Schieflagen sozialer Gerechtigkeit

Seit den neunziger Jahren sind die Regierungsmehrheiten in Europa zunehmend unsicher geworden. Die anhalten-de Umstrukturierungskrise des Kapitalismus ruft nach neuen Konzepten politischer Regulierung

... des Wirtschafts- und Sozialsystems. Nachdem die Wählerinnen und Wähler die Lösung zunächst europaweit bei der Sozialdemokra-tie gesucht hatten, gewinnen konservative und neuerdings auch konservativ-rechtspopulistische Koalitionen wie-der an Boden. Die anhaltende politische Vertrauenskrise erinnert an eine ähnliche Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch damals veränderte ein großer Schub der Modernisierung die Wirtschaftsweise und die Lebensstile und mün-dete schließlich 1929 in eine lange Wirtschaftskrise. Auch damals stellte diese Dynamik die Institutionen und Rege-lungen des nationalen und transnationalen Zusammenhalts in Frage. Die alten politischen und weltanschaulichen Eliten verloren an Akzeptanz in den sozialen Milieus. Durch neue Wählermehrheiten oder gewaltsame Machtergrei-fungen kamen fast überall andere Eliten mit anderen Konzepten der Regulierung des Sozialsystems an die Macht. Es war der große Kampf zwischen faschistischen und kommunistischen, sozialdemokratischen und bürgerlich-revolutionären Alternativen. Erst nach langen Konflikten und schließlich dem Zweiten Weltkrieg hat sich dann in den hochentwickelten Ländern das neue, breit akzeptierte Modell des Wohlfahrtsstaates - in seinen konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Varianten - durchgesetzt. Dieses Modell ist nun selbst wieder infrage gestellt. Seine Institutionen, Autoritäten und Leitbilder stehen auf dem Prüfstand. Alte und neue Elitemilieus konkurrieren mit ihren Sozialmodellen um die Führungsrolle. Für diese neue Vertrauenskrise gibt es widerstreitende Erklärungen. Die These der "Individualisierung" unterstellt, dass die alten Klassenmilieus in zahllose Einzelmenschen zerfallen seien, die ihre Lebensstile und Milieus nun selber schaffen und wählen. Manche sprechen von der "politischen Verdrossenheit" wie von einer geheimnisvollen Krank-heit, die Gemeinsinn und soziales Engagement auflöst. Andere halten dem entgegen, dass ja gerade der "Werte-wandel" fort vom materiellen Habenwollen und hin zu einem erweiterten sozialen und politischen Interesse geführt habe. Die wachsende Unzufriedenheit sei eher eine Folge gestiegener Ansprüche an die Politik, einer Tendenz zur "Bürgergesellschaft". Wieder andere erklären die große Unzufriedenheit aus einer Wiederkehr der Tendenz der Ver-elendung und sozialen Exklusion, als Folge einer globalen Deregulierung sozialer Sicherungssysteme. Die These dieses Aufsatzes liegt quer zu solchen Prognosen eindimensionaler Trends, denen die Individuen verein-zelt und passiv ausgeliefert scheinen. Die Trends sind vielmehr nur Teilaspekte von weit komplexeren Kräftefeldern, die von den gesellschaftlichen Akteuren - Milieus und gesellschaftspolitischen Lagern - durchaus aktiv gestaltet werden. Die Milieus sind zwar vielfältig unterteilt, aber sie sind doch, wie wir sehen werden, die modernisierten Nachfahren der historischen Klassen, Schichten und Stände, und sie teilen sich nach wie vor in privilegierte und we-niger privilegierte oder unterprivilegierte Gruppen. (vgl. Vester, von Oertzen u.a. 2001) Gerade bei raschem wirt-schaftlich-sozialen Wandel steht das Verhältnis zwischen oben und unten, der "Gerechtigkeitsvertrag" der Gesell-schaft, zur Debatte. Neue start-ups, die die Gewinner sein wollen, fordern die Integrationsfiguren von gestern her-aus. Doch hat bisher aber keines der heutigen alten und der neuen "Leitmilieus" nachhaltige Integrationskraft ge-winnen können.

