Stichwort: Medienkanzler

Die detaillistisch-oberflächliche Tagesaktualitäts-Berichterstattung der durchkommerzialisierten Medien ermöglicht es populistischen Spitzenpolitikern, ...

... demokratische Sachdebatten in Partei, Parlament und Öffentlichkeit zu verhindern und ihren Gegnern in Parteibasis und Parlament die Falle vollendeter Tatsachen zu stellen. Die neuen pragmatischen, flexiblen Politiker nehmen das neue "Medieninteresse" in Kauf, sie fördern es sogar, indem jeder und jede versucht, sich tagesaktuell mit neuen Reformvorschlägen zu profilieren.
Auch der "Medienkanzler" nutzt das tagesaktuelle, pragmatische, oberflächliche Medieninteresse. Deswegen heißt er "Medienkanzler", weil er immer mit freundlichem Gesicht an Kameras vorbeigeht und dabei kleine Statements abgibt, die oft "menschlich" sind. So etwas wird bewusst gemacht, das muss zwischen Referenten und Journalisten abgesprochen werden, das muss ja in die richtige Kamera gesagt werden, der Kanzler muss vom Referenten gesagt kriegen, wo die steht etc.
Allerdings muss man beachten, dass es dem neuen Journalistentyp nicht nur um tagesaktuelle, "menschliche" Details geht. Es geht ihnen auch um die Erörterung der gerade anstehenden strategisch-taktischen Fragen - unter Ausklammerung der mühsamen Sachprogramme, für die kein Fernsehzuschauer die Geduld aufbringt (es sei denn, man würde sie spannend präsentieren, was jeder gute Journalist könnte, wenn er nur wollte oder dürfte). Wie die strategischen Fragen jetzt ebenfalls pragmatisch erörtert werden, schildert Richard Meng - Fachjournalist der Frankfurter Rundschau in Berlin - so: "Der Typ Kanzlerberichterstatter ist wie der Typ Kanzler. Er sieht nur das Ganze, die strategischen Fragen im nichtprogrammatischen Sinn. Er erläutert die Lage nach Maßstäben, die denen des Medienkanzlers entsprechen. Ob es klug ist oder weniger klug, diese oder jene Variante bei der Regelung der Kraftwärmekoppelung oder der privaten Altersvorsorge vorzuziehen, ist nicht mehr seine Frage. Sondern eher, ob es klug ist, deswegen den Rücktritt des Wirtschafts- oder Arbeitsministers [deren Ämter 2002 noch getrennt waren] in Kauf zu nehmen oder ihn zu vermeiden. Weit oberhalb von Sachfragen geht es um das Austarieren von Kräften und darum, ob der mediale Auftritt des Kanzlers gut verlaufen ist." (Der Medienkanzler. Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt a.M. 2002, S. 91, Kursivierung und [ ] hinzugefügt - D.P.)

Es geht den kommerziellen Journalisten um Machtfragen, um die Geschicktheit von Machtsteuerung, nicht um Sachfragen. Letztere sind dann zwar immer einmal präsent, als hektisch hochgespülte Tagesthemen - Ökosteuer, Tierseuchen, Terroranschläge, Krieg, Arbeitslosenzahlen, Schuldenberg - doch immer nur unter dem Aspekt, ob es der regierenden Machtclique gelingt, sie zu steuern. Sobald das Hindernis umsteuert ist, sobald die Actionfilm-Frage: "Schafft erÂ’s oder schafft erÂ’s nicht" geklärt ist, verschwindet das Thema in der Versenkung.

Zufrieden sind die Medien nie, denn es ist ihr Geschäft, Unzufriedenheit zu dramatisieren. Da sie Spannung herstellen wollen und müssen, das Spannende an der Erörterung von Sachfragen aber umgehen, weil das der tagesaktuellen Stimmungsdramatik zuwiderläuft, ergibt sich ein tagtägliches Gemecker. Wenn die Politiker jenes austarieren, können sie mit dieser Unzufriedenheit gut leben: "Denn hohe Tarifabschlüsse führen dazu, dass in den Medien Wirtschaftswissenschaftler die drohende Kostenlawine für die Ökonomie beklagen - niedrige dazu, dass über mangelnde Kaufkraft debattiert wird. Wenn aber alle Seiten gleich unzufrieden sind, kann die Politik sich relativ unbehelligt fühlen." (Meng, S. 104)

