Gefängnisse und Brücken

Die deutsche Einheit brachte das Ende der sozialistischen Errungenschaften der DDR, nun werden die sozialen Errungenschaften des Kapitalismus in Deutschland zu Grabe getragen. Neoliberalismus siegt?

Mit Lust wird in Deutschland der Verfall der Wirtschaft, die Überalterung der Gesellschaft und die fehlende Opferbereitschaft der großen Interessengruppen, allen voran der Gewerkschaften, beklagt. Wurde früher mit Repression diszipliniert, genügt heute das bloße Androhen von Reformen, um das Volk ach so qualifizierter, konsumfreudiger und manipulierter Individualisten in regierungsgenehme Depression zu versetzen. Der rheinische Kapitalismus ist erledigt, die Deutschen stehen vor den Trümmern des Nachkriegswohlstands. Brachte die deutsche Einheit das Ende der sozialistischen Errungenschaften der DDR, so werden nun die sozialen Errungenschaften des Kapitalismus zu Grabe getragen. Der Ostblock ist passé, und die Gewerkschaften als Gegenmacht sind ebenso gerupft wie die Partei mit dem großen S im Logo. The American Way des Überlebens gilt nun auch in Deutschland als alternativlos, der Neoliberalismus triumphiert. Vor allem ist es gelungen, die öffentliche Meinung umzukrempeln: Solidarität, Volkswirtschaft, Sozialpflichtigkeit aller Einkünfte sind sozialismusverdächtig - und der Sozialismus ist ein für alle mal tot.
Egal, ob Gesundheit, Rente, Pflege oder kommunale Einrichtungen - alles stehe auf dem Prüfstand, so die Mär. Da die Kassen leer seien und die 750 000 (meist west-)deutschen Einkommensmillionäre nicht zahlen wollen, können, dürfen, wird nach Hausfrauenart entschieden: Den Gürtel enger, und wenn jemandem zufällig die Luft wegbleibt, hat er Pech gehabt. Opfer bringen schließlich alle. Geredet wird über alles: Hüftgelenke bis 75 oder 85, Rentenkürzungen, Arbeiten bis 67 oder höher ... Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben.
Ein entscheidendes Reformpaket ist längst lautlos und konsequent auf dem Weg von der Planung zur Realisierung: die Zumutungen der Hartz-Kommission, in der geballter Unsachverstand über Dinge entschied, die deren Mitglieder wohl nie treffen werden. Das öffentliche Interesse hält sich in Grenzen. Da wurde zwar ein wenig die Decke gelüpft und deutlich, daß Arbeitslose künftig faktisch jede Arbeit annehmen müssen und im Weigerungsfall wesentliche Teile ihres Arbeitslosengeldes II (ALG II) verlieren würden. Selbst die künftige Höhe des ALG II ist bekannt, 297 beziehungsweise 285 Euro in West bzw. Ost, also der aktuelle Sozialhilfesatz. Übrigens, tags drauf später wurde etwas geschönt, indem die Pauschale für Einmalbedarfe von 16 Prozent eingerechnet wurde und so bei freundlicher Rundung 345 beziehungsweise 331 Euro herauskommen. Was regen sich die Betroffenen auf, es trifft ja eh nur diejenigen, die zu faul zum Arbeiten sind. Die anderen brauchen auch mehr Druck, denn in Deutschland hat immer noch jeder Arbeit gefunden, der welche sucht. Wen störtÂ’s, daß das 3. und 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz III und IV) genauso funktioniert wie das bisherige Sozialhilferecht, das bei dieser Gelegenheit auch modernisiert wird.
Was den meisten nicht klar ist: Die Rutschbahn in die Armut für abhängig Beschäftigte ist weit schneller und rücksichtslos geschmiert. Schon bisher war der Fall in die Sozialhilfe für viele ein Abstieg in meist dauerhafte Armut - was selbst die Bundesregierung begreift und wogegen sie Placebos ausgibt. Bislang sicherte der unbegrenzte Bezug der Arbeitslosenhilfe einer nicht geringen Gruppe noch bessere Lebensbedingungen. Damit wird Schluß sein. Nun erwischt es jeden nach der drastisch verkürzten Bezugsdauer von 12 beziehungsweise 18 Monaten Arbeitslosengeld. Er bekommt nun jene euphemistisch Arbeitslosengeld II genannte Stütze, zunächst mit einem zweijährigen abschmelzenden Zuschlag, um dann beim Sozialhilfesatz anzugelangen. Nur, auch den werden viele nicht bekommen, denn die Vermögensbeschränkungen sind - seit 2003 gültig - genauso restriktiv wie die für die bisherigen Sozialhilfe-empfänger - 200 Euro Vermögen je Lebensjahr frei, maximal 13 000 Euro. Nein, nicht ganz restriktiv, jeder Arbeitsfähige soll sich weiter sein Auto leisten, denn er muß ja dahin fahren können, wo Arbeit angeboten wird. Dafür können sich die Agenten der Bundesagentur für Arbeit an den Verwandten 1. Grades schadlos halten.