1. Das historische Sozialmodell der BRD in der Krise

Die Integrationskraft gesellschaftspolitischer Ordnungskonzepte hängt besonders davon ab, wieweit sie die sozia-len Verwerfungen, die durch die Modernisierung aller Wirtschaftsbranchen entstehen, regulierend flankieren kön-nen. Die ökonomische Modernisierung besteht wesentlich in der horizontalen Dynamik zunehmender Arbeitstei-lung, Spezialisierung und Technisierung der Produktivkräfte, die durch die internationale Konkurrenz beschleunigt wird. Wenn ein Wirtschaftszweig nach dem anderen eine höhere Arbeitsproduktivität erwirbt, werden Arbeitskräfte überflüssig und immer mehr Menschen genötigt, sich auf alternative Lebensgrundlagen umzustellen. Jedes Milieu entwickelt, seinem Habitus und seiner Tradition entsprechend, zur Bewältigung des Wandels ganz ei-gene "Strategien der Umstellung", indem es seine Kräfte in die Anhäufung und politische Sicherung von Besitz, Bil-dung oder Macht, in Konkurrenzkämpfe oder solidarische Hilfsnetze, in Ortsfestigkeit oder Wanderungen investiert (vgl. Bourdieu 1982, S. 210-276). Oft reichen diese Strategien nicht aus. Wenn die drohenden Statusverluste nicht durch staatliche Flankierung begrenzt werden, kann dies - wie ab 1930 die Sparpolitik des deutschen Reichskanzlers Heinrich Brüning - zu einem starken Machtzuwachs extremistischer Parteien führen. Diese Erfahrung hatte die nachfaschistischen Eliten überzeugt, dass die kapitalistischen Marktmechanismen von sich aus nicht zu einem Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung führen können. Der Ordo-Liberalismus der sozialen Marktwirtschaft ebenso wie der Keynesianismus der Sozialdemokratie betonten daher die Unverzichtbarkeit der wirtschafts- und sozialpolitischen Flankierung solcher Umstellungen. Parallel zu diesen theoretischen Einsichten wurde nach 1945 ein Konflikt- und Aushandlungsmodell erkämpft und erprobt, das in dem Grundsatz "Leistung ge-gen Teilhabe" zusammengefasst werden kann. Für die Bereitschaft zu hoher Arbeitsleistung wurde eine umfassen-de Teilhabe an den sozialen Chancen verlangt. Entgegen der Behauptung der neoliberalen Politik handelte es sich nicht um ein protektionistisches Modell, das die Faulen vor Leistungsanforderungen schützt, sondern um einen entwicklungsfähigen, auf dem Prinzip der Gegensei-tigkeit aufbauenden historischen Kompromiss. So konnten in der Geschichte der Bundesrepublik konservative und sozialdemokratische gesellschaftspolitische Integrationsmodelle, die stufenförmig aufeinander aufbauten, einander ablösen. Die konservativen Regierungen Konrad Adenauers entwickelten nicht nur die Kompromissfähigkeit zwischen den bürgerlichen Parteien, sondern auch mit der Arbeiterbewegung. Neben der Mittelstandspolitik enstand eine kon-servative Arbeitnehmerpolitik. In den 1950er und 1960er Jahren konnten sich die Arbeitnehmer die Teilhabe am "Wirtschaftswunder" durch Arbeitszeitverkürzungen sowie höhere Lohn-, Konsum-, Sozial- und Bildungsstandards erkämpfen. Im Zuge der horizontalen Strukturverschiebungen schrumpften die traditionellen Agrar- und Industrieberufe der körperlichen Arbeit radikal und wuchs die Mitte der Facharbeiter und qualifizierten Angestellten. Die Klassengesell-schaft "enttraditionalisierte" sich. Nicht nur die ständisch-kleinbürgerlichen Strukturen, sondern auch die schroffen Klassenspaltungen aus der Zeit der Industrialisierung bauten sich ab. Das Modell der regulierten Klassengesellschaft lag jenseits der alten Alternative zwischen ständischer Harmonie und schroffen Klassengegensätzen. Einerseits wa-ren die Klassengegensätze jetzt eindeutiger, weil die ständischen Zwischenschichten dahinschwanden. Anderer-seits waren sie durch das Aushandlungsmodell des "institutionalisierten Klassenkonfliktes" (vgl. Geiger 1949 u. Da-rendorf 1957), das die Chance zum Kompromiss bot, entschärft. Die Stärke dieses verbandlichen oder "korporatistischen" Aushandlungsmodells ist seine Unabhängigkeit von direk-ter staatlicher Intervention. Seine Schwäche liegt in seinen oligarchischen und bürokratischen Erstarrungstenden-zen, im Mangel an Beweglichkeit, Partizipation und Elitewechsel. Trotz dieser Grenzen war das Sozialmodell doch modernisierungs- und konfliktfähiger als das staatsbürokratische Modell, das nach 1945 mit Hilfe der Sowjetunion in Ostdeutschland installiert worden war. Nachdem jenes aber 1989 zusammengebrochen war, blieb das westdeut-sche Modell nur noch mit seinen eigenen Mängeln konfrontiert. Aufgrund dessen steht das Modell von zwei Seiten unter Druck. Zum einen fordern kleine, aber in Politik und Me-dien einflußreiche neoliberale Eliten einen Abbau des Modells. Umgekehrt fordern die großen sozialen Gruppen, die auf Verbandsvertretung angewiesen sind, eine Modernisierung des Modells: mehr Mitwirkungsrechte und einen weniger bevormundenden Politik- und Organisationsstil. Zu ihnen gehören sowohl die anwachsende Gruppe der modernen, besonders gut qualifizierten Arbeitnehmer wie auch die klassischen benachteiligten Gruppen der Frau-en, Ausländer, gering Qualifizierten, Jugendlichen und Rentner. Zwischen diesen widerstreitenden Ansprüchen ist integrative Mehrheitspolitik schwierig geworden. Die Regierung Helmut Kohls konnte die großen Wählerpotentiale der Union nur so lange halten wie sie, trotz mancher Abstriche, die Grundsubstanz des Sozialmodells nicht zu sehr antastete. Als sie sie antastete, insbesondere durch den Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, verlor sie 1998 die für eine Regierungsmehrheit entscheidenden Arbeit-nehmerstimmen. Die dann gewählte rot-grüne Regierung verfing sich in den gleichen Widersprüchen. Die Parole der "neuen Mitte" war von Beginn doppeldeutig. Denn sie sprach, wie die Landkarte der sozialen Milieus zeigt, gleichzeitig zwei sehr gegensätzliche Milieugruppen an, ein vermeintliches postmodernes "Leitmilieu" der modernen Unternehmer und die große moderne Mitte der gut qualifizierten Facharbeiter und Angestellten, die ihre Interessen nicht als Unter-nehmer, sondern als Arbeitnehmer verstehen (Abb. 1). [Abb. 1 Die sozialen Milieus und "neue Mitte" in Westdeutschland 2000] Die neuen Spitzenpolitiker, selber soziale Aufsteiger, waren fasziniert von den Symbolen und Attitüden der start-ups der "new economy" und der postmodernen Avantgarden des Lebensstils und der Medien (oben links im sozia-len Raum). Von Blairs Berater, Anthony Giddens, ließen sie sich raten, sich von der "schrumpfenden Basis der traditi-onellen Arbeiterschicht" zu lösen, die nur materielle Umverteilung wolle, um sich in der komfortablen Hängematte des Wohlfahrtsstaates auszuruhen. Es folgten Vorschläge, die Bildung kostenpflichtig zu machen und die Arbeitslo-sen nicht zu sehr durch Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zu verwöhnen. Auch wenn diese Signale relativiert wurden, hatten sie einen verheerenden demobilisierenden Effekt. In einer Landtagswahl nach der anderen flüchteten die gemeinten Stammwähler in die Wahlenthaltung. Paradigmatisch wurde Nordrhein-Westfalen, wo SPD und Grüne zusammen 6% verloren. Diese Verluste waren nur die Spitze eines breiteren Eisbergs der Unzufriedenheit. Dessen Ursache war, wie im Wei-teren gezeigt werden wird, nicht die Leistungsunwilligkeit verwöhnter Wohlstandsbürger. Verprellt wurde vor allem die moderne Arbeitnehmermehrheit, die gerade auf das Prinzip "Leistung gegen Teilhabe" setzte, aber ihre Arbeits-leistung wie auch ihre immer besseren Bildungsabschlüsse abgewertet sah. Trotz aller Mängel findet das historische Sozialmodell der Bundesrepublik immer noch Akzeptanz bei mehr als 80%, die seine Verbesserung, nicht seine Ab-schaffung wollen.

