Hannah Arendts Marxkritik*

Im Jahrzehnt nach dem Ende sozialistischer Staatlichkeit in Europa wurde Hannah Arendts Werk noch einmal zum Schauplatz einer Auseinandersetzung mit Marxismus und Sozialismus. ...

... Im Jahrzehnt nach dem Ende sozialistischer Staatlichkeit in Europa wurde Hannah Arendts Werk noch einmal zum Schauplatz einer Auseinandersetzung mit Marxismus und Sozialismus. Die Rezeption nahm dabei nicht selten Züge an, die Arendt selbst während der McCarthy-Zeit in ihrem Essay Gestern waren sie noch Kommunisten als ‚gefährliche Zeiterscheinung‘ kritisiert hatte. Ausgerechnet das Werk Arendts, die 1949 jene konvertierten ‚Anti-Stalinisten‘ verhöhnte, in deren Milieu es nun ebensolchen Mutes bedurfte, den Namen Marx nur auszusprechen, wie ehedem zu sagen, er habe nicht alle Welträtsel gelöst, mußte mitunter dazu herhalten, in peinlichen Schaustellungen "öffentlich dramatische Bekenntnisse" abzulegen oder sich mit "Spezialkenntnissen im Kampf gegen die totalitäre Bedrohung" reputierlich zu machen.1 Inzwischen verebbt dieses Genre. Momentan tendiert die Arendt-Rezeption eher dazu, einzelne ihrer Denkfiguren, abgelöst von den historischen Erfahrungen, in griffige Münzen zu verwandeln. Beide Behandlungsarten werden Arendt nicht gerecht. Aus historischer Distanz wird dagegen um so deutlicher, welchen Stellenwert gerade das Marxthema für ihr Denken hatte. Obwohl bereits Elisabeth Young-Bruehl die Bedeutung der Marx-Studien für Arendt biographisch herausgestellt hat, folgen die Vita activa-Interpretationen meistens der geschichtsphilosophischen Darstellung Arendts, nicht dem historischen Ausgangspunkt.2
Nach Beendigung der Origins of Totalitarism (1951) arbeitete Arendt an einem großangelegten Buch mit dem Titel Totalitäre Elemente des Marxismus. Während sie den ‚Tiefenweg‘ des NS-Totalitarismus (Nationalstaat, Imperialismus, Antisemitismus) rein ereignisgeschichtlich behandelte und es ablehnte, ihn geistesgeschichtlich zu adeln, sah sie im Marxismus das einzige Element des Totalitarismus, das eine ehrbare Tradition hinter sich habe und dessen kritische Diskussion eine Kritik der Hauptthesen der politischen Philosophie des Westens erfordere. Sie hält es für ebenso lächerlich, Nietzsche für den Nationalsozialismus wie Marx für den Stalinismus verantwortlich zu machen. Beide, wie auch Kierkegaard, sind für sie Rebellen, die einen Traditionsbruch kenntlich gemacht und ‚ohne Geländer‘ zu denken versuchten. Der ‚Höhenweg‘ beginnt für sie mit der politischen Philosophie Platons, er führt bei Kant zum Traditionsbruch und mündet bei Marx in eine Widersprüchlichkeit, die keinem zweitrangigen Denker unterlaufe. Bei ihren Studien zur Arbeiterbewegung und zum Marxschen Arbeitsbegriff stößt Arendt wider Erwarten auf größere Themen: auf die Umkehrung der traditionellen Wertehierarchie, den Niedergang des Nach- und den Aufstieg des Prozeßdenkens, die Abwertung der vita activa zugunsten der vita contemplativa. Von solchen Reflexionen ausgehend, nimmt das geplante Marx-Buch unversehens andere Formen an. Aus der Untersuchung des Arbeitsbegriffs wird die Vita activa (1958), aus der Geschichte des Marxismus von 1870 bis 1917 das Buch On Revolution (1963). Die Marx-Studien bilden also eine wesentliche Klammer ihrer drei berühmtesten Bücher und führen Arendt nach 20jähriger Unterbrechung zugleich zur Philosophie zurück.
Arendts Zugang zu Marx ist wie ihr gesamtes Denken politisch motiviert. Als Jüdin ins Exil gezwungen, hat sie 1933 - nicht zuletzt bedingt durch das Verhalten ihres Lehrers Heidegger - auch als tiefe Krise der unpolitischen Mandarin-Existenz erfahren. Sie selbst betont, daß ihre literarische Existenz von nun an darauf beruhte, politisch und historisch sehen gelernt und sich an der Judenfrage orientiert zu haben.3 Nach 1933, nach kurzzeitiger Inhaftierung und Exil, hat Arendt vor allem praktisch-politisch gearbeitet: in Pariser jüdischen Hilfsorganisationen, als linke kritische Zionistin und Publizistin in den USA. Noch 1964 lehnt hat sie den Titel einer Philosophin ab und versteht sich als politische Theoretikerin. Arendt, die gern die Kantsche Kritik-Metapher der Grenzberichtigung verwendet, vermißt im Augenblick der Gefahr das Gebiet der Philosophie von außen. Daher rührt ihre Affinität für Philosophen wie Marx, die ihr eigenes Terrain praktisch zu überschreiten versuchen.
Während ihrer Arbeiten über Marx begegnet Arendt erneut Heidegger. Über seine philosophischen Arbeiten ist sie unterrichtet. Sie weiß, daß seine Kehre von Nietzsches Umdrehung des Platonismus ausgeht. Was Heidegger als Krise der Metaphysik behandelt, begreift Arendt als Krise der politischen Philosophie. Es war zwar nie ein Geheimnis, daß Arendts Denken wesentlich durch Heidegger geprägt wurde. Doch die späte Veröffentlichung ihres Briefwechsels hat die Frage nach seinem Einfluß zugespitzt. Bei Erscheinen der Vita activa schreibt Arendt an Heidegger, es sei ein ‚nackter Tatbestand‘, daß das Buch ihm in jeder Hinsicht so ziemlich alles schulde. Aus der ersten Freiburger Studienzeit erwachsen, müßte sie es ihm widmen, wenn zwischen ihnen - und dieses ‚zwischen‘ steht bei Arendt vor allem für das Politische - alles normal verlaufen wäre.4 Um so erstaunlicher ist es, daß sie Heidegger in Vita activa an keiner Stelle erwähnt. Es ist verführerisch, die persistierende Liebe Arendts zu Heidegger philosophisch zu werten. Dieser zweifelhaften Versuchung soll hier nicht nachgegeben werden. Zumal dann auch Heinrich Blücher einbezogen werden müßte, ihr Ehemann und geläuterter Kommunist, der in Marxistica für Arendt, die selbst einem sozialdemokratischen Elternhaus entstammt, Autorität war. Es kann allein um den sachlichen Gehalt gehen. Dabei stellt sich die Frage, wie sich Arendts grundsätzliche Kritik an Heideggers politischem Versagen mit ihrer emphatischen Reminiszenz verbindet. Gerade die jüngst erschienen Denktagebücher zeigen, daß die Marxkritik und die intensive Auseinandersetzung mit Heidegger nicht nur simultan verlaufen, sondern auch in einem Zusammenhang wechselseitiger Destruktion stehen. Nach den Denktagebüchern läßt sich Vita activa geradezu als die ungeschriebene Marx-Kritik Heideggers lesen. Zugleich werfen die Arbeitsbücher ein schärferes Licht auf Hannah Arendts Marx-Lektüre, die sich auf die Jahre 1951 bis 1954 konzentriert. Arendt hatte offensichtlich zunächst ein gründliches Marx-Studium vor; ihre Lektüre beginnt mit MarxÂ’ frühem Aufsatz über das Holzdiebstahlsgesetz, die meisten textorientierten Notizen beziehen sich auf die Anfangskapitel des Kapital.
Arendt verarbeitet also in dieser Phase zwei höchst gegensätzliche philosophische Strömungen des 20. Jahrhunderts. Sieht man Marx und Heidegger als die kritischen Pole ihres Denkens und das Politische als ihr zentrales Thema an, so möchte ich es von ihrer Marxkritik aus vermessen. Eine These ist dabei, daß Arendts Kritik an Marx im Kern eine scharfe Kritik der bürgerlichen Ökonomie ist, ihr Politik- und Handlungsbegriff aber zugleich auf den kritisierten Verhältnissen beruht. Ich werde dabei zunächst die beiden zentralen philosophischen Probleme der Marx-Kritik hervorheben: erstens das Verhältnis von Geschichtsdeterminismus und politischer Freiheit, zweitens die Beziehung zwischen Politik und Philosophie. Danach werde ich drittens auf Arendts zentralen Begriff des Handelns eingehen, der die gerade bei Marx aufscheinenden Defizite einlösen soll. Viertens möchte ich mit Flores dÂ’Arcais als den Kern ihrer Philosophie einen ‚libertären Existenzialismus‘ herausstellen und dessen Quellen aufzeigen.5 Erst nach dieser Historisierung kann sinnvoll nach der Aktualität von Arendts Denken gefragt werden.

Geschichtsdeterminismus und Freiheit. Oder Kritik der Arbeit als Paradigma der Praxis
Die Leitfrage der Vita activa ist die nach dem, was wir tun, wenn wir tätig sind. Ausgehend von Bedingtheiten menschlicher Existenz - zu ihnen zählen Leben und Welt, Natalität und Pluralität - unterscheidet Hannah Arendt Arbeiten, Herstellen und Handeln zunächst in ihrer antiken Differenz und Hierarchie. Das Arbeiten ist letztlich Mittel der biologischen Reproduktion, dem endlosen Kreislauf von Produktion und Konsumtion unterworfen, und bringt keine dauerhaften Dinge hervor. Die Tätigkeit des animal laborans vollzieht sich in der Antike jenseits der Öffentlichkeit, sie bleibt im Hauswesen verborgen. Vom Arbeiten unterscheidet Arendt das Herstellen. Kriterium dafür ist zunächst die Dauerhaftigkeit des produzierten Gegenstandes. Den homo faber zeichnet aus, daß er menschliche Zwecke gegen die Widerstände der Natur verwirklicht. Seine Werke schaffen die Vertrautheit der Welt. Im Unterschied zur infinit-zyklischen Arbeit ist das Herstellen eine gerichtete Tätigkeit mit Anfang und Resultat. Wie für die Arbeit die Haus- und Landwirtschaft, so bilden Handwerk und Kunst das Paradigma des Herstellens.
Erst von ihrer nachantiken, bei Marx kulminierenden Dynamik her wird der Sinn dieser Unterscheidungen plastisch. Marx ratifiziere die neuzeitliche Tendenz, die Differenz zwischen Arbeiten und Herstellen einzuebnen. Der Arbeit werden Qualitäten des Herstellens zugeschrieben, dadurch werde sie zugleich glorifiziert. Tatsächlich faßt Marx die Arbeit zugleich als Stoffwechselprozeß von Mensch und Natur wie als Verwirklichung von menschlichen Zwecken. Für Arendt gewinnt damit ein naturalistisch-prozeßhaftes Element Oberhand. Sie beruft sich auf die in der Deutschen Ideologie vorherrschende Vorstellung einer Selbsterzeugung der Gattung durch Arbeit, der Zeugung als erster Arbeitsteilung und der Arbeit als lebendiger Kraft.
Hannah Arendts Kritik an der Entdifferenzierung von Arbeiten und Herstellen läßt sich nicht als eine an Marx allein verstehen. Sie ist zugleich Zivilisationskritik. Es ist nicht ohne Ironie, daß ihre Marx-Kritik im Kern eine Kapitalismuskritik ist. Sie interpretiert Marx, als extrapoliere er nur die Naturtendenz der bürgerlichen Gesellschaft. MarxÂ’ Definition vom animal laborans zeige den Weg in die Gegenwart. Angesichts von Kartellbildungen sagt Arendt: "Das Eigentum von Niemand ist nicht kein Eigentum, sondern verwaltetes, namenloses Eigentum, Kollektiveigentum. Diese Form des Eigentums ist spezifisch für die spät-kapitalistische Entwicklung; Kommunismus ist nur die radikalste Form des Kollektiv-Eigentums. Sie tritt ein, wenn an die Stelle des anonymen Eigentums das Prinzip tritt: das allen alles, also niemandem etwas gehört."6
Arendt unterstellt dabei Marx einen individualistischen Arbeitsbegriff. Erst durch den der Produktion folgenden Tausch werde bei ihm Gesellschaftlichkeit realisiert. Auch hier wirft sie einen kritischen und analytischen Befund dem Theoretiker selbst vor.7 Freilich spricht Marx gerade vom Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und privatkapitalistischer Aneignung. Da Arendts Kritik sich auf die Seite der Arbeit beschränkt, dagegen das Eigentum affirmiert ("Erst mit Eigentum von Dingen beginnt menschliches Leben")8, muß sie den Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert verschleifen. Der Tauschwert selbst sei Gebrauchswert, weil wesentlich für andere produziert werde. Daran knüpft sogar ihr Handlungsbegriff an, den sie ansonsten strikt von der notwendigen Sphäre der Ökonomie zu trennen versucht. "Nur der Tausch setzt das Zwischen als Raum voraus."9
Unter dem Maßstab der Beständigkeit wird Arendt das vorindustrielle Hand- und Kunstwerk zum zeitlosen Muster. Gerade die ökologische Kritik setzt gegen die Produktion von Dingen in ihrer Dauer ihre an Naturkreisläufen abgelesene Nachhaltigkeit. Damit knüpft sie offensichtlich an Heidegger an, dessen Phänomenologie des Zuhandenen, Gestells oder Zeugs analoge Maßstäbe erkennen läßt. In einer Bemerkung zum Brief über den Humanismus erscheint Heideggers Vergegenständlichungsbegriff in äußerster Spannung zum Marxschen: "Heideggers Anliegen, das menschliche Tun ohne ‚das Bewirken einer Wirkung‘ zu denken, außerhalb jeglichen teleologischen Zusammenhangs als reine Tätigkeit. [...] Heidegger denkt hier selbst das Herstellen (von Brot und Wein) noch im Sinne der ‚Handlung‘, während gewöhnlich die Handlung am Modell des Herstellens (Mittel - Zweck) vorgestellt wird."10 Was Heidegger als Daseinsanalytik und ‚Hermeneutik der Faktizität‘ auseinanderlegt, faßt Arendt in der Auseinandersetzung mit Marx historischer. Sie trifft Marx nicht ganz, weil Kategorien wie Arbeit bei ihm historisch-dynamisch gedacht sind. Arbeit nimmt zwar von der Fortpflanzung ihren Ausgang, sie wird aber erst im industriellen Maschinenzeitalter zur nackten, kapitalistischen Arbeit ‚sans phrase‘. Tatsächlich wird, was Arendt phänomenologisch als Arbeiten und Herstellen unterscheidet, von Marx als Einheit gefaßt. Arbeit ist Stoffwechselprozeß mit der Natur und Verwirklichung von Zwecken. Das Verhältnis beider Seiten des Produktionsprozesses entfaltet Marx historisch konkret: erst im kapitalistischen Verwertungsprozeß treten reine physiologische Kraftaufwendung auf der einen, zwecksetzende Tätigkeit auf der anderen Seite auseinander. Die reine physiologische Kraftaufwendung als abstrakte Arbeit drückt sich im Tauschwert, die Realisierung der Zwecke dagegen im Gebrauchswert aus.
Es ist ein Paradox, daß Arendt zwar von der Frage ausgeht, was wir tun, wenn wir tätig sind: die beiden ersten Formen der vita activa (arbeiten und herstellen) aber nicht vorrangig vom Modus der Tätigkeit her unterscheidet, sondern von Differenzen der Vergegenständlichung her. Marx geht vom Produzenten aus, Arendt von der Konsumwelt oder dem Gebrauchswert. "Konsumtion ist immer noch das beste Kriterium, um die Produkte der Arbeit von denen der Herstellung zu trennen."11 Arendt teilt MarxÂ’ Verachtung für die Bourgeoisie, kann aber auch in ihrem Gegenpol, dem Proletariat, keine Alternative entdecken.
Den ersten interessanten Punkt erreicht Arendts Verkehrungsgeschichte, wenn sie zeigt, wie der mit dem Herstellen verbundene Arbeitsbegriff bei Marx auch die einst höchste und dritte Tätigkeitsform der vita activa, das Handeln oder die politische Praxis, unter sich begreift. MarxÂ’ Verlegung der Praxis in die Gesellschaft und die Übertragung von Bestimmungen seines Arbeitsbegriffs auf das Handeln (praxis) hat nach Arendts Prämissen zumindest vier fatale Folgen: 1) die Zweckverwirklichung, beim Herstellen mit stummer gewalttätiger Veränderung der Arbeitsgegenstände und der Überordnung des Zwecks über die Mittel verbunden, impliziere einen Begriff von Politik, der Herrscher und Beherrschte unterstellt und Gewalt affirmiert; 2) der Zweck des homo faber, auf Handlungen überindividueller Subjekte oder die Gattung übertragen, suspendiere Pluralität; 3) da das Herstellen im Resultat zum Abschluß komme, laufe das Modell - übertragen auf die Geschichte - auf deren Ende hinaus; 4) wenn das naturhafte Prinzip der Arbeit und der aus den Wissenschaften stammende Prozeßbegriff zum Modell auch des Handelns, zur Weltgeschichte werde, werde der Ereignischarakter der Geschichte eliminiert, könne sich Freiheit tatsächlich nur noch als Einsicht in die Notwendigkeit realisieren. Dabei bezeichnet für Arendt erst die Amalgamierung des Politischen mit dem Arbeitsbegriff die totalitäre Potenz.
Politisches Handeln, so Arendts Vorwurf, wird also von Marx in die Gesellschaft und damit in den historisch-deterministischen Prozeß aufgehoben. Tatsächlich ist das Desiderat eines positiven Politikbegriffs bei Marx strukturell. Er kennt - und die bis in die Antike zurückreichenden Erfahrungen scheinen ihn ebenso zu bestätigen wie die Staatsrechtstheorien von Hobbes bis Hegel - Politik nur als Klassenherrschaft, Staatsgewalt und Unterdrückung oder als Entfremdung des Allgemeinen vom partikularisierten Einzelnen, so daß die Diktatur des Proletariats als letzte Form der Politik sie zugleich aufheben soll. Aus diesem Primat der Politik gegenüber der Ökonomie entsteht der Effekt, daß Arendt totalitäre Elemente eher bei Marx als bei Lenin ausmacht.12
In der Vita activa entwickelt Hannah Arendt zwei ineinander verschränkte Inversionsgeschichten. Die eine, soeben referierte, handelt davon, wie die Arbeit, in der Antike nicht einmal unter die Tätigkeiten gerechnet, sondern nur Sklaven und Frauen zukommend, zur höchsten Tätigkeit des ‚gesellschaftlichen Menschen‘ erklärt wird. Was Marx als Utopie entwirft, ist für Arendt nur die extrapolierte Naturtendenz der bürgerlichen Gesellschaft. Die andere Geschichte erzählt den bei Platon beginnenden Verfall des bios theoretikos, neben dem Genuß körperlicher Schönheit und dem politischen Handeln die dritte der von Aristoteles dem freien Mann zugerechneten Tätigkeiten.

Déformation professionelle: Philosophie und Praxis
Hannah Arendt geht davon aus, daß die Philosophie als Theorie ursprünglich als Kontemplation und Muße in Abwesenheit von, aber damit in Beziehung auf die Polispraxis hin entworfen worden sei. Mit Sokrates und dem Schock seiner Hinrichtung beginne sich das Gefüge zu verschieben. Für Arendt verbindet sich die Abwendung der Philosophie von dem Politischen mit der Entstehung der Metaphysik. Überspitzt gesagt, beanspruchen nun die Philosophen das Monopol der Interpretation und Totalsicht des Staates, um sich selbst in ihm einen privilegierten und geschützten Platz zu sichern.
Beide Umkehrungen - die genannte und die Aufwertung der Arbeit gegenüber dem Handeln - träten nun bei Marx in offener Widersprüchlichkeit zutage. Denn zwar verherrliche Marx die Arbeit als höchste Tätigkeitsform und Selbsterzeugungsakt der Menschheit. Zugleich begreife er aber im Entwurf der klassenlosen Gesellschaft das ‚Reich der Freiheit‘ als konfliktfreien Ort jenseits der Arbeit, als Muße. Indem Marx die Aufhebung der Philosophie zugleich als ihre Verwirklichung und ihre Verwirklichung als notwendigen Geschichtsprozeß faßt, begründet auch er geschichtsphilosophisch Verhältnisse, in denen gleichsam die alte Philosophenutopie als telos in die Geschichte gespiegelt wird. Diese Muße sei nun nicht das Andere der Praxis, sondern Freiheit oder Freizeit von der Arbeit. "Die klassen- und staatenlose Gesellschaft verwirklicht sowohl die Hauptforderung der gesamten Antike, nicht arbeiten zu müssen, wie die Hauptforderung der Philosophen, sich nicht um Politik kümmern zu brauchen."13 Nach Arendt reproduziert Marx damit die alte Abwertung der vita activa aus der Perspektive der vita contemplativa. Nicht ohne elitär-kulturkritische Züge unterstellt sie, daß die Freizeit als das Andere der Arbeit lediglich zur geistlosen Steigerung des unendlichen Progresses von Konsumtion und Produktion führe.
Auch hier wirft Hannah Arendt Marx nicht zu viel, sondern verfehlte Radikalität vor. Sein Versuch, die Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen, bleibe selbst noch dem traditionellen begrifflichen Rahmen verpflichtet. Marx sei nahe an die Auflösung des Problems gekommen (auch die 11. Feuerbachthese widerspricht dem nicht), er falle nur in das alte Denken zurück, wenn er mit der Entdeckung der Praxis nicht nur die Philosophie aufheben, sondern sie zugleich gesellschaftlich verwirklichen will. Bevor ich auf Arendts Alternativen eingehe, möchte ich darauf hinweisen, daß sie in ihrer politischen Kritik an Heidegger ähnlich verfährt. Dabei verwendet sie für die Gefährdung des Philosophen den Begriff der ‚déformation professionelle‘. Es gehöre zu ihr, daß die Philosophen die Welt interpretieren, aber nicht verändern wollen (Abgrund der Freiheit).14 Anders ausgedrückt: die totalitäre Tendenz zeichnet sich in denjenigen politischen Theorien ab, die die Verhältnisse nicht eingreifend verändern, sondern sich passiv, kontemplativ und privativ zu ihnen verhalten. In einer ihrer wohlwollenderen Kritiken vergleicht sie Heidegger mit den großen griechischen Philosophen. Wohin er aus der Weltabgeschiedenheit des Denkens zurückkehre, sei jedoch nicht die Politik als bios des freien Mannes, sondern das Reich der Gesellschaft, des Man. Seine Philosophie als existenzielle Seinsmöglichkeit des Daseins verbinde die Umformung des bios theoretikos mit der Ersetzung des Menschseins durch das Selbstsein.
Arendt ersetzt die Beobachter- durch die Teilnehmerposition. Ihre eigene politische Philosophie ist deswegen niemals nur analytisch und deskriptiv, sondern zugleich normativ und strategisch zu verstehen. Der Sinn menschlicher Handlungen läßt sich jedoch nur retrospektiv erklären, weil er sich im Vollzug der Handlung nicht vollständig ergibt. Da wir in unserem Sprechen und Handeln die Folgen nicht übersehen, können wir darüber immer nur abseits des Lebens und der Praxis denken und frei urteilen. Dies ist der Ort der Philosophie, der deswegen vom Gegenstand her gerade nicht unpolitisch ist, sich aber kontemplativ in Reflexion von Praxis vollzieht. Die ‚déformation professionelle‘, die Arendt Marx und Heidegger auf unterschiedliche Art vorwirft, besteht darin, daß Philosophen an die Stelle politischer, geschichtlich offener Praxis den bloßen Vollzug geschichtsphilosophischer Theorien stellen und zugleich diese Position in ihrem Gesellschaftsbegriff abzusichern versuchen.

Arendts Handlungsbegriff
Hannah Arendt ordnet die Tätigkeitsformen der vita activa von einem normativen Begriff des Handelns und des Politischen her neu. Gesellschaftliche Notwendigkeit und Freiheit des Handelns faßt sie als scharfe Gegensätze: Handeln und Sprache bilden dabei eine Einheit, beide beruhen auf Pluralität und Natalität, die es jedem Menschen ermöglichten, Neues zu initiieren. "Alle Aussagen, die auf Veränderung des Bestehenden abzielen, sind Formen des Handelns."15 Die Paradigmen des am Arbeiten und Herstellen entwickelten Politikbegriffs codiert Arendt um und rekonstruiert die Folgen der Geschichtsdetermination vom Individuum her; viele Bestimmungen des Handlungsbegriffs lassen sich dabei nicht nur als Korrektur Marxens, sondern auch Heideggers lesen: sprachlich-diskursive und verteilte Macht soll den monolitischen Gewaltbegriff ablösen, Kontingenz und Freiheit das antizipierbare telos der Geschichte. Das nichtverdinglichte, nicht materialistisch zu erklärende Handeln zwischen Menschen konstituiere den öffentlichen Raum. Pluralität tritt an die Stelle des Menschen und geschichtlicher Großsubjekte, die Position teilnehmender Beobachtung an die systemhaft-kontemplativer Gesamtschau. Die Uneinsehbarkeit der Handlungsvollzüge individuiert Arendt in der Metapher des Bezugsgewebes und der nur post festum erzählbaren Lebensgeschichte. Dabei betont Arendt gegenüber Intentionalität und Mentalität vor allem die Expressivität des Handelns. Die metaphysische Höhlenmetapher ersetzt sie nun durch die des Schauspiels: das Handeln ist die offene Bühne, auf der sich das Individuum in seiner Einmaligkeit enthüllt, wobei es nicht auf die Selbst-, sondern auf die Fremdwahrnehmung ankommt und der Held als Verfasser der Geschichte nicht sein eigener Autor ist.
Doch Hannah Arendts nichtutilitaristischer Politik- und Handlungsbegriff ist keineswegs so harmlos, wie er zunächst scheint. Als idealtypischer oder Grenzbegriff findet er seine Erfüllung in der Revolution, gegen deren traditionelle Konnotationen sie das Rätemodell setzt: in Über die Revolution zieht sie eine Linie von der Amerikanischen Revolution über die Pariser Kommune bis zum Ungarnaufstand 1956. Das Marxsche Reich der Freiheit wird bei ihr zur Freiheit im politischen Handeln; es ist nur jenseits der determinierten Arbeitsgesellschaft realisierbar. Freiheit ist kontrafaktisch, nicht an Fortschritt oder Regression der Gesellschaft gebunden, vielmehr als Sprung spontan realisierbar. Hinter diesem Revolutionsbegriff, das zeigt ihr Luxemburg-Essay, steht ein Begriff unbedingter, selbstloser Moral, der ihrer Idee des Paria und der peer groups korrespondiert.
In politischer Hinsicht lautet ein Schlüsselsatz zu ihrem Handlungsbegriff: "In Wahrheit jedoch ist es die Funktion jeden Handelns, im Unterschied zu einem bloß reaktiven Sichverhalten (behavior), Prozesse zu unterbrechen, die sonst automatisch und damit voraussagbar verlaufen würden."16 Hier wird die antideterministische Konzeption ihres Handlungsbegriffs besonders deutlich. Doch mit diesem Politikbegriff handelt sich Arendt hohe Kosten ein: Man wird ihr zwar weder Neoaristotelismus noch Institutionenfeindlichkeit vorwerfen wollen, denn ihr aristokratischer Republikanismus schließt prinzipiell niemanden aus, und die verfassunggebende ist die revolutionärste Tätigkeit. Arendts Konzept ist vielmehr gegen die Massendemokratie auf einen elitären Republikanismus oder demokratischen Aristokratismus gerichtet, wobei der Zugang nur über aktive Partizipation zu erreichen ist. Doch der Selbstzweck des Handelns, seine Befreiung von den Logiken der Notwendigkeit, wird auf die Spitze getrieben, wenn Arendt die soziale Frage nicht einmal als Gegenstand des Handelns zulassen will. Arendts kritisch gemeinter Satz, mit der Massenarmut "erschien die Notwendigkeit auf dem Schauplatz der Politik", formuliert eine Analyse als Anklage.17 Das zeigt sich sowohl in ihrer Gegenüberstellung von Amerikanischer und Französischer Revolution wie bei ihrer Intervention zur Rassenpolitik in den USA. Arendt geht davon aus, daß die Politisierung der sozialen Frage zwangsläufig zu einer Unterminierung des Politischen führen müsse. Die soziale Frage sei allein durch Wissenschaft und Technik lösbar. Arendt übernimmt dafür Friedrich EngelsÂ’ Topos der rationalen ‚Verwaltung von Sachen‘. Die habe mit dem Politischen nichts zu tun. Voraussetzung für die Marginalisierung der ‚sozialen Frage‘ ist, daß Arendt die Gesellschaft der 50er Jahre zu einer solchen extrapoliert, der einerseits die Arbeit ausginge, die andererseits aber aus Jobholdern mit Jahreseinkommen bestehe.

Libertärer Existenzialismus
Auf welche Quellen und Erfahrungen greift Hannah Arendts Handlungsbegriff zurück? Die aristotelische: ‚eine Sache um ihrer selbst willen zu tun‘; liegt auf der Hand. Die Antike nicht historistisch-genealogisch zu verstehen, sondern auf sie aktualisierend zuzugreifen - diese Methode hat Arendt an Heideggers frühen Seminaren gerühmt. Die eigentlich philosophische Quelle scheint mir jedoch andernorts zu liegen. Sie läßt sich bereits ihrem fünf Jahre vor den Marx-Studien in Dolf Sternbergers Wandlung erschienenen brillanten Essay Was ist Existenzphilosophie? entnehmen. Hier wird deutlich, daß Arendts Ausgangspunkt nicht antikisierend, sondern hochmodern ist. Sie entwickelt die Problemlage der modernen Philosophie aus dem Bruch der Metaphysiktradition bei Kant. Ihrer existenzialistischen Interpretation stellt sich der Kantsche Dualismus als Zertrümmerung jeglicher Harmonie von Essenz und Existenz (Zertrümmerung des antiken Seinsbegriffs) dar. Alle Momente von Synthesis und Vermittlung bei Kant treten gegenüber der moralischen Spontaneität zurück. Arendts sympathetische Skizze der existenzialistischen Linie nachkantischer Philosophien führt diese als immer wieder gescheiterte, immer wieder in neue Essenzen und Seinsbegriffe zurückfallende Versuche vor, Existenz konsequent zu denken: bei Kant bleibe das Sein als Vorgegebenes bestehen, gehe Freiheit im Kausalitätsgesetz der Natur unter. Schelling habe statt der Menschen Gott als absolutes Subjekt wieder eingesetzt. Kierkegaards ‚Subjektiv-Werden‘ impliziere keinen Handlungsbegriff, sondern lediglich Psychologie. Husserls Intentionalität sei der letzte, die Klassik nachahmende Versuch, den Menschen in der Welt zu beheimaten. Vergleichbares gelte für Marx: "Selbst Marx", heißt es, "der doch, als er erklärte, er wolle die Welt nicht mehr interpretieren, sondern sie verändern, gleichsam an der Schwelle eines neuen Seins- und Weltbegriffes stand, in welchem Sein und Welt nicht mehr als nur vorgegebenes, sondern als mögliches Produkt des Menschen erkannt ist, flüchtete sich schleunigst in die alte Geborgenheit zurück, als er erklärte, die Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit, und gab damit dem Menschen [...] eine Würde zurück, mit der er eigentlich nichts mehr anzufangen wußte."18