Insofern sind manche auch kritische Kommentare von gestandenen Politikern mehr als naiv, die zwar über den Wegfall der klassischen Stütze nach dem Bundessozialhilfegesetz klagen, sich aber über den Verwaltungsvereinfachung durch Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe freuen und darin erste Schemen einer sozialen Grundsicherung aufscheinen sehen.
Wer nüchtern den Arbeitsmarkt betrachtet, dem ist klar: Die Zerstörung weiterer Arbeitsplätze und mehr Arbeitslose sind vorprogrammiert. Wenn bundesweit fünfundzwanzig Arbeitslose auf eine freie Stelle kommen, ändert auch das Aufdecken aller verdeckten Stellen und die Schaffung neuer diese Relation, zumal in Krisenregionen, kaum etwas. Mini-Jobs, Ausweitung der Leiharbeit, auch Ich-AGs begünstigen die Zerstörung der Normalarbeitsverhältnisse, in die Qualifizierung der Arbeitslosen soll kaum mehr investiert werden. Der Fall von Kündigungsbarrieren kann das alles nur beschleunigen. Gleich nach der Dominanz des Profits kommt in dieser Gesellschaft die Arbeit - wenn, wann und wo sie der Unternehmer braucht.
Ob die geburtenschwachen Jahrgänge die Verhältnisse 2010 bessern, bleibt fraglich. Die alte Gewerkschaftslosung der Reduzierung der Arbeitszeit ist gerade in Ostdeutschland zu Grabe getragen worden und funktioniert nur noch andersherum - Verlängerung der Arbeitszeit für Einsparung von Stellen. Was neu entsteht, hat jüngst das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsinstitut bestätigt: Dreißig Prozent aller Beschäftigten haben schon jetzt Billiglohnstellen, die deren Inhaber eher zu Nachfragern ergänzender Sozialhilfe machen, statt die Kaufkraft im Lande anzukurbeln.
Was Schröder begonnen hat - Kohl wird sich selbstkritisch die Haare raufen -, ist nicht nur der radikalste Sozialstaatsumbau, das ist die neoliberale Zerstörung des Sozialstaates im Interesse des Kapitals. Die Chance, daran etwas zu ändern, ist im derzeitigen Politikgeschäft angesichts der faktisch regierenden Großen Koalition und der Kampfunfähigkeit der Linkssozialisten, vor allem aber der Gewerkschaften gering. Wer in dieser Situation selbst über die Umbaubedürfigkeit des Systems fabuliert und die Folgen verkennt, wird mitschuldig. Sozialer Tod auf Raten wird nicht gesünder, wenn er in gläsernen Rathäusern oder mit dem Erhalt einer Oper mehr begleitet wird. Die Millionen Arbeitslosen müßten vor des Kanzlers Waschmaschine stehen - und die Arbeitsplatzinhaber auch. Sonst bleibt in dieser Gesellschaft nur noch ein Konjunkturprogramm: der Bau von Gefängnissen und Brücken als Sicherungsmaßnahme für Beamte, Bauarbeiter, Bedürftige und Obdachlose.

in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 1. September 2003, Heft 18

aus dem Inhalt

Wolfgang Sabath: Deutschland, einig Opferland; Stefan Bollinger: Gefängnisse und Brücken; Reinhard Stöckel: Die Arbeit los und Avantgarde; Max Hagebök: Minderheitennötigung; Günter Krone: Lobbyshymne; Heinz W. Konrad: Paten ante portas; Klaus Hart, São Paulo: Ernterekorde im Tropenwald; Dokumentiert: Bildungsbürger an Herrn Kurt Tucholsky; Klaus Hammer: Unaufgeregt und unleidenschaftlich; Gerhard Wagner: Nürnberger Maskeraden; Kai Agthe: Alles OK in Apolda; cryptus, New York: Eisleriana; Claudia von Zglinicki: Kein Happy-End, kein Ausweg; Christian Funke: Alles über unter Wäsche