2. Das Paradox neoliberaler Sparpolitik: Stagnation trotz Wachstum der Produktivität

Seit den 1970er Jahren müssen sich die Milieus erneut auf neue horizontale Strukturverschiebungen umstellen, je-doch unter den Bedingungen eines wachsenden Sockels der Arbeitslosigkeit. Während in den goldenen Jahren des "Wirtschaftswunders" die horizontalen Umstellungen meist in bessere Beschäftigungen führten, wurden die sozia-len Flankierungen der Umstellungen jetzt brüchig. Die benötigte Arbeitsqualifikation nahm zu, aber sie wurde auf verschiedene Weise entwertet, insbesondere durch das Zurückbleiben des Einkommenswachstums hinter dem Wirtschaftswachstum, durch höhere Belastungen, durch unsichere Arbeits- und Einkommensverhältnisse und oft auch durch Arbeitslosigkeit. Von den Entwertungen betroffen waren fast alle Arbeitnehmer im mittleren und unte-ren sozialen Raum, besonders aber die klassischen diskriminierten Gruppen: Frauen, Zuwanderer, unterprivilegierte Milieus und Einwohner geringer entwickelter Regionen. Mit der Ölkrise von 1973 wurde das Paradox der Grenzen des Wirtschaftswachstums sichtbar. Die beschleunigte technologische Revolution, die die wirtschaftliche Produktivität erhöhte, war keineswegs mit einem beschleunigten Wachstum des Wohlstands verbunden. Vielmehr begann eine heute noch anhaltende langfristige Stagnation, eine anhaltende Nachfrage- und Wachstumsschwächung bei steigendem "Arbeitslosensockel" (vgl. Zinn 1998, S. 55, 75). Die Ursachen lagen, wie die keynesianische Theorie es erklärt, gerade im gewachsenen Wohlstand. Er ermöglichte es den "besserverdienenden" Gruppen, große Teile ihrer Einkommen nicht mehr in die Nachfrage nach Waren, son-dern in Anlagekapital bzw. Aktienspekulation zu investieren. So stiegen z.B. von 1980 bis 1997 die Nettogewinne um 119%, die Nettolöhne aber nur um 20%. Die fehlende Nachfrage verursachte eine krisenverschärfende Spirale der Kostendämpfung durch die Unternehmer, den Staat und das Maastrichter Abkommen der Europäischen Ge-meinschaft, das die staatliche Kreditaufnahme bremste. Der Export konnte dies nur begrenzt ausgleichen, da sich die Nachfrage aus den gleichen Gründen auch in den anderen hochentwickelten Ländern abgeschwächt hatte. Die Exportbranchen versuchten zunehmend, ihre relative Position durch kosten- und arbeitssparende neue Rationali-sierungen und Hochtechnologien zu verbessern. Zugleich wurde gering qualifizierte Arbeit zunehmend in Schwel-lenländer mit niedrigen Lohnniveaus ausgelagert. Zusammengenommen bilden die mit dieser Entwicklung Unzufriedenen etwa 60% der Gesellschaft. Obwohl sie ei-ne nach Lagen und Milieus heterogene Gruppe sind, hat die Unzufriedenheit einen gemeinsamen Nenner. Die Ab-wertung der Arbeitsleistung wird erfahren als Verletzung des Grundkonsenses des historischen Sozialmodells der Bundesrepublik, des Prinzips der "Leistungsgerechtigkeit" und der Hilfe bei "unverschuldeter Not". Die in Medien und Politik vorherrschende Argumentation sieht dies aus einer anderen Perspektive. Die von den neoliberalen Kräften durchgesetzten Sparzwänge des Maastrichter Abkommens begünstigten die neue Philosophie des Mangels und des Sparens. Für sie liegt die Ursache der knappen Mittel im geringen Arbeits- und Bildungseifer der Bevölkerung. Die Diffusität der Unzufriedenheit hängt damit zusammen, dass die wirtschaftlichen Laien diesem hegemonialen Diskurs der politischen und medialen Experten keinen intellektuellen Diskurs entgegenhalten können, sondern nur ihr Ethos, das ihnen sagt, dass sie ja genug leisten und dafür zu wenig Teilhabe erhalten. So bleibt nur ein "Gefühl", die Verdrossenheit. Das Gerechtigkeitsempfinden ist nicht nur verletzt, wenn es um krasse materielle Not geht. Es geht ihm nicht nur um materielle Einkommenshöhen, sondern um Fragen der Verhältnismäßigkeit und der Qualität der "Lebensweise als ganzer" (vgl. Thompson 1987 [1963]). Die Vorstellungen darüber sind zwar von Milieu zu Milieu verschieden, aber für die Mehrheit geht es dabei um eine kontinuierliche und geachtete Arbeit, um die Belohnung aufgewandter Mühen durch Erfolg, um die Freiheit von Zukunftsangst, um die Achtung und Anerkennung anderer, um die Kredit- und Glaubwürdigkeit. Ein Gegendiskurs, der sich diese Sichtweise der Arbeitnehmermehrheit zu eigen machte, wurde zwar in den neun-ziger Jahren von den Gewerkschaften und von Intellektuellen wie Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu u.a. 1997 [1993]) organisiert, blieb aber gleichwohl ohne Einfluss auf die herrschende Politik. In der veröffentlichten Meinung blieb weitgehend verdeckt, dass die eigentlichen Ursachen des finanziellen Mangels gerade nicht in einer zu geringen, sondern in einer "zu hohen" Produktivität der Arbeit liegen. Es ist das enorme Wachstum der Arbeitsproduktivität, mit dem die Gesellschaft nicht umgehen kann (vgl. Zinn a.a.O). Unter der neoliberalen Sparpolitik wird dieser Überfluss in Überflüssigkeit verwandelt. Es kommt zu einer Art "Überproduktion" von Bildungskapital. Zum einen braucht die Gesellschaft immer mehr Berufe, die eine hohe Fach-bildung, Eigenverantwortung und kommunikative Fähigkeit verlangen. Ihr Anteil ist seit 1950 von etwa 5% auf mehr als 30% gewachsen (vgl. Vester, von Oertzen u.a., a.a.O., S. 407-426). Zum anderen wirkt die Sparpolitik dahin, diese hochproduktive Arbeit unter ihrem Wert zu bezahlen oder die Arbeitsplätze im Wissenschafts-, Bildungs-, Ge-sundheits- und Sozialsystem abzubauen. Ein Beispiel von vielen ist die derzeitige Befristung der Arbeitsverträge der jüngeren Generation des wissenschaftlichen Nachwuchses der Universitäten. Ein Sprecher des Bundesforschungs-ministeriums nannte sie zutreffend "Verschrottung": Hochwertiges investiertes Bildungskapital wird nutzlos. In der Logik der Wirtschaftsentwicklung ist dies keineswegs notwendig. Das Wachstum der Produktivität ist poten-tiell hoch genug, um eine anhaltende Vermehrung von Wohlstand, Sozialausgaben und Arbeitszeitverkürzung fi-nanzieren zu können. Selbst ein moderates Wirtschaftswachstum von 2,5% führt rechnerisch in 28 Jahren zu einer Verdoppelung des Sozialprodukts. Davon wären die steigenden Kosten "des demographischen Problems" (wach-sende Renten), "der Jugend" (Bildungsausgaben) und "der Soziallasten" (Sozial- und Gesundheitsausgaben) durch-aus finanzierbar. Allerdings ist die Produktivität so hoch, dass auch die Erhöhung dieser strukturnotwendigen Aus-gaben heute nicht mehr zur Vollbeschäftigung führen würde (vgl. Zinn a.a.O.). Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass sich weiterhin nach jeder Zwischenkonjunktur eine zusätzlich Erhöhung des Arbeitslosensockels einspielt. Dieser könnte nur noch dann abgebaut werden, wenn in der Tat eine tiefgreifende Arbeitszeitverkürzung mit Einkom-mensausgleich durchgesetzt würde.

