Die alltägliche Camouflage

George Orwell warnte in seinem Buch "1984" vor "New Speak", dem verderblichen "Neusprech", das die wichtigsten Begriffe in ihr Gegenteil verwandeln werde. ...

... Vergeblich. Orwell scheint vielmehr als Lehrmeister derer gedient zu haben, die uns heute hinters Licht führen. Als erste seien die Kriegsminister erwähnt, die sich Verteidigungsminister nennen, weil sie zum Beispiel die BRD am Hindukusch verteidigen wollen. Ähnlich tarnt sich aber zum Beispiel auch jenes Amt, das die Renten kürzt und die Kranken in unverschämter Weise zur Kasse bittet: das "Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung". Die Rürup-Kommission, die wie Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement den Erwerbslosen und Wenigerverdienenden (also der überwiegenden Zahl der Arbeitenden) noch mehr an den schmalen Geldbeutel will, trägt offiziell den Namen "Kommission für soziale Sicherung". Und da das Wort "Arbeitslose" so deprimierend klingt, will die künftige "Bundesagentur für Arbeit" (zur Zeit heißt sie noch Bundesanstalt für Arbeit) sie in "Kunden" umtaufen - aufgeteilt im "Marktkunden" (die rasch und möglichst durch eigene Initiative eine neue Stelle finden), "Beratungskunden" (denen auf mittlere Sicht Vermittlungschancen zugemessen werden) und "Betreuungskunden" (die schon lange erwerbslos sind).
Camouflage ist alltäglich geworden. Man muß schon genau hinschauen, wenn man erkennen will, welche Interessengruppen hinter wohlklingenden Namen stecken, die ihnen nur dazu dienen, ihre wahren Ziele zu verbergen.
"Parteiübergreifend" treten die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) und der "Bürgerkonvent" auf. Die INSM, der überwiegend Unions- und FDP-Mitglieder oder -Freunde angehören, erhielt bisher knapp neun Millionen Euro von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden; der ähnlich gestrickte "Bürgerkonvent" rechnet für dieses Jahr mit sechs Millionen Euro. Und wer wünscht nicht "Klarheit in der Politik"? Also gibt sich eine Stiftung diesen Namen, die von deutschen Unternehmern 100 Millionen Euro erhält.
Wie in Berlin, so in der Provinz, zum Beispiel im deutschen Südwesten: "Bürgerinitiative zum Schutz des Schwarzwaldes" heißt eine Gruppe, die gegen den Bau von Windrädern polemisiert, weil sie die Landschaft verschandeln würden; sie droht gar mit Klagen vor Gericht. Gegen den forcierten Bau von Ski-Liften und überdimensionalen Skihallen am Waldesrande, die weitaus schädlicher für die Natur sind, hört man von ihr kein Wort, schon gar nicht gegen Atomkraftwerke. Die atomfreundliche Stuttgarter Regierung und CDU-Landräte unterstützen sie.
Schlicht "Entlang des Rheins" nennt sich eine dieser Tage gegründete Vereinigung, die als ihre Hauptaufgabe gleichfalls den Naturschutz angibt. Dominiert wird sie von der Electricité de France (EdF), der größten Stromproduktionsfirma Europas (vor allem dank ihrer Kernkraftwerke), mit ihrem Ableger "Europäisches Institut für Energieforschung" in Karlsruhe. Zu den Gründungsmitgliedern gehört auch der Konzern Energie Baden-Württemberg (EnBW). Beide betreiben pannenträchtige Atomkraftwerke: die EdF zum Beispiel das AKW Fessenheim in der Erdbebenzone Rheingraben, das schon wiederholt wegen Rissen in der Umhüllung abgeschaltet werden mußte. Beide sind auch bekannt für die Vertuschung solcher Pannen. Dennoch erhielt das elsässische Fessenheim sogar ein internationales Umweltzertifikat: weil die Wiesen und Parks ringsum gepflegt werden und die Belegschaft vorbildlich den Hausmüll trennt. Denn auch mit Preisen kann man camouflieren und Eindruck machen. Und so bekam jetzt der Ableger des Freiburger Rhodia-Werkes, die Rhodia in Chalampé, unter großem Brimborium die Sicherheitstrophäe des elsässischen Chemieverbandes. Im Dezember waren dort 800 Tonnen giftiges Cyclohexan ausgetreten - mit bösen Folgen für die Umwelt.
Selbst wissenschaftliche Begriffe sind vor den Verfälschern nicht sicher. Von "Sozialethik" sprach der Konstanzer Professor für Sozialpolitik Friedrich Breyer, als er eine Altersgrenze (75 Jahre) für teure medizinische Leistungen forderte, beispielsweise bei der Behandlung von Krebskranken. Ihm schloß sich der Bochumer katholische Theologie-Professor und Bischofsberater Joachim Wiemeyer an, dem dazu noch die Neuprägung "Altersrationalisierung" einfiel.
Camoufler heißt übrigens nicht nur "tarnen", wie es in den Lexika steht, sondern im Umgangs-Französisch "arglistig täuschen".