Die stille Katastrophe

in (13.09.2003)

Das Statistische Bundesamt meldet "einen neuen Spitzenwert": Im zweiten Quartal, wenn es warm wird und die Bäume ausschlagen und gewöhnlich die Beschäftigung zunimmt ...

... und die Politiker über den Aufschwung jubeln, ist im Jahre 2003 im Vergleich zum Vorjahr die Beschäftigung so rapide zurückgegangen wie noch nie zuvor im vereinten Deutschland: 646 000 Arbeitsplätze wurden abgebaut. Das bedeutet: 646 000 Menschen weniger erhalten Lohn; mitbetroffen sind die Familienangehörigen, insgesamt also mehr als eine Million Menschen. Entsprechend verringert sich die Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Wie die Lohnsumme sinkt auch das Aufkommen für die Sozialversicherung. Und dem Staat fließt weniger Lohnsteuer zu.
Nutznießer ist die Kapitalseite: Sie zahlt weniger Lohn und Abgaben. Aber nicht genug damit, daß sie sich auf diese Weise selber entlastet, verschaffen ihr die Politiker mit immer neuen "Reformen" zusätzliche Entlastung, indem sie sie von Abgabepflichten befreien und die Lohnabhängigen verpflichten, für mehr und mehr Lebensrisiken allein vorzusorgen und einen wachsenden Teil des Lohns an die privaten Versicherungsgesellschaften abzuliefern.
Die Kapitalseite klagt nicht über den Beschäftigungsabbau. Warum sollte sie klagen, wenn sie den Nutzen davon hat? Sie selber ist es ja, die die Stellen streicht und sich dessen nicht schämt. Und warum sollte sie sich schämen, da sie doch den Nutzen davon hat?
Wenn ein Manager Stellen streicht, gilt er als guter Manager; je mehr Stellen er streicht, desto höher steigt sein Ansehen. Und sein Einkommen. Er erhält Lehraufträge, Titel, Berufungen in staatliche Beratergremien.
Desgleichen sind Minister oder Landräte oder Bürgermeister, die möglichst viele staatliche Stellen streichen (in Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Theatern, Bibliotheken usw.), erfolgreiche Politiker. Die ganze Gesellschaft wetteifert um "neue Spitzenwerte" im Beschäftigungsabbau.
Die verbleibenden Beschäftigten verdienen nicht mehr, sondern im Durchschnitt weniger. Vor allem deswegen, weil sie zu einem wachsenden Teil auf Billigstellen beschäftigt werden. Möglichst unter Tarif. Möglichst mit Einzelverträgen, in denen sie auf alles verzichten, was Gewerkschaften je erkämpft haben. Und darum fließt noch viel weniger Geld ins Sozialsystem.
Einzelne sagen noch immer, der technische Fortschritt, der bewirkt, daß ein Produkt immer weniger lebendige Arbeit erfordert, müsse allen zugute kommen - durch Verkürzung der Arbeitszeit, durch Verteilung des Reichtums. Aber sie finden längst kein Gehör mehr. Jedenfalls nicht in den Medien. Im Gegenteil: Politiker, Publizisten, Professoren fordern, die Arbeitszeit zu verlängern: längere Wochenarbeitszeit, weniger Feiertage, späteres Rentenalter. So läßt sich der Beschäftigungsabbau noch ­ be­ schleunigen.
Irgendwann, irgendwie, irgendwoher soll der Aufschwung kommen. Nächstes Frühjahr? Übernächstes? Wir sollen nur stillhalten.