3. Von der Integration zu sozialen Schieflagen: Diskriminierung - Abwertung - Prekarisierung - Exklusion

(Teil immer weniger Halt gibt, während sich die Lage der reichen oberen Gruppen - wie bei einer Wippe - immer mehr hebt. Danach wären immer mehr Menschen von der naturgesetzlich eintretenden Katastrophe einer neuen "Proletarisierung" und "Verelendung" bedroht. Bei genauer Analyse ergibt sich ein anderes Bild, das eines Eisbergs mit mehreren, qualitativ durchaus verschiede-nen Stufen, die nicht automatisch ineinandergleiten. Die sichtbare Spitze des Eisbergs bilden diejenigen, die relativ umfassend und dauerhaft sozial ausgeschlossen sind. Seit den siebziger Jahren sind in wachsendem Umfang auch Gruppen der gut ausgebildeten soziale Mitte von der Abwertung der Arbeitskraft betroffen. Die Betroffenen lassen sich in vier spezifische Konstellationen sortieren, deren Größenordnungen hier nach der Caritas-Studie geschätzt sind: Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit nach Geschlecht, Herkunftsland, Altersgruppe usw.; Entwertung des Arbeitsvermögens gut qualifizierter Arbeitskräfte durch Umstellungen und diskontinuierliche Be-rufswege für etwa 25-30%; Prekarisierung, d.h. Absinken in ungesicherte Arbeitsverhältnisse bzw. Schieflagen mit Armutsrisiko bei etwa 25-30%; Exklusion, d.h. dauerhafte Ausschließung aus dem Arbeitsmarkt bzw. in benachteiligten Wohnvierteln für etwa 10%. Die erste Schieflage, die soziale Diskriminierung, wird seit den siebziger Jahren verstärkt unter dem Namen "neue soziale Frage" (vgl. Geißler 1976) oder "neue soziale Ungleichheiten" (vgl. Hradil 1987) diskutiert. Frauen, Ältere, Ju-gendliche, Zuwanderer und auch Neuaufsteiger aus bildungsfernen Milieus waren von den Stellenkürzungen und Einkommensdämpfungen stärker betroffen, solange sie im sozialen Aushandlungssystem schlechter durch Interes-senverbände und Rechtsgarantien vertreten waren. Die Frauen steigerten zwar ihre Teilnahme am Bildungssystem und an der Erwerbstätigkeit erheblich, wurden aber trotz verbesserter Interessenpolitik dort weithin auf ungünstige Positionen abgedrängt. Durch diese Erfahrung sehen sich viele Angehörige auch mittlerer und gehobener Milieus von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit ausgeschlossen. Die zweite Schieflage, die Entwertung des Arbeitsvermögens der Arbeitnehmer mit guter Fachqualifikation und In-teressenvertretung, entwickelte sich in größerem Maßstab erst nach 1980, als die Krise vermehrt die Trägerbran-chen des früheren Wirtschaftswunders erreichte. Die Unternehmen senkten die Kosten mit Rationalisierungen und vermehrt mit neuen arbeitssparenden Technologien. Das höhere Angebot an guten Fachkräften veränderte die be-triebliche Beschäftigungspolitik (vgl. Sopp/Konietzka 1998). Qualifizierte Stammbelegschaften wurden durch "down-sizing" "verschlankt, da - gerade wegen der ständig verbesserten Fachausbildung - bei Bedarf genügend qualifizierte Kräfte extern angeworben werden konnten. Die statistischen Durchschnittswerte täuschen über das Ausmaß der Diskontinuität sozialer Lagen. So lag 1977 bis 1988 die Arbeitslosigkeit zwar "nur" um zwei Millionen. Aber in der gleichen Zeit machten 13 Millionen Menschen, annähernd jede zweite Erwerbsperson, die Erfahrung ei-ner vorübergehenden Arbeitslosigkeit (vgl. Berger a.a.O.). Die Betroffenen fanden aufgrund guter Qualifikation zwar wieder Beschäftigung, jedoch oft um den Preis geringeren Einkommens und erhöhter Belastungen an Flexibilität, Pendlerwegen, Mehrarbeit und Abwesenheiten von der Familie. Die Schließung der Chancen traf zunehmend auch die Neuzugänge des Arbeitsmarktes. Neben die sichere Normal-biographie der Industriegesellschaft traten immer mehr diskontinuierliche Lebensläufe, in denen Ausbildungen, Prekarität und Erwerbslosigkeit einander abwechselten (vgl. Berger/Hradil (Hrsg.), 1990). Viele investierten immer wieder in Weiterbildungen, Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen, Stellenvertretungen usw., um sich nach und nach in feste Beschäftigungen "hineinzuschrauben" - ohne aber sicher zu sein, ob der Stein, den sie emporgewälzten, nicht wieder zurückrollte. Von der dritten Schieflage, dem Wohlstand auf Widerruf oder "prekären Wohlstand", sind seit den neunziger Jahren, als die internationale Konkurrenz sich weiter verschärfte, auch zunehmend Angehörige der sozialen Mitte betroffen. Für gut 25% wurden einzelnen Standards der sozialen Lage (Berufsstellung, Einkommen, Wohnweise, Familien- und Gesundheitssituation usw.) so instabil, dass ein alltäglicher Schicksalsschlag mindestens vorübergehend unter die Armutsgrenze führen konnte. Dies traf bestimmte "Risikogruppen" (insbesondere Rentner, Alleinerziehende, Kin-derreiche, Scheinselbständige, Kranke und Behinderte), die wenig soziale Netze oder "soziales Kapital" (Bourdieu) besitzen. Die vierte Schieflage, die Deklassierung durch dauerhafte Armut oder Arbeitslosigkeit, unterscheidet sich zwar von der historischen Gestalt einer flächendeckenden Proletarisierung der ungelernten Arbeiter. Sie hat bisher eine insu-lare Struktur von verarmten und sozialmoralisch ausgegrenzten Einzelnen, die sich allerdings in bestimmten Wohn-vierteln der Großstädte, den sog. "sozialen Brennpunkten", und in Formen der Anomie und der Jugendgewalt ge-gen Fremde verdichten. Die zunehmende Abwälzung der Sparpolitik auf die Sozialpolitik der Gemeinden und Kreise verschärft diese Situation.

