angegriffen wird. Es geht mithin um die Entwicklung einer gemischten Ökonomie auf Grundlage erweiterter Rechte und Sicherheit der Lohnarbeit. Eine moderne "mixed economy" ist nicht nur charakterisiert durch pluralistische Eigentumsformen (kapitalistische, genossenschaftliche, gemeinnützige und öffentliche Unternehmen), sondern durch Rahmenplanung und Investitionslenkung. Allerdings ist der Aktionsradius eines solchen Regulierungs- und Steuerungssystems die europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Ohne eine Demokratisierung und Weiterentwicklung von internationalen Kontroll- und Steuerungssystemen (Währung, Kredite, etc.) ist eine solche längerfristige Perspektive unrealistisch.

 

Joachim Bischoff - Jg. 1944, Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Memorandum; Redakteur der Zeitschrift Sozialismus. Zahlreiche Publikationen zur Politischen Ökonomie des Kapitalismus, unter anderem: Mythen der New Economy, Hamburg 2002. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Die Memoranden - Alternativen zur neoliberalen Wirtschaftskonzeption, Heft 146 (Dezember 2002).

(1) "Bereits im Juli 2002 ist die Mitte-Links-Hegemonie in der EU zerfallen. 9 von 15 EU-Mitgliedsstaaten werden wieder von Rechtsparteien regiert." (Dräger 2002, S. 6)

(2) "Das Aufkommen des Rechtspopulismus in Europa (und in anderen Erdteilen) erklärt sich aus dem Fehlen jeglicher Perspektive angesichts einer Welt, deren Grenzen und Grundlagen in Fluß geraten sind. Die Unfähigkeit der dominanten Institutionen und Eliten, diese neue gesellschaftliche Wirklichkeit wahrzunehmen und sie produktiv zu gestalten, hängt mit dem Zuschnitt der Institutionen und ihrer Entstehungsgeschichte zusammen. Sie entstammen einer Welt, die den Leitideen der Vollbeschäftigung, der Dominanz nationalstaatlicher Politik ..., funktionierender Grenzen, klarer territorialer Souveränität und Identitäten verp.ichtet war." (Beck 2002, S. 7)

(3) "Wir haben es mit einer Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft zu tun, die wie eine Druckwelle vom Zentrum ausgehend die ganze Gesellschaft erfaßt, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen." (Castel 2001 b, S. 17)

(4) "The aspirations of full employment, universal access to health care and education, adequate sozial insurance for sickness, disability, unemployment and old age, and minimum resources of social assistance to prevent poverty and reduce social exclusion, are widley accepted by European publics and deeply entrenched in policy programs an institutions ... Since the late 1970s, all developed welfare states of Europen Union have been recasting the basic policy mix upon which their national systems of social protection were built after 1945 ... Welfare reform is dif.cult, but it happens." (Hemerijck 2002, p. 39 f.)

(5) "Den Kern eines Programms für Beschäftigung und Wachstum muß eine Reform des Arbeitsmarkts bilden, denn die derzeitigen institutionellen Rahmenbedingungen setzen gravierende Fehlanreize. Auch durch die Reform der sozialen Sicherung und eine nachhaltige und wachstumsfreundliche Finanzpolitik können beträchtliche wirtschaftliche Antriebskräfte mobilisiert werden, denn die hohe und steigende Abgabenlast hemmt die Beschäftigungsentwicklung und das Wachstum. " (SVR 2002, S. 17)

(6) "Manche Menschen ziehen sich sehr gut aus der Affäre und machen das Beste aus dem Spiel. Sie maximieren ihre Chancen und entwickeln Initiativen, sie können sich von den belastenden Zwängen befreit fühlen, die Bestandteil der tayloristischen Arbeitsorganisation waren. Das sind die Gewinner dieser Transformation, und es ist besonders dieser Erfolgstypus, auf den sich die neoliberale Offensive stützt." (Castel 2001 b)

(7) "Und unsere Antworten auf die zunehmenden Ängste in unseren Nationen waren schwach, denn die Schwäche lag in unserer Unfähigkeit, die Veränderungen um uns herum zu verstehen und zu deuten. Auf diese Ängste hat die europäische Rechte keine wirkliche Antwort gegeben, sondern die Illusion einer schnellen Verarztung." (Amato, DÂ’Alema 2002)

(8) "Angst und Empörung greifen um sich in Europa. Denn die ›Gewalt in den Städten‹ und die ›Jugendkriminalität‹ gefährden, so heißt es, den Zusammenhalt der entwickelten Gesellschaften und erfordern zu ihrer Bekämpfung härtere Strafen. Längst ist das ›Verbrechen‹ auf die Straßenkriminalität reduziert, sprich auf die Schandtaten der niederen Klassen." (Wacquant 2002, S. 12)

