Gesundheitspolitik am Tiefpunkt:

Zuzahlung statt Reform

Am 22.7.2003 wurden die Eckpunkte von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP zur Gesundheitsreform vorge-legt. Die Grundzüge des Gesetzentwurfs stoßen auf starke Kritik.

Am 22.7. wurden die Eckpunkte von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP zur Gesundheitsreform vorgelegt. Die Grundzüge eines gemeinsamen Gesetzentwurfs stoßen auf starke Kritik. Sie zeigen, dass die gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion über Ziele und Mittel der Gesundheitspolitik intensiver und auch konkreter werden muss.

Gesellschaftliche und ökonomische Ziele

Ziel der Gesundheitsreform ist, die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu senken. Begründet wird dies damit, dass die Beiträge die Arbeitskosten und damit die Arbeitslosigkeit erhöhten. Zweifel daran sind erlaubt. Gänzlich unzutreffend wäre es, die Krankenversicherungsbeiträge für die Nachfrageschwäche verantwortlich zu machen, denn sie werden voll als binnenwirtschaftliche Nachfrage in einem beschäftigungsintensiven Wirtschaftssektor wirksam. Der internationale Vergleich zeigt aber auch, dass Deutschland weder besonders hohe Arbeitskosten hat noch ein Zusammenhang zwischen Arbeitskosten und Arbeitslosigkeit besteht. Jedenfalls besteht bei Entlastung der Arbeitgeber in der Krankenversicherung die Gefahr, dass die gesparten Mittel dem inländischen Wirtschaftskreislauf entzogen werden, ohne dass neue Arbeitsplätze entstehen.

Das Gesundheitswesen bietet viele sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten, die ungenutzt bleiben. Eine Gesundheitsreform, die es nur als Kostenfaktor ansieht, ignoriert die Chancen eines wachsenden beschäftigungsintensiven Wirtschaftssektors.

Eine andere Frage ist, ob die Höhe der Beiträge gesellschaftlich akzeptiert wird. Die große Mehrheit der Bevölkerung will nicht auf das erreichte Leistungsniveau und auf seine solidarische Sicherung verzichten und ist grundsätzlich bereit, dafür auch mehr Geld aufzuwenden. Amerikanische Verhältnisse im Gesundheitswesen werden abgelehnt. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung bezieht sich auf eine als ungerecht empfundene Lastenverteilung und eine nicht effiziente Verwendung der Mittel.

Gesundheitspolitische Ziele

Damit ist als Ziel einer Gesundheitsreform definiert, die eingesetzten Mittel möglichst effizient einzusetzen. Im internationalen Vergleich hat Deutschland bei hohen Kosten nur mittlere Ergebnisse. Es besteht im Gesundheitswesen die Gefahr, dass Leistungen primär im Interesse von Ärzten und Pharmakonzernen definiert und vergütet werden. Hier müssen Strukturreformen ansetzen.

Zuletzt vom Sachverständigenrat Gesundheit wurde festgestellt, dass in Deutschland Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen bestehen. Trotz allgemeinen Zugangs zu den meisten Leistungen sind Gesundheitschancen sozial sehr ungleich verteilt. Bei der Versorgungs- und Lebensqualität insbesondere chronisch Kranker bestehen auch im internationalen Vergleich erhebliche Defizite. Eine an Gesundheitszielen orientierte Reform müsste sich primär hiermit befassen.

Verteilung der Gesundheitskosten

Die Gesundheitsreform 2003 soll eine Senkung der Kassenbeiträge erreichen durch höhere Zuzahlungen (3,3 Mrd. Euro p.a.), Leistungsausgrenzungen (2,5 Mrd. Euro p.a.), einen Steuerzuschuss aus der Tabaksteuer (4,2 Mrd. Euro im Jahr 2007) und Beiträge auf betriebliche Altersrenten (1,6 Mrd. Euro p.a.). Die Arbeitgeber werden zusätzlich entlastet durch die separate Versicherung von Zahnersatz (ab 2005) und Krankengeld (ab 2007) nur auf Kosten der Beschäftigten. Rechnet man letztere ein, so werden die Versicherten auch 2007 kaum weniger Beiträge zahlen als heute. Entlastet werden allein die Arbeitgeber. Unter den Versicherten werden die Kosten umverteilt. Stärker belastet werden ältere und chronisch Kranke durch Zuzahlungen und Leistungsausschlüsse.