4. Die Krise der politischen Repräsentation: Zu wenig Leistungsgerechtigkeit und Bürgerbeteiligung

"Politiker können versprechen, was sie wollen, ich glaube ihnen nicht mehr." Dieser Feststellung, Ausdruck der sog. "politischen Verdrossenheit", stimmen seit Beginn der neunziger Jahre mehr als 60% der Bevölkerung zu. Politiker sehen die Motive häufig in einer "materialistischen" Mentalität des Habenwollens. Die Wähler seien von der "Hän-gematte" des Wohlfahrtsstaats verwöhnt und könnten nicht verstehen, dass sie heute mehr Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft zeigen müssten. Differenzierende Befragungen belegen dagegen, dass die Milieus sehr wohl fähig und bereit sind, sich auf das von der Modernisierung der Produktivkräfte in der Tat geforderte Mehr an eigenverantwortlichem Handeln, an beruflichem Umlernen und an vernetzender Kommunikation umzustellen. Verdrossen sind sie darüber, dass diese Bereitschaft nicht gerecht und leistungsgerecht motiviert und belohnt und in ihren sozialen Risiken abgesichert wird. Im Einzelnen und im zeitlichen Vergleich lässt sich dies an den Ergebnissen von zwei bis in feine Details differenzier-ten repräsentativen Erhebungen aus den Jahren 2000 und 1991, an denen wir beteiligt waren, darstellen. Die Befra-gung "Deutschland im Wandel", gefördert vom Bundesverband Deutscher Banken, wurde im November 2000 von ipos (Mannheim) durchgeführt und im Deutschland-Trendbuch dokumentiert (vgl. Korte/Weidenfels (Hrsg.) 2001, S. 675-711 u. S. 160-171). Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe von 1.502 wahlberechtigten Bundesbürgern aus Westdeutschland (79,9%) und Ostdeutschland (20,1%). Die zum Vergleich herangezogene Befragung "Gesell-schaftlich-politische Milieus in Westdeutschland", gefördert von der Volkswagen-Stiftung, wurde im Juni und Juli 1991 von Marplan (Offenbach) durchgeführt und ist ausgewertet in Vester, von Oertzen u.a., a.a.O.. Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe der deutschsprachigen Wohnbevölkerung in Westdeutschland und Westberlin (n = 2.699). - Die Ergebnisse sind in den Größenordnungen für Westdeutschland annähernd vergleich-bar. Wenn die Ergebnisse für Ostdeutschland abweichen, wird darauf hier besonders hingewiesen Diese Befragun-gen unterscheiden sich von der gängigen politischen Meinungsforschung. Sie zielten nicht auf kurzfristige Sympa-thiewerte, sondern auf die unterschiedlichen Grundeinstellungen der großen gesellschaftlichen Gruppen, die nach der Methodik von Bourdieu nach Typen aufgeschlüsselt und sehr genau ausgeleuchtet wurden. Die Ergebnisse der Befragung bestätigen keineswegs die gängige These, dass die Grundeinstellungen der Wähle-rinnen und Wähler kurz- und mittelfristig stark schwanken und durch geschickte Medienauftritte der Politiker belie-big beeinflusst werden können. Die Grundvorstellungen sozialer Gerechtigkeit ändern sich vielmehr sehr langsam, vor allem im Rhythmus des Generationenwechsels. Für jede Generation und für jedes Milieu fungieren sie als lang-fristig stabile Maßstäbe, nach denen Erfahrungen bewertet und die sich wandelnden sozialen Verhältnisse beurteilt werden. Die Perspektive derjenigen Politiker, die vom raschen Meinungswandel ausgehen, gleicht der von Zugpassagieren, die meinen, der Bahnsteig fährt ab, während es doch die Züge sind, die sich bewegen. Ähnlich scheint es sich bei der Beurteilung der sog. "politischen Verdrossenheit" zu verhalten. Um 1980 hatte sie noch wenig über 10% gele-gen, 1991 war sie, allen Umfragen zufolge, auf 60% gestiegen, und auf diesem Pegel verharrt sie und verfestigt sie sich bis heute. Waren es nun die Wählerinnen und Wähler, die sich verändert haben, oder die Politik? Die nachfolgend kurz resümierten Befragungsergebnisse zeigen den Vorgang aus der Perspektive der breiten Be-völkerung. Sie fürchtet, um im Bilde zu bleiben, den Zug zu verpassen oder schlecht transportiert zu werden. Dabei richtet sich ihr Verdruss, wie die Befragungen auch belegen, nicht auf die Institution der Bahn, sondern auf ihr lei-tendes Personal. Das heißt, das politische Misstrauen stellt die bisherige Demokratie- und Sozialverfassung der Bundesrepublik nicht grundsätzlich in Frage, sondern nur die Haltung der politischen Klasse bei der Weiterentwick-lung des Sozialmodells. Die politischen und sozialen Institutionen finden in ihrem Kern eine sehr hohe Akzeptanz, die bis zu 90% reicht. Aber die Tugenden der Verantwortung, Beweglichkeit und Vernetzung, die den Bürgern ab-verlangt werden, werden in der Politik vermisst.

