Globalisierter Antisemitismus

Editorial

Als Mitte Oktober das Gipfeltreffen der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Putrayha stattfand, ließ der gastgebende malaysische Regierungschef Mahathir Mohamad keinen Zweifel an ...

... seiner Gesinnung: "Die Europäer töteten sechs von zwölf Millionen Juden. Aber heute regieren die Juden diese Welt durch Stellvertreter. Sie lassen andere für sich kämpfen und sterben." Er wolle sich nicht länger mit dieser Bedrohung der Muslime abfinden: "1,3 Milliarden Menschen können nicht einfach von ein paar Millionen Juden ausgelöscht werden." Und so forderte er: "Wir brauchen Gewehre und Raketen, Bomben und Kampfjets, Panzer und Kriegsschiffe für unsere Verteidigung."
Ein Weltbild des Grauens, das der schon während der Asienkrise 1997 durch antisemitische Äußerungen aufgefallene Mahathir hier entwirft. Noch erschreckender aber ist, dass kein Vertreter der 57 OIC-Mitgliedsstaaten die Äußerungen des Premierministers kritisieren wollte. Im Gegenteil: Weder Afghanistans Präsident Hamid Karzai noch Ägyptens Außenminister Ahmed Maher oder PLO-Vertreter Farouq al-Kaddoumi konnten an der Rede etwas Schlimmes finden.

Die Vorkommnisse in Malyasia belegen einmal mehr, dass antisemitische Denkweisen weltweit verbreitet sind. Und es bleibt nicht bei verbaler Hetze gegen Juden. Das Stephen Roth Institute for the Study of contemporary Anti-Semitism and Racism an der Universität Tel Aviv klagte in seinem Bericht für das Jahr 2002 über einen "alarmierend großen Anstieg bei der Zahl gewalttätiger antisemitischer Vorkommnisse". Die meisten davon ereigneten sich in Westeuropa (insbesondere Frankreich und Belgien). Auch in Nordamerika und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kam es zu mehr antisemitischen Übergriffen als in früheren Jahren. Besondere Sorge bereitet den Antisemitismusforschern, dass sich die Gewalt nicht mehr ‚nurÂ’ gegen Synagogen und jüdische Friedhöfe richtet, sondern in wachsendem Maße auch Menschen jüdischen Glaubens tätlich angegriffen werden. Dabei haben die Wissenschaftler des Stephen Roth Institute die im Rahmen des Israel-Palästina-Konfliktes verübten Terroranschläge gegen israelische Zivilisten, deren antisemitische Motivation unübersehbar ist, noch nicht einmal berücksichtigt. Und hinsichtlich der Erfassung antisemitischer Vorkommnisse ohne physische Gewalt, wie z.B. Drohanrufe, Graffiti, Politiker-Statements oder hate sites im Internet, haben die Wissenschaftler ohnehin resigniert: Ihre Zahl sei viel zu hoch, um sie dokumentieren zu können.
Wenn wir uns in diesem Themenschwerpunkt vor allem mit dem Antisemitismus in außereuropäischen Ländern und in Russland befassen, dann keineswegs deshalb, weil wir vor den deutschen Realitäten die Augen verschließen wollen. An der Singularität der Verfolgung und millionenfachen Ermordung von Juden im Nationalsozialismus gibt es nichts zu relativieren; das Bewusstsein darüber ist grundlegende Prämisse aller Beiträge in diesem Heft. Mit unserer Auswahl der untersuchten Länder wollen wir ebenfalls nicht nahe legen, der Antisemitismus sei heute in der Täternation Deutschland nicht mehr relevant. Die Verzögerung der Entschädigungszahlungen an NS-ZwangsarbeiterInnen, die Rede von der "Auschwitzkeule", die (Mord-)Anschläge auf Menschen jüdischen Glaubens und auf jüdische Einrichtungen sowie die bis weit in die deutsche Linke verbreiteten Möllemannschen Formen der "Israelkritik" müssen alle alarmieren, für die der kategorische Imperativ Adornos seine Gültigkeit behalten hat: "Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." Wir teilen die Einschätzung von kritischen AutorInnen und Menschen jüdischen Glaubens, dass sowohl der latente Antisemitismus als auch seine Bekämpfung immer noch weitgehend verdrängte Themen in der deutschen Öffentlichkeit sind.
Trotz der Einsicht, dass gerade hierzulande nicht über Antisemitismus gesprochen werden kann, ohne hiesige Verhältnisse zu reflektieren, halten wir es für sinnvoll, verschiedene Formen des Antisemitismus in internationaler Perspektive zu betrachten. In früheren Zeiten der Solidarität mit den "Verdammten dieser Erde" ist es auch der iz3w-Redaktion kaum in den Sinn gekommen, sich mit Antisemitismus in Mexiko, Südafrika oder unter maghrebinischen MigrantInnen zu befassen. Wenn wir es heute tun, ist das einem realistischeren und ernüchterten Blick auf die Verhältnisse in den Ländern des Südens geschuldet. Mit der Feststellung, dass auch dort in unterschiedlichem Ausmaß antisemitische Strömungen existieren, geht aber keineswegs die Aufgabe internationalistischer Grundüberzeugungen einher. Denn in diesen Ländern gibt es nicht nur zahlreiche Menschen und Bewegungen, die bei ihrem Kampf gegen ungerechte Verhältnisse auf antisemitisch grundierte Argumente verzichten, sondern auch solche, die sich aktiv gegen antizionistische und antisemitische Propaganda wehren.
Die Hauptfragestellung der meisten Beiträge in diesem Themenschwerpunkt lautet: Welches sind die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe für die jeweils spezifischen Formen des Antisemitismus? Diese Frage greifen unsere Autoren und InterviewpartnerInnen in einer am Thema selbst orientierten Weise auf. Damit reagieren wir auf die kritikwürdige Entwicklung, dass der Kampf gegen Antisemitismus immer mehr zum Objekt von Hegemoniekämpfen innerhalb der Linken zu werden droht.

die redaktion

aus: iz3w 273