Zusatzversicherungen

Die Zusatzversicherung von Zahnersatz wird verpflichtend und kann bei gesetzlichen oder privaten Kassen durchgeführt werden. Wegen geringerer Verwaltungs- und Arztkosten ist heute die Gesetzliche günstiger. Dies kann sich ändern, wenn die Privaten günstige Tarife für junge Versicherte mit guter Zahngesundheit anbieten und die "schlechten Risiken" der GKV verbleiben. Ob Kinder separat versichert werden müssen, ist in den Eckpunkten offengelassen. Die Zusatzversicherung Krankengeld bleibt in der GKV.

Keine Bürgerversicherung

Eine Bürgerversicherung, in der alle Berufsgruppen und Einkommensarten solidarisch zusammengefasst würden, kommt nicht. Es bleibt dabei, dass die privaten Versicherungen Beschäftigte oberhalb von 3.825 Euro monatlich (2003/ West) und Selbstständige versichern, soweit diese nicht freiwillig in die GKV gehen, weil sie wegen Kindern oder Krankheiten dort günstiger stehen. Diese Privilegierung "guter Risiken" ist durch nichts zu begründen. Auch das Sonderregime von Beihilfe und PKV bei Beamten bleibt.

Einzig Versorgungsbezüge aus Betriebsrenten werden zusätzlich beitragspflichtig, während leistungslose Einkommen aus Vermögen und Mieten unberücksichtigt bleiben.

Krankenkassen

Weitgehend unangetastet bleibt auch der merkwürdige Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen. Dabei können die Kassen niedrige Beiträge anbieten, denen es gelingt, vor allem junge und gesunde Versicherte zu haben. Dieser Wettbewerb führt dazu, dass Kassen immer mehr Mittel in Werbung stecken und zugleich mit Ausgrenzungsstrategien bis zum Rechtsbruch versuchen, chronisch Kranke und behinderte Menschen nicht zu versichern. Die Kassenvielfalt ist in der Bevölkerung unpopulär. Nur eine hofierte Minderheit profitiert von verbessertem Service.

Es ist vorgesehen, die Verwaltungskosten der Kassen einzufrieren. Davon ist Werbung ebenso betroffen wie der Aufbau von Steuerungs- und Kontrollkompetenz. Solange der Kassenwettbewerb unverändert bleibt, ist zu befürchten, dass die Knappheit zu Lasten sinnvoller Aufgaben geht. Der gesundheitspolitisch sinnvolle Aufbau von Versorgungsnetzen lockt z. B. kranke Versicherte an und wäre daher unter Wettbewerbsgesichtspunkten für jede Krankenkasse irrational.

Leistungsausgrenzungen

Gestrichen werden Ansprüche auf Sterbegeld, Entbindungsgeld, Sterilisation, stark eingeschränkt auf Brillengläser, künstliche Befruchtung, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel und notwendige Taxifahrten. Insbesondere bei Arzneimitteln und Taxifahrten bedeutet dies, dass auch medizinisch Notwendiges ausgegrenzt wird. Der Ausnahmekatalog bei nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln soll nicht etwa Notwendigkeit und Evidenz, sondern der "therapeutischen Vielfalt" verpflichtet sein. Die Leistungsausgrenzungen belasten vor allem chronisch Kranke und Familien können zu Ausweichreaktionen auf teurere Arzneien führen.