5. Zufriedenheit mit dem institutionellen Modell - Zweifel an sozialer Gerechtigkeit und Bildungschancen

Das erste Hauptergebnis der Befragungen zeigt, dass - anders als 1933 - die Institutionen der Demokratie und des Sozialstaats von einer überwältigenden Mehrheit nicht in Zweifel gezogen werden. Der Verdruss richtet sich viel-mehr auf die von der Politik verantworteten Schieflagen sozialer Gerechtigkeit, und zwar nicht nur auf unsichere materielle Standards, sondern zunehmend auf die Unsicherheit im Alter, in der Leistungsgerechtigkeit und - lange vor der PISA-Studie - vor allem bei den Bildungschancen. Insgesamt erwies sich in der Befragung von 2000 eine bemerkenswert große Mehrheit von 68% "eher zufrieden" mit der "Demokratie in Deutschland". Jedoch bedeutete dies keine kritiklose Zustimmung: "Besonders stolz" auf die "Er-rungenschaft" der "demokratischen Ordnung" waren nur 40% der Befragten. Die übrigen 60% sind also auf die de-mokratische Ordnung eher weniger stolz, und zwar insbesondere Gruppen in sozialen Schieflagen oder mit unsi-cheren Zukunftsperspektiven: die Frauen, die einfachen und die qualifizierten Arbeiter, die Ostdeutschen und die Jüngeren bis 24 Jahre. Die Gründe dieser Skepsis lagen dabei nicht so sehr in der Sozialordnung als solcher. Diese fand vielmehr eine hohe Akzeptanz: 57% waren "besonders stolz" auf die "Errungenschaft" des "sozialen Friedens". Diese breite Akzeptanz zielte nicht zuletzt auf das grundlegende Aushandlungsmodell zwischen Kapital, Arbeit und Staat. So meinte eine überwältigende Mehrheit von 83%, "daß wir heute noch Gewerkschaften ... brauchen". Selbst von den Selbständi-gen stimmten dem noch 70% zu - sowie von den Sympathisanten der CDU/CSU 76%, der FDP 76%, der Grünen 81%, der SPD 89% und der PDS 91%. Dies entsprach einem vergleichbaren Ergebnis von 1991. Hier fand das Modell der Arbeitnehmergesellschaft bzw. der sozialen Marktwirtschaft mit seinen Ansprüchen auf Vollbeschäftigung und sozialen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit eine sehr hohe allgemeine Zustimmung von 78% bis 95% in allen Milieus, außer im Konservativ-technokratischen Milieu, das aber immerhin auch mit 60% zustimmte. - Der in der Geschichte der Bundesrepublik erkämpfte institutionelle Grundkonsens ist offensichtlich fest im Alltagsbewusstsein der Bevölkerung verankert. Die Skepsis bezog sich also insgesamt weniger auf die gesellschaftspolitische Ordnung als auf die Performanz der Politiker. Es war schon bemerkenswert, dass die von Helmut Kohl geführte konservativ-liberale Koalition die erste Regierung der Bundesrepublik war, die nicht durch den Seitenwechsel einer Koalitionspartei, sondern - aufgrund sozialer Enttäuschung - von den Wählern direkt abgewählt wurde. Ebenso bemerkenswert ist es aber, dass es der seit 1998 amtierenden rot-grünen Regierung nicht gelungen ist, die Enttäuschung in eine Mobilisierung für ein re-formiertes Sozialmodell umzuwandeln. Nur 20% meinten im Jahre 2000, dass es unter der rot-grünen Bundesregie-rung mehr soziale Gerechtigkeit als unter Helmut Kohl gebe. 11% meinten das Gegenteil und 61% sahen keinen Un-terschied. 54% meinten, daß es in unserer Gesellschaft eher sozial ungerecht zugeht. (Auch hier lagen die erwähn-ten benachteiligten Gruppen über dem Durchschnitt.) Die Gründe hierfür waren in der Sozialpolitik, in der Arbeitslosigkeit und im Problem der Leistungsgerechtigkeit zu finden. In der Sozialpolitik schien auf den ersten Blick keine extreme Unzufriedenheit zu bestehen. Den Umfang der bisher bestehenden Sozialleistungen fanden die meisten gerade richtig (48%), viele zu klein (28%) und nur wenige zu groß (17%). Das Bild ändert sich, wenn wir einzelne Felder der Sozialpolitik unterscheiden. Unzufrieden mit der sozialen Absicherung bei Krankheit waren 29%, mit der sozialen Absicherung im Alter 50%. Am größten war die Unzufrie-denheit aber bei den Bildungsausgaben. 65% fanden sie zu niedrig, nur 24% gerade richtig. Die hohe Unzufriedenheit mit den Bildungsinvestitionen verweist auf die auch schon im Jahre 2000 vorhande Bri-sanz des Bildungsthemas, die von der Politik erst seit dem Schock der PISA-Studie im Sommer 2002 erkannt worden ist. Dabei war das Bewusstsein gerade in den bildungsnahen Gruppen im Jahre 2000 schon hochentwickelt: Über-durchschnittlich hohe Unzufriedenheit mit den Bildungsausgaben äußerten die unter 25-jährigen (74%), die unter 35-jährigen mit Hochschulreife (78%), die leitenden Angestellten und Beamten (75%) und die politisch Interessier-ten (76%) sowie die Anhänger der liberalen und sozial-progessiven Parteien (FDP 73%, PDS 78%, Grüne 87%). Die Sorge um die Sicherheit der Arbeitsplätze und der Einkommen zeigt ebenfalls eine Stufung der Betroffenheit. Die Arbeitslosen (etwa 10%) bildeten dabei nur die Eisbergspitze. Hinzu kamen weitere 18%, die ihren Arbeitsplatz für gefährdet hielten. Die Summe beider Gruppen entspricht der Zahl derjenigen, die sich in der Befragung beson-ders besorgt um die Arbeitslosigkeit bzw. deren soziale Absicherung zeigten (33% bzw. 28%). Weiter, auf etwa 56% der Bevölkerung, wächst der Eisberg, wenn wir die Zweifel an der Leistungsgerechtigkeit be-trachten. Den Befragten wurde die Behauptung "Die meisten, die heutzutage im Leben nichts erreichen, sind selber schuld" vorgelegt. 54% lehnten diese sozialdarwinistische These im Jahre 2000 ab, 3% mehr 1991. 56% lehnten die parallele Behauptung ab: "Wenn jemand genügend leistet, braucht er sich keine Sorgen um seinen Arbeitsplatz zu machen." Dies waren 15% mehr als 1991. Dabei zeigte sich auch eine größere Betroffenheit der Frauen. Die Ableh-nung der Männer war auf 50% (10% mehr), die der Frauen auf 62% (19% mehr) gestiegen. Der Anteil derer, die nun die Annahme, dass Leistungsgerechtigkeit gewährleistet sei, entschieden und nicht nur eher ablehnten, hatte sich sogar auf 22% verdoppelt. - Der Eisbergsockel der Unzufriedenheit hat sich also seit 1991 nicht nur vergrößert, son-dern auch verfestigt. Zu diesem Eisbergsockel gehört nicht zuletzt das Misstrauen in Zukunftsperspektiven. 42% meinten im Jahre 2000: "Ich fürchte, daß ich meinen heutigen Lebensstandard in den nächsten Jahren nicht aufrechterhalten kann." Dies waren 2% mehr als 1991, bei den Frauen sogar 5% mehr. Der Anteil derer, die dem mit Entschiedenheit zustimmten, erhöhte sich um 7% auf 19%. Die Prozentzahlen bestätigen insgesamt zweierlei. Zum einen drehen sich die Sorgen tatsächlich nicht allein um die materiellen Standards, sondern um die Gerechtigkeit der Chancen und der Qualität des Lebens insgesamt. Zur Angst vor Arbeitslosigkeit (28%) und sinkendem Lebensstandard (42%) kommen die Sorgen um die Alterssicherung (50%), die Leistungsgerechtigkeit (56%) und die Bildungschancen (65%) hinzu. Zum anderen sind immer wieder diejenigen Gruppen besonders unzufrieden, die hinsichtlich der Leistungsgerechtigkeit besonders diskriminiert sind: Frauen, Arbeiter aller Qualifikationsgruppen, Ostdeutsche und die jüngere Generation.