(9) "In der heutigen westlichen Gesellschaft läuft die Nettobilanz des Staatshaushaltes regelmäßig auf eine beträchtliche Einkommensumverteilung zugunsten der Arbeiter und der ärmeren Schichten überhaupt hinaus, die unterdessen gelernt haben, die Wahlurnen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Gleichermaßen wird den Arbeitnehmern Absicherung gegen die Folgen der Konjunkturschwankungen gewährt, und das Anwachsen der Staatsausgaben ist zu einem Großteil auf die Ausweitung der Sozialleistungen zurückzuführen. Umgekehrt spricht aber auch vieles dafür, daß die ›Unternehmerklasse‹, sobald die Existenz des kapitalistischen Systems bedroht ist, fähig ist, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, um dessen Stabilität sicherzustellen." (Pollard 1984, S. 185.)

(10) "Es geht nicht um die Schaffung von parallelen Entscheidungsstrukturen, sondern um temporär wirksame Instrumente, die die politische Willensbildung beschleunigen und auf eine möglichst breite gesellschaftliche Grundlage stellen." (Steinmeier 2001, S. 265 f.)

 

Literatur:

  • Amato, Giuliano, DÂ’Alema, Massimo (2002): Wie die Linke aus der Ecke kommen will, in: Frankfurter Rundschau, 2. Oktober 2002.
  • Beck, Ulrich (2002): Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, Frankfurt.
  • Bergmann, Joachim u. a. (2002): Krisen und Krisenerfahrungen, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4.
  • Bertinotti, Fausto (2002): Drei Gründe für ein Scheitern, in: Z, Zeitschrift Marxistische Erneuerung, September 2002.
  • Bischoff, Joachim (2002 a): Grundprobleme der Erneuerung der PDS.
  • Bischoff, Joachim (2002 b) Minimalistischer Reformismus - zur Strategie der sozialistischen Linken, in: Sozialismus, November 2002.
  • Bourdieu, Pierre (2002): Für eine neue europäische Aufklärung, in: UTOPIE kreativ, Heft 139 (Mai 2002), S. 389-397.
  • Brie, André u.a. (2002): Für eine moderne sozialistische Partei in Deutschland.
  • Castel, Robert (2001 a): Die neue soziale Frage, in: Frankfurter Rundschau, 3. September 2001.
  • Castel, Robert (2001b): Der Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft, in: Lohn der Angst, Liber Jahrbuch 3, Konstanz.
  • Dräger, Klaus (2002), Das Scheitern des Mitte-Links-Projekts in Europa, in: Widerspruch, Heft 43.
  • Dahrendorf, Ralf (2002): Europa auf dem Weg nach rechts?, in: Wirtschaft und Finanzen, 29. Januar 2002.
  • Galbraith, John K. (1952): American Capitalism, The concept of contervailing power, Boston.
  • Heitmeyer, Wilhelm (2001): Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus, in: Ders. und Loch, Dietmar: Schattenseiten der Globalisierung, Frankfurt a. M.
  • Heitmeyer, Wilhelm (2000): Soziale Desintegrationsprobleme, Anerkennungszerfall und Rechtsextremismus.
  • Heller, Hermann (1983): Staatslehre, Tübingen.
  • Hemerijck, Anton (2002): The self-Transformation of the European Social Model(s) in: Internationale Politik und Gesellschaft , 4/2002, Bonn.
  • Horkheimer, Max (1987): Autoritärer Staat (1940/1942), in: Gesammelte Schriften Band 5, Frankfurt a. M.
  • Losurdo, Domenico (2002): Angesichts der Globalisierung: Marxismus oder Populismus, in: Marxistische Blätter 5, 2002.
  • Magri, Lucio (2002): Ein neuer politischer Zyklus, in: Sozialismus, September 2002.
  • Machnig, Matthias, Müntefering, Franz (2001): Sicherheit im Wandel, Neue Solidarität im 21. Jahrhundert, Berlin.
  • Neubert, Harald (2003): Politikunfähige Sekte?, in: Sozialismus, Januar 2003.
  • Pollard, Sidney (1984): Keynesianismus und Wirtschaftspolitik seit der Großen Depression, in: Geschichte und Gesellschaft, 10/1984.
  • Polikeit, Georg (2002): Am Beispiel Frankreichs: Die Krise des Sozialreformismus, in: Marxistische Blätter, 4/2002.
  • Sachverständigenrat (2002): Jahresgutachten 2002/2003, Berlin.
  • Steinmeier, Frank Walter (2001): Konsens und Führung, in: Machnig, M., Müntefering, F., a. a. O.
  • Wacquant, Loic (2002): Null Toleranz für die Mär von der Sicherheit, in: Le monde diplomatique, 5/2002.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 148 (Februar 2003), S. 101-108