Unterhalb des pragmatischen Medienwinds geht es den pragmatischen Spitzenpolitikern um den Ausgleich von Wirtschaftsinteressen mit den Interessen ihrer Parteibasis oder der Gewerkschaften, denen es - ärgerlich! - immer noch um Sachprogramme geht. Die neoliberale, oft auch militaristische Parteispitze hält die Unternehmer-Interessen für unausweichlich und die Basis- oder Gewerkschafts-Interessen für "traditionell". Der "Ausgleich" geschieht jedoch nicht nach den ethischen Regeln des beratschlagenden Diskurses. Diesen permanenten rationalen Diskurs über die dringenden Probleme - Arbeit, Arbeitslosigkeit, Renten, Steuergerechtigkeit, Sozialleistungen, Verkehr, Umwelt, etc. - wollen die neuen pragmatischen Politiker nicht demokratisch-beratschlagend ausfechten, sondern vermeiden. Die kommerziellen Medien wollen das auch. Der tagesaktuell-detaillistische Medienwind kommt den Spitzenpolitikern gerade recht, er unterbricht die ernsthafte Debatte. Die öffentliche Aufmerksamkeit bleibt an der Oberfläche.

Jetzt stellt die innerparteiliche Machtclique ihren Gegnern die Falle des fait accompli: Unter der Oberfläche - entweder in Kommissionen oder im Kanzleramt - entwirft sie die wirtschaftsfreundlichen und militaristischen Programme, die dann der eigenen Parteibasis oder den Gewerkschaften oder dem Wahlvolk als fertiges Kanzlerprogramm präsentiert werden, dessen Ablehnung die Regierung gefährden würde. Darin besteht das Arbeitsbündnis zwischen neoliberalen Politikern und neoliberalen Medien. Meng spricht vom "politisch-medialen Komplex" und schildert dessen Funktionieren so: "Im Mittelpunkt steht ein Einzelereignis, langfristige Vorbereitung und Strategien gibt es kaum. Es wird von oben her zentralistisch-medienorientiert eine Botschaft vorgegeben [...] und via Medien die Legitimität des Anliegens begründet, anschließend Loyalität eingefordert und das Ganze gedanklich als unabweisbar in den langfristigen Prozess vollzogener Historie eingeordnet. Parlament und Parteien kommen erst dann ins Spiel, wenn es um die Umsetzung geht. Es findet vorher nie ein offener Zieldiskurs statt; es wird damit auch keine tiefer gehende Reformstrategie kommuniziert, sondern letztlich auf dem Weg über das Einzelvotum eine personalisierte Machtfrage entschieden." (Meng, S. 115; siehe auch S. 70ff., 100f.)

Es ist so, als würden über dem Ganzen, wie im kommerziellen Fernsehen, permanente Werbeeinblendungen liegen: Immer wieder wird der Fortgang der Sachpolitik-Handlung an den spannendsten Stellen durchbrochen, um den Blick auf die Stimmungsdramaturgie der Tages-Event-Einzelszenen zu lenken, wie das die Werbespots tun, in denen es darum geht, ob die Freundin oder die Kinder zufrieden sind oder nicht, was dann von der richtigen Tiefkühlpizza oder Maggi-Sauce oder Milchschnitte oder Kaffeesorte abhängt. Der Trick der "Medienkanzler"-Politik besteht darin, während die Werbespots laufen - d.h. der Blick auf die nebensächlichen Stimmungs-Szenen abgelenkt ist - Fakten zu schaffen, Programme festzuklopfen. Wenn die Sachpolitik-Spielhandlung weitergeht, liegt dem erstaunten Publikum das von oben her gemachte, fertige wirtschaftsfreundliche oder auch rüstungsfreundliche Programm vor, und das Medienkanzler-Racket[1] verlangt von der Parteibasis, von Abgeordneten und Gewerkschaften nichts als Zustimmung - mit dem Argument, Ablehnung würde die Regierung gefährden: "Es gibt keine Alternative." Meng sagt dazu: "Dankbare Loyalität ist einfach zu erreichen unter dem Damoklesschwert der Vertrauens- und Machtfrage." (S. 128)

Wer dem Damoklesschwert den Rücken zukehrt und die Sachdebatte fortführen will, gilt als uncool, als traditionalistisch: Er hat nicht kapiert, dass gleich die nächste Werbeunterbrechung kommt, und auch dazu gibt es (angeblich) keine Alternative. Mit Demokratie hat diese Racket-Politik nichts zu tun. Demokratie und mündige Bürger brauchen die öffentliche Sachdebatte - ohne Werbeunterbrechung.

Dieter Prokop ist Professor für kritische Medienforschung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften - Schwerpunkt Kulturindustrie - der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Im VSA-Verlag erschienen von ihm mehrere Titel zur "neuen kritischen Medienforschung".

Anmerkungen:

[1] Rackets sind rivalisierende Machtcliquen. Zur Racket-Theorie siehe: Dieter Prokop, Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie, Hamburg 2003, S. 90f.

aus Sozialismus: Heft Nr. 7-8 (Juli / August 2003), 30. Jahrgang, Heft 268