Qualität und Wirtschaftlichkeit

Die Konkretisierung, ob Leistungen die nötige Qualität haben, medizinisch notwendig und wirtschaftlich sind, bleibt den Leistungserbringern überlassen. Ein wissenschaftliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit wird bei einer Stiftung der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen angesiedelt. Es soll zwar den medizinischen Wissensstandard aufarbeiten, aber keine Leitlinien entwickeln, sondern diese nur bewerten. Es soll zwar den Nutzen, nicht aber auch die Kosten-Nutzen-Relation von Arzneimitteln untersuchen. Eine Positivliste verschreibungsfähiger Arzneimittel kommt nicht. Ob das Institut so die Möglichkeiten hat, Versorgungsmängel, Ineffizienzen und teure Scheininnovationen aufzudecken, ist fraglich.

Dass zugleich mit der Konzertierten Aktion auch der Sachverständigenrat abgeschafft wird, der bisher mit unabhängigen Stellungnahmen auf dem Primat von Kriterien der Gesundheitsversorgung bestanden hat, lässt nichts Gutes erwarten.

Zuzahlung

Grundsätzlich soll auf alle Leistungen 10% Zuzahlung erhoben werden, maximal jedoch 10 Euro und mindestens 5 Euro. Beim Arzt wird dies auf 10 Euro pro Quartal, im Krankenhaus auf 28 Tage à 10 Euro im Jahr beschränkt. Die Zuzahlung wird auf 2 % des Bruttoeinkommens (1 % bei chronisch Kranken) beschränkt. Die bisherige Befreiung von der Zuzahlung für Personen unter einem Brutto von 952 Euro monatlich entfällt. Selbst Sozialhilfeempfänger sollen zuzahlen. Diese Regelungen belasten vor allem chronisch Kranke und niedrig Verdienende zusätzlich. Sie werden kaum steuernde Wirkung gegen unnötige Leistungen haben, möglicherweise aber zur Verschleppung von Krankheiten führen. Dazu kommt bürokratischer Mehraufwand.

Ärztliche Versorgung

Bei der fachärztlichen Versorgung führt das Nebeneinander von Krankenhäusern und einer hohen Menge niedergelassener Fachärzten zu hohen Kosten und Koordinationsproblemen zu Lasten der Patienten. Die hier noch mit dem Regierungs-Entwurf vom Mai (GMG) vorgesehenen Reformen kommen nur sehr eingeschränkt. So dürfen sich Krankenhäuser nur unter restriktiven Bedingungen an der ambulanten Versorgung beteiligen. Die Krankenkassen können nicht generell freie Verträge mit Fachärzten abschließen. Ob integrierte Versorgungsnetze und medizinische Versorgungszentren besseren Zugang zur Versorgung bekommen und damit die Versorgungsqualität verbessert wird, ist offen.

Fazit und Ausblick

Die Gesundheitsreform 2003 belastet vor allem Kranke und gering Verdienende zusätzlich, die arbeitende Bevölkerung wird generell mehr belastet. Reformschritte für nachhaltige solidarische Finanzierung durch eine Bürgerversicherung sind völlig, für eine bessere und effizientere Versorgung weitgehend unterblieben. Die Reform entspricht nicht dem Programm, mit dem die SPD 2002 gewählt wurde. Sie untergräbt die Akzeptanz des solidarischen Systems und bereitet so den Boden für die weitere Privatisierung des Krankheitsrisikos.

Die junge Generation wird artikulieren müssen, ob sie in einem entsolidarisierten Land leben möchte, in dem Krankheit und Armut wieder eng zusammenhängen, und ob sie weiterhin einzelne Privilegierte für sich sprechen lässt, die phantasielosen Sozialabbau als "generationengerecht" bemänteln.

Viele Abgeordnete des Bundestags wissen schon, dass die Zustimmung in der Bevölkerung für diese Reform gering ist. Wenn es gelingt, zur Kritik auch klare Alternativen öffentlich zu benennen, könnte gerade eine All-Parteien-Koalition den fehlenden Rückhalt spüren.

(c) spw Verlag/Redaktion GmbH, spw 132, Juli/August 2003