6. Kritik an der Performanz der Politiker: Für mehr Demokratie von unten

Der zweite herausragende Befund der Befragungen lag darin, dass das Misstrauen gegenüber den Politikern zwar zugenommen hat, aber bei der großen Mehrheit der Befragten nicht auf einer passiven Erwartung beruhte, ohne Gegenleistung vom Wohlfahrtsstaat versorgt zu werden. Vielmehr war es mit einer wachsenden Bereitschaft zu Leistung und vor allem mehr aktiver politischer Mitwirkung verbunden. Das Misstrauen in die Politiker, das den 60% der mit sozialen Gerechtigkeitsfragen Unzufriedenen entspricht, hat sich seit 1991 von einer verdrossenen Stimmung sichtlich zu einer Grundhaltung der Enttäuschung verfestigt. Zwar hat sich der Prozentsatz derer nicht erhöht, die meinten: "Politiker können versprechen, was sie wollen, ich glaube ihnen nicht mehr." Er liegt bei 63% (vgl. Vester in: Korte/Weidenfels 2001, S. 164). Aber die Zustimmung ist ent-schiedener geworden: Statt 23% stimmten jetzt 31% dem zitierten Satz "voll" und nicht nur "eher" zu. Dabei hatte die nachhaltige Enttäuschung der Frauen die der Männer eingeholt. Sie war um 10% (auf 31%) gestiegen (Männer: um 6% auf 30%). Die politische Kritik richtet sich vor allem gegen undurchsichtige und undemokratische Entscheidungsprozesse. 70% finden es nicht richtig, dass "immer häufiger politische Entscheidungen außerhalb der dafür vorgesehenen Gremien ausgehandelt" werden. 89% bestehen darauf, dass "politische Entscheidungen durch demokratische Ver-fahren zustande kommen". Dabei urteilen die Befragten offenbar weniger politisch-analytisch als von ihrem Ethos aus (vgl. Bourdieu 1982, S. 654-669), d.h. mit einer besonderen moralischen Färbung: 59% finden es richtig, "an Poli-tiker höhere moralische Maßstäbe anzulegen als an andere Menschen". Gleichzeitig gab es eine erstaunliche, seit 1991 verstärkte Mehrheit für eine wesentlich erhöhte Partizipation, d.h. die direkte betriebliche, politische und ehrenamtliche Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Mit anderen Wor-ten: Die Lösung der Krise der Repräsentation sahen viele darin, dass sie weniger an die Repräsentanten delegieren und mehr kraft eigener Kompetenz selbst regeln wollten. 72% (2% mehr als 1991) befürworteten die Forderung "Das Mitspracherecht der Arbeitnehmer an ihrem Arbeits-platz muß sehr viel größer werden." Dabei hatte sich Anteil derer, die "voll" statt "eher" zustimmten, sogar auf 44% verdoppelt. Überdurchschnittlich sind insgesamt die Befürwortungen bei Frauen (79%), Facharbeitern (79%), mittle-ren Angestellte und Beamten (77%), Arbeitslosen (85%) und Ostdeutschen (78%). - 1991 war zum Vergleich auch nach der Befürwortung einer Mitsprache der Gewerkschaften im Betrieb gefragt worden. Sie lag etwa 20 Punkte tie-fer und nur zu 13% bei einer "vollen Zustimmung". Dies war kein schlechtes Ergebnis. Aber ganz offensichtlich wol-len die Befragten ihre Kontrolle öfter lieber selbst ausüben als sie zu delegieren - ein indirekter Hinweis auf einen Mangel an direkten Partizipationsmöglichkeiten in Gewerkschaften. 80% (11% mehr als 1991) befürworteten die direkte Bürgerpolitik: "Wenn man heute als Bürger politisch etwas er-reichen will, muß man die Dinge selbst in die Hand nehmen." Der Feststellung stimmten "voll" zu von allen 49% (30% mehr als 1991), von den Männern 45% (25% mehr) und von den Frauen 53% (35% mehr). Ähnlich tendierten die Antworten zu der Frage "Sollten in dieser Gesellschaft an wichtigen politischen Entscheidungen die Bürger di-rekt beteiligt werden, oder sollten dafür die gewählten Politiker verantwortlich sein?" 66% befürworteten eine sol-che Bürgerbeteiligung, überdurchschnittlich vor allem Befragte unter 40 Jahren. Bezeichnend ist auch, dass trotz der sog. Verdrossenheit das politische Desinteresse abgenommen hat. Statt 66%, wie 1991, meinten nur noch 52%: "Für mich gibt es wichtigere Dinge zu tun, als sich um Politik zu kümmern." Der Anteil derer, die Politik eher für wichtig halten, ist um 13% auf 47% gestiegen. 28% geben an, eine unentgeltliche soziale oder karitative Tätigkeit auszuüben, und zwar Männer und Frauen prak-tisch gleich. Eine andere ehrenamtliche Tätigkeit, z.B. in einem Verein oder einer Partei, geben 29% an, und zwar 38% der Männer und 21% der Frauen. Insgesamt bestätigen die repräsentativen Daten das hohe Gewicht der Unzufriedenheit mit qualitativ-partizipatorischen Standards im Vergleich zur Unzufriedenheit mit quantitativ-materiellen Standards der Lebens-weise. Die Zweifel an der Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit sind dabei überdurchschnittlich hoch bei den Frauen, bei den einfachen Arbeitern und den Facharbeitern, bei den Befragten ohne (oder ohne sicheren) Arbeits-platz und bei den Ostdeutschen, teilweise auch bei der jüngeren Generation.

