Renaissance kritischer Industriesoziologie?

Michael Schumanns neuere Aufsätze zu Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein

"Der Traum, den wissenschaftliche Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung in den verschiedensten Disziplinen geboren hat, sollte heute einen neuen Aufbruch zu wissenschaftlicher, ...

... theoretischer, kritischer Arbeit beflügeln. Im Vorwort zum ersten Band des Kapital spricht Marx von den ›Zeichen der Zeit‹, die noch nicht zu bedeuten brauchen, ›dass morgen Wunder geschehen werden‹. Sie zeigen aber, meint er, ›wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, dass die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist‹. Je weniger sich der Kapitalismus als ›fester Kristall‹ erweist, um so wichtiger wird die Aufgabe, seine Wandlungen zu beobachten, zu studieren, zu durchdenken."[1]
Gegen den Bedeutungsverlust industriesoziologischer Forschung in den vergangenen Jahrzehnten setzt Michael Schumann[2] die Prognose einer absehbaren Renaissance, gegen ihre Vereinnahmung durch die herrschende Unternehmenspolitik das Insistieren auf ihrer kritischen Funktion. Die Vermutung wieder wachsender Bedeutung begründet er damit, dass schon in der Vergangenheit Umbrüche und strukturelle Veränderungen der industriellen Arbeit der Industrie- oder Arbeitssoziologie Auftrieb und gesellschaftliche Beachtung beschert haben und wir uns gegenwärtig wieder mitten in einer Umbruchsituation befinden, die der Analyse und Erklärung bedarf. Die Betonung, dass den neuen Anforderungen nicht in affirmativer Weise entsprochen werden dürfe und ein Ende der kritischen Industriesoziologie nicht proklamiert werden könne, geht auf den normativen Anspruch des Autors zurück. Es sind demnach nicht nur die realen Probleme der aktuellen Entwicklung, die - wie es Hans Paul Bahrdt einmal formuliert hat - dem Fach vor die Füße geworfen werden, es ist auch die Überzeugung, dass theoretische Reflexion und empirische Forschung auf den zentralen Gebieten gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion geleitet sein sollten von der Vorstellung einer besseren Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Kritik meint dann wenigstens, nicht zur Zementierung schlechter Realität beizutragen und im denkbar günstigsten Fall Wege aufzuweisen, die zur allgemeinen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen führen können und Fortschritte ermöglichen bei der Herstellung gesellschaftlicher Vernunft.

Von diesen beiden Motiven, aktuelle Umwälzungen industrieller Arbeit zu analysieren und zu ihrer humaneren Gestaltung beitragen zu wollen, waren schon die großen Untersuchungen bestimmt, mit denen Schumann und das Göttinger Soziologische Forschungsinstitut (SOFI) bekannt und einflussreich geworden sind: die gemeinsam mit Horst Kern verfassten Studien "Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein" von 1970 und "Das Ende der Arbeitsteilung?" von 1984. Titel und Aufbau der jetzt vorgelegten Aufsatzsammlung knüpfen an die Fragestellungen und Befunde dieser inzwischen schon klassischen und seinerzeit lebhaft diskutierten Untersuchungen an. An den Anfang des Bandes ist das resümierende Schlusskapitel der Studie von 1984 gestellt, es folgen Aufsätze und kleinere Beiträge, die Michael Schumann in den letzten fünf, sechs Jahren verfasst hat und die sich durchweg auf weitere empirische Studien am SOFI beziehen. So lässt sich der Band lesen als eine Bilanzierung und Überprüfung der früheren Ergebnisse und Annahmen zur Entwicklung industrieller Arbeit.

Im Mittelpunkt stehen drei Fragenkomplexe, die mit unterschiedlicher Gewichtung in allen Beiträgen behandelt werden: 1. Haben sich die vor nunmehr zwanzig Jahren beobachteten Entwicklungstrends einer so genannten Neoindustrialisierung stabilisiert, und konnten die für den Taylorismus charakteristischen Formen von Heteronomie und "Entfremdung" durch neue Produktionskonzepte weiter zurück gedrängt werden? 2. Welche Auswirkungen veränderter Arbeitsbedingungen und Arbeitsgestaltung auf die Vorstellungen, Erwartungen und Haltungen der in der Industrie Beschäftigten lassen sich heute feststellen? 3. Ist es möglich und geraten, gezielte gesellschafts- und gewerkschaftspolitische Folgerungen aus den aktuellen Beobachtungen zu ziehen, und welche Rolle kann eine kritische Industriesoziologie dabei übernehmen?

Ad 1. Arbeitspolitische Unübersichtlichkeit

Gemessen am "Credo" neuer Produktionskonzepte (NPK), das heißt an den Zielen einer "innovativen Arbeitspolitik", kann von einer stabilen und flächendeckenden Entwicklung zugunsten erweiterter Selbstbestimmung und Selbstorganisation des Arbeitsprozesses, zugunsten eines "ganzheitlicheren" Zuschnitts der Arbeitsaufgaben und zugunsten einer umfassenden "Reprofessionalisierung" nicht die Rede sein. Ein Ende der Arbeitsteilung oder gar ein Ende der Entfremdung war von Kern und Schumann unter bestimmten Voraussetzungen ja für möglich gehalten worden, wenn denn die "privatