Der abgewürgte Streik

Es riecht nach Intrige. Der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, erklärte nach einem "Spitzengespräch" den Streik für gescheitert, bevor sich der Gewerkschaftsvorstand und ...

... die Tarifkommission mit dem Sachstand befassen konnten. Zum Sündenbock machte er den für seine Nachfolge nominierten, von ihm aber abgelehnten Jürgen Peters, der als vergleichsweise konsequenter Vertreter der Interessen der abhängig Beschäftigten gilt und sich kürzlich in der SPD am Mitgliederbegehren gegen die regierungsamtliche Politik des Sozialabbaus beteiligt hatte. Wollte Zwickel, Mitglied des Gewerkschaftsrates der SPD, der Regierung Schröder beispringen? Gewerkschaft als Transmissionsriemen der Partei? Sollte in einer Zeit, in der sich eine neue weltweite kapitalismuskritische Bewegung herausbildet und bei Gewerkschaften und Gewerkschaftern Verbündete sucht und findet, ein Haltesignal gesetzt werden?
Im Bermuda-Dreieck von westdeutschen Konzern-, Gewerkschaftsfunktionärs- und SPD-Machterhaltsinteressen versanken die Forderungen der ostdeutschen Lohnabhängigen. In den westdeutschen Belegschaften wurde unzureichend mobilisiert. Daß im Osten auch über ihre Zukunft mitentschieden und ihre Gewerkschaft insgesamt vorgeführt wurde, ist aber inzwischen vielen bewußt geworden. Ihr Zorn über das Verhalten von Funktionären, die den ostdeutschen Kollegen in den Rücken gefallen sind, wird nicht ohne Folgen bleiben.
Die Art und Weise, wie der Streik abgewürgt wurde, ist nach meinem Verständnis Indiz einer schleichenden Faschisierung: Fast unisono wurde aus allen Medien gegen den Streik und die Streikenden gehetzt. Regierende und noch nicht regierende Politiker, die als mögliche Vermittler ein ausreichendes Maß an Neutralität bewahren sollten, betätigten sich ohne Hemmungen als Sprachrohre der Kapitalinteressen. In der Presse und den elektronischen Medien wurde den ohnehin nicht durch intellektuelles Niveau verwöhnten Konsumenten in allen Variationen eingebläut, wie verantwortungslos der Streik doch sei. Kein Argument war dabei zu dumm, keine Begründung schamlos genug.
Ob man nun dem Publikum weiszumachen versuchte, daß längere Arbeitszeiten zu mehr Arbeitsplatzsicherheit führen oder Einkommensverzichte Wirtschaftsaufschwung bewirken würden - es funktionierte: Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung im Osten ließ sich gegen die Streikenden aufhetzen. Die Streikposten wurden beschimpft und mit dem Stinkefinger provoziert. Öffentliche Bekundungen der Streikgegnerschaft zugunsten des "Standorts Ostdeutschland" oder "Sachsen" wurden organisiert. In Südwestsachsen unterstützten die Bürgermeister einiger Städte, auch einer aus der PDS, mit viel Medienrummel die Streikbrecher. Die Propagandamasche: Die Gewerkschaft wolle den Ostdeutschen ihren einzigen überzeugenden Standortvorteil nehmen: für weniger Geld mehr arbeiten zu dürfen - wie heimtückisch! Die Frage, ob nicht nach eben dieser Logik der "Standort Ostdeutschland" durch die Wanderung des Kapitals weiter nach Osten hinfällig wird, wurde dabei verdrängt (inzwischen werden, wie man hört, streikende Arbeiter in Tschechien mit dem Abzug des Kapitals in Richtung Ukraine bedroht).
Unsicherheit und Existenzangst machen viele Menschen geneigt, auch den größten Unfug als einen Strohhalm zu akzeptieren, an den man sich klammern muß, um nicht unterzugehen. Solidarische Wertvorstellungen sind durch den langjährigen Genuß von Bild und anderen bunten Blättern sowie die Gehirnwäsche per Fernsehen, aber auch durch die in den Alltagsvollzügen materialisierte Ideologie verwirrt und zersetzt.
Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, sollen demontiert werden. Stellen sie doch die einzige gesellschaftliche Kraft dar, die noch in der Lage ist, Menschen gegen die Zumutungen der neoliberalen Gesellschaftzerstörung zu mobilisieren und Widerstand zu bündeln.
Was bliebe, wäre eine neue Volksgemeinschaft mit einer neuen deutschen Arbeitsfront, in der die noch zum Ausgebeutetwerden Zugelassenen für den Profit ihrer Herren kämpfen. Der Betriebsführer würde dann seine Betriebsgemeinschaft führen, ohne daß ihm eine Gewerkschaft hineinredet und durch unangemessene Forderungen "Klassenzwietracht" schürt. Gemeinnutz ginge, wie schon einmal, vor Eigennutz - wobei als Gemeinnutz das Interesse der Herrschenden gälte, das Interesse der Beherrschten aber als schnöder Eigennutz abqualifiziert würde. Böte dies nicht eine hervorragende Voraussetzung für die Formierung des "Volkes" zur kämpfenden Truppe im Weltordnungskrieg? Die Verfeinerung der technischen und administrativ-juridischen Mittel zu Überwachung, Kontrolle und Repression würde es erlauben, dieser Form der totalen Herrschaft ein gefälligeres Aussehen zu verleihen als dem Faschismus von einst.
Wenn es dahin nicht kommen soll, ist Widerstand in größerer Breite nötig als bisher erkennbar. Angezeigt ist dann allerdings auch eine Selbstprüfung der Gewerkschaften. Die Zeiten sind vorbei, in denen auf den Wohlstandsinseln der westlichen Industriestaaten Gewerkschaften sich damit legitimieren konnten, daß sie für ihre Klientel jeweils ein größeres (wenn auch verhältnismäßig kleineres) Stück aus dem ständig wachsenden Wohlstandskuchen erstreiten konnten. Scheinbar unendliches quantitatives Wachstum, Massenproduktion, Massenkonsum plus Sozialstaat bewirkten gesellschaftliche Integration und Befriedung. Die Fragen nach der Verfügung über die Produktionsmittel, nach dem Eigentum und der Macht waren vorübergehend ruhiggestellt. Diese Zeit der Gemütlichkeit neigt sich ihrem Ende zu. Grundlegendere Veränderungen werden nötig. Dem Kampf um Arbeitszeitverkürzung kommt dabei eine wichtige Funktion zu.
Wer aber soll verhindern, daß die herrschende Klasse den Ausweg aus der Krise wieder in einem autoritären Herrschaftssystem und in neuen Kriegen sucht? Das können nur die, die dafür mit ihrer Haut zu zahlen hätten. Wie aber, wenn sie dafür in den Gewerkschaften keinen organisatorischen Halt mehr finden?

aus: Ossietzky 14/03