Als Charakteristikum der Existenzphilosophie hebt Arendt hervor, was Kierkegaard unter der Kategorie der Ausnahme faßte. Doch während der ‚Ausnahmezustand‘ in fast allen politischen Theorien der Weimarer Zeit antidemokratisch und autoritär gefüllt wird, verbindet Arendt ihn, sicher unter dem Einfluß von Jaspers, philosophisch mit Kants Begriff der menschlichen Freiheit und Würde, politisch mit republikanisch-verfassungsstaatlichen Ideen. Mit ihrer scharfen Entgegensetzung von Determination und Freiheit verortet sich Arendt demnach in der linken Tradition des Existenzialismus. Arendts Elementarrepubliken und Räte (von der Pariser Kommune über die frühen Sowjets bis zum Ungarnaufstand 1956) sind im Grunde Ausnahmezustände: spontan gegründet, ephemer, immer wieder zerfallend, haben sie Bestand und Dauer vor allem in Erinnerung und Angedenken; in ihren Politikbegriff kommt ein Moment von Erlebnishaftigkeit: act is fun, sagt sie gelegentlich. Ihr eigener Politikbegriff ist Verwirklichung eines aus der Philosophie gewonnenen, nämlich existenzialistisch-kantianischen Freiheits- und Spontanitätsbegriffs.
Hannah Arendts Begriff des Politischen ist ebenso wie ihre Sicht auf die Philosophiegeschichte den Krisen der Systemwelten nach dem Ersten Weltkrieg verpflichtet, die sie als Zusammenbruch der philosophischen Systeme (Neukantianismus) und Weltanschauungen (Dilthey) interpretiert. Der Traditionsbruch "war vorgezeichnet im Generationenbruch nach dem Ersten Weltkrieg etc."19 Ihre Konsequenz ist jedoch nicht, was Odo Marquard ‚verweigerte Bürgerlichkeit‘ genannt hat.
Arendts Betonung von Praxis und Politik vor Theorie, Geschichtsphilosophie und System, ihre Bevorzugung des jungen Marx gegenüber dem des Kapital, der politischen gegenüber der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung erinnern zuweilen an marxistische Debatten der 20er Jahre, die Arendt gut kannte. Entscheidender aber sind historische Erfahrungen, etwa der Fragilität einer entpolitisierten Massengesellschaft und eines bürokratisierten Politikverständnisses. Dazu kommen solche, die sie mit ihrem Pariser Freund Walter Benjamin teilt, dessen Geschichtsthesen-Manuskript Arendt ins Exil rettete: im Determinismus sieht sie offenbar gemeinsame diskursive Grundlagen zwischen einer Politik, die sich als Vollstreckerin von Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes versteht, und einer Sozialdemokratie als ‚verkleinertem Spiegelbild‘ der deutschen Gesellschaft, wie es in ihrem Luxemburg-Essay heißt, die bereits vor dem Weltkrieg die Revolution verabschiedet habe und, nach Benjamin, dem ‚sturen Fortschrittsglauben‘ so verfallen gewesen sei, daß sie auch im Augenblick der Gefahr nicht zum Mittel revolutionärer Rettung von Demokratie und Verfassung griff. Mit MarxÂ’ Begriff der Revolution hat ihr als ‚Notbremse‘ intendierter Revolutionsbegriff nur noch die Form des Kontinuitätsbruchs gemein.

Normalistische und exzeptionelle Lesarten
Hannah Arendts ‚libertärer Existenzialismus‘, aus den Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts erwachsen, bleibt der theoretische Kern ihrer Philosophie. Die Ambivalenz ihrer späteren Schriften liegt darin, daß sie die exzeptionelle Erfahrung - einschließlich des Versagens der akademischen Philosophie - verstetigen, gleichsam systematisieren will. Arendt versucht, drohende Krisen zu denken und gleichzeitig Formen zu finden, die im Widerstand gegen die Krise nicht selbst zur Katastrophe führen. Das provoziert deskriptive und normative Spannungen, etwa wenn sie ihren Begriff zweckfreien Handelns und kommunikativer Macht gegen jegliches strategische Handeln stellt, die prinzipiell offene, von pluralen Individuen ausgehende Gegenwart und Zukunft gegen wissenschaftliche Erklärungsversuche der abgeschlossenen Geschichte richtet oder als einzig authentischen Ort der Philosophie die Reflexion politischen Handelns herausstellt.