7. Chancen eines integrativen Sozialmodells

Im Dezember 2000 berichtete "Die Zeit" über eine Studie, die vor allem die autoritäre und ausländerfeindliche Ver-arbeitung der sozialen Unsicherheiten betont. Dies signalisierte schon der Titel: "Starke Hand gesucht. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt: Autoritäre Einstellungen und Angst vor den Fremden steckt auch in den Köpfen der bürgerlichen Mitte". Die Studie, so hieß es, "untermauert die Annahme, daß in der Bundesrepublik nach wie vor eine stark autoritäre Mentalität zu Hause ist - im Osten wie im Westen, in Unter-, Mittel- und Oberschichten."(Vgl. Hofmann, Die Zeit, 20.12.2000, S. 7) Auch unsere Befragung verwies auf ein nicht geringes autoritäres Potential. Jedoch ließ sich dieses genauer in be-stimmten gesellschaftspolitischen Lagern lokalisieren, die wir in der Landkarte der sozialen Milieus einordnen kön-nen (Abb. 3). Demnach sind die bedrohlichen autoritären Potentiale nicht überall, wie suggeriert wird, sondern in ganz bestimmten Milieus am rechten und unteren Rand der sozialen Landkarte zu finden: im sog. "Enttäuscht-autoritären Lager" mit doch immerhin 27% der Bevölkerung. Dieses Potential flottiert auch nicht frei, beliebig von rechten Demagogen mobilisierbar, sondern es ist mehrheitlich noch von den großen Volksparteien gebunden. Aber diese Bindung ist, wie die Wahlerfolge des Rechtspopulismus zeigen, nicht mehr sicher, vor allem solange die Politik die Modernisierungsverlierer vernachlässigt. [Abb. 2 Die gesellschaftspolitischen Lager im sozialen Raum] Die Verortungen drücken den Spagat aus, den die politischen Parteien bewältigen müssen, wenn sie ihre Klientel aus den verschiedenen Milieus und Lagern mobilisieren und repräsentieren wollen. Vor allem die großen Volkspar-teien müssen ihre Anhänger jeweils aus mehreren Lagern schöpfen, wenn auch mit gewissen Schwerpunkten. So kann z.B. die CDU/CSU die Arbeitnehmer aus den konservativeren Milieus und Lagern mobilisieren, aber, über den modernen CDU-Flügel, auch einen Teil der moderneren Arbeitnehmer. Spiegelbildlich kann die SPD vor allem Ar-beitnehmer aus moderneren Milieus und Lagern mobilisieren, aber, über den rechten SPD-Flügel, auch einen Teil der konservativen Arbeitnehmer. Die nachlassende Integrationskraft der oberen Milieus - die Krise der politischen Repräsentation - drückt sich in vier Tendenzen aus. - Die beiden konservativen Kernlager (TKO und GKO) erreichen mit gut 30% zwar noch weitgehend die kon-servativen Arbeitnehmermilieus, erodieren aber deutlich infolge modernerer Bildung und Lebensstile. - Das ökologisch und zivilgesellschaftlich orientierte Radikaldemokratische Lager (RAD) hat infolge elitärer und teilweise neoliberaler Orientierungen nur Bindekraft für gut 10%, in den oberen Milieus. Es hat sich als "Leitmi-lieu" ungeeignet erwiesen. - Die beiden Lager der solidarischen Sozialmodelle (SOZ und SKED) sind mit mehr als 30% gut in den großen moderneren Arbeitnehmermilieus verankert, aber vom Abbau sozialer Sicherungen und vom gesellschaftspoliti-schen Kurs der politischen Eliten tief enttäuscht. - Für mehr als ein Viertel der Westdeutschen (EA) besteht die Bindekraft der großen Parteien nur noch äußer-lich. Sie sehen ihre Ansprüche gegenüber dem Staat enttäuscht und fühlen sich von den Modernisierern im Stich gelassen. Sie verarbeiten dies mit autoritären Ressentiments und rechtspopulistischen Sympathien. (Abbildung 3: Gesellschaftspolitische Lager und soziale Orientierungsmodelle in der Bundesrepublik) Die zentrifugalen Tendenzen beruhen auf der Seite der popularen Milieus in einer verfestigten Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Eliten, den gesellschaftspolitischen Umbau als eine Kombination von marktgerechter Flexibilität und sozial gerechter Risikosicherung zielsicher anzupacken. Die Eliten sind unter der Kanzlerschaft Gerhard Schrö-ders letzthin responsiver geworden, sie reagieren stärker auf Unzufriedenheit. Aber ihnen fehlen Perspektiven, die neoliberale Sparpolitik von Maastricht zu beenden und die verschiedenen Ansprüche und Sozialmodelle der sechs Lager zu integrieren. Möglich wäre dies durchaus. Die Befragungsdaten zeigen nicht nur, dass die sozialen Milieus das sozialstaatliche Modell der Bundesrepublik immer noch zu gut 80% gutheißen. Sie zeigen auch, dass die verschiedenen sozialen Ordnungskonzepte der Lager (Abb. 3) einen gemeinsamen Nenner haben. Die Solidaritätsmodelle überwiegen mit 49%. Es sind solche Modelle, für die Solidarität und Eigenverantwortung zusammengehören und nicht - wie in neo-liberalen oder protektionistischen Sozialmodellen - gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Beide Elemente - So-lidarität und Eigenverantwortung - könnten entweder unter konservativem oder unter sozialdemokratischem Vor-zeichen in dem Integrationskonzept eines "partizipatorischen Wohlfahrtsstaats" zusammengefaßt werden (vgl. Vester in: Korte/Weidenfels 2001, S. 172-180). Die große Minderheitsgruppe der Modernisierungsverlierer von 27%, die ein protektionistisches Modell gutheißt, könnte durch eine Politik sozialer Mindestgarantien ins Boot geholt und dem Rechtspopulismus abspenstig gemacht werden. Die kleine Minderheitsgruppe der Radikaldemokraten (11%) ist sozial so gut gestellt, dass ihnen keine exzessiven Konzessionen gemacht werden müssen, zumal sie eine partizi-patorische Gestaltung des Wohlfahrtsstaates attraktiv finden würden. Stattdessen üben die Regierenden weiterhin Druck auf das korporative Aushandlungssystem und die Parlamente aus, um ihre beiden seit 1999 verfolgten Hauptprojekte Schritt für Schritt voranzubringen: die Institutionalisierung eines prekären Sektors am unteren Rand des Arbeitsmarktes, die die Arbeitslosen und Arbeitsunwilligen mobilisie-ren soll, und Reformen des Bildungssystems, von denen immer noch nicht klar ist, ob sie auf eine selektive Förde-rung der bisher bevorzugten Bildungsschichten oder auf eine breite Förderung der benötigten Bildungsreserven, wie sie die meisten anderen Länder betreiben, hinauslaufen soll. Diese Doppeldeutigkeit entspricht dem Spagat zwischen den Teilen der Elitemilieus, die neoliberalen Projekten der Risikoverlagerung nach unten zuneigen, und den großen Volksmilieus, für die Eigenverantwortung und Solidarität zusammengehören. Diese Elitemilieus können die Volksmilieus weder hinreichend politisch repräsentieren noch hinreichend zur Wahl mobilisieren, wenn sie nicht die Möglichkeit eines neuen historischen Kompromisses nutzen.

Literatur

Peter A. Berger, Individualisierung. Statusunsicherheit und Erfahrungsvielfalt, Opladen 1996. Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1982, S. 654-669. Pierre Bourdieu, Pierre u.a., Das Elend der Welt, Konstanz 1997 [1993]. Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln und Hagen 1949; Dahrendorf, Ralf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957. Heiner Geißler, Die neue soziale Frage, Freiburg i.Br. 1976. Gunter Hofmann, Starke Hand gesucht, in: Die Zeit, 20.12.2000, S. 7. Stefan Hradil, Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft, Opladen 1987. Werner Hübinger, Prekärer Wohlstand, Freiburg i.Br. 1996. Karl-Rudolf Kortef/Werner Weidenfeld, Werner (Hg.), Deutschland-TrendBuch, Opladen 2001, S. 675-711; Peter Sopp/Dirk Konietzka, Gespaltener Arbeitsmarkt - Ausgeschlossene Individuen, Vortragsms., 1998. Edward Palmer Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a.M. 1987 [1963]). Michael Vester, Milieus und soziale Gerechtigkeit, in: Korte/Weidenfeld, a.a.O., S. 160-171). Michael Vester, Peter von Oertzen u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a.M. 2001, Karl Georg Zinn, Wie Reichtum Armut schafft, Köln 1998, S. 55, 75. Prof. Dr. Michael Vester, Hochschullehrer an der Universität Hannover. Der Beitrag geht auf einen Aufsatz zurück, der in den Gewerkschaftlichen Monatsheften 8/2002 erschienen ist. SPW: 229