Bevor ich abschließend die daraus erwachsenden Schwierigkeiten der Rezeption benennen werde, können als wesentliche, an Marx ausgeführte, sich aber auf die abendländische Philosophie insgesamt beziehende Kritik zwei Punkte resümiert werden: zum einen das Desiderat eines über geschichtlich-soziale Determinanten hinausreichenden Politikbegriffs, der zur Aufhebung von politischer Freiheit und Pluralität führe. Zum anderen die Kritik der bewußten oder unbewußten Erhebung des Philosophen zum Philosophenkönig, was bei Arendt gleichermaßen heißt, daß die Philosophie sich weder außerhalb der politischen Welt wähnen, noch lediglich ihr Partikularinteresse politisch verwirklichen sollte. Dies bedeutet zugleich, daß Philosophie als Ort denkender, vom Erkennen unterschiedener Reflexion in ihrer Differenz zur Praxis festgehalten werden muß.
Arendts Werk hat verschiedene Lesarten evoziert. Erkennen läßt sich eine exzeptionelle und eine normalistische. Wenn die eine dazu tendiert, ihren Begriffen Politikunfähigkeit vorzuwerfen, so die andere, ihnen die Schärfe zu nehmen. Arendts exzeptioneller, strikt antiutilitaristischer, auf Unterbrechung zielender Handlungsbegriff ist nicht dazu angelegt, verstetigt zu werden. Eine permanente Unterbrechung wäre ein Selbstwiderspruch. Ein solches Verständnis läuft parallel zum Vorwurf der Politikwissenschaft und politischen Philosophie, ihr Politikbegriff sei unpolitisch oder polisromantisch. Dem eigentlich provozierenden Kern ihrer Theorie wird diese Kritik nicht gerecht: denn der besteht gerade darin, Geschichte von Situationen her zu denken, in denen versachlichte, institutionalisierte, prozeßhafte Abläufe auf Katastrophen zulaufen. Seinen Sinn hat dieser Handlungsbegriff dort, wo scheinbare Sachzwänge, besser Rhetoriken des Sachzwangs oder anonyme Logiken der Notwendigkeit, das freie Handeln und das Politische unterminieren. (Gegen Automatismen des Krieges, der Wissenschaft in der Genetik, der Standortdebatte.) Arendt hat einen solchen Begriff von Politik, der durch Automatismen, Zeitzwänge und lineare Optionen Handeln einschränkt, bereits während des amerikanischen Vietnamkriegs kritisiert. In geschichtlichen Extremsituationen ist das Subjekt auf moralische Spontaneität verwiesen. Es ist ein ebenso hölzernes Eisen, solche politischen Krisen und Grenzsituationen selbst wieder regulativ einholen zu wollen wie diese exzeptionelle Lesart zum normativen Maßstab des Politischen zu erheben.
Nach normalistischer Lesart endet Arendt dort, wo auch andere Philosophien des Politischen ihres Jahrhunderts sich treffen: bei einer Sprache ohne metaphysische Hinterwelt, in einer bedingten, freilich nicht utilitaristisch gedachten Praxis, als beobachtende Teilnehmerin und teilnehmende Beobachterin, ohne das Privileg der Gesamtschau, die Deskriptivität und Normativität der Begriffe nutzend und setzend, wissend, daß sie sich in pluraler Agonalität nur ephemer realisieren, der öffentliche Raum aber nur so erhalten bleibt, ohne geschichtsphilosophische Hoffnung und Fortschrittsdispositiv. Diese Lesart gerät leicht in Gefahr, Arendt unpolitischer zu nehmen, als sie sich selber verstand: Wer meint, Handeln und Sprechen, Versprechen und Verzeihen, Natalität und Pluralität seien sui generis schon politische Bestimmungen, der verfehlt ihren Politikbegriff.

Anmerkungen
* Der Text geht zurück auf einen Habilitationsvortrag am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Erweitert und überarbeitet wurde der Vortrag anläßlich der jüngst erschienen Denktagebücher Hannah Arendts.
1 Vgl. Arendt an Jaspers, Brief v. 3. Juni 1949, in: Hannah Arendt - Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, hg. v. L. Köhler u. H. Saner, München 1985, S. 173.
2 Elisabeth Young-Bruehl, Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 384ff.
3 Arendt an Jaspers, Brief vom 29. Jan. 1946 (Anm. 1), S. 66.
4 Martin Heidegger - Hannah Arendt: Briefwechsel, hg. v. U. Ludz, Frankfurt a.M. 1998, S. 319.
5 Paolo Flores dÂ’Arcais, Libertärer Existenzialismus. Zur Aktualität der Theorie von Hannah Arendt, Frankfurt a.M. 1993.
6 Arendt, Denktagebuch. 1950-1973, 2 Bde., hg. v. U. Ludz und I. Nordmann, München 2002, Bd. 1, , S. 350, 364.
7 Ebd., S. 75.
8 Ebd., S. 310.
9 Ebd., S. 267; vgl. auch S. 112.
10 Ebd., S. 118.
11 Ebd., S. 264.
12 Ebd., S. 72, 80.
13 Arendt, Tradition und die Neuzeit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 26.
14 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München 1998, S. 421, 425, 433.
15 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, S. 73.
16 Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 35.
17 Arendt, Über die Revolution, München 1963, S. 75.
18 Arendt, Was ist Existenzphilosophie? In: Sechs Essays, Heidelberg 1948, S. 64.
19 Denktagebuch (Anm. 6), S. 300.

PD Dr. Ernst Müller, Philosoph, Berlin

aus: Berliner Debatte INITIAL 14 (2003) 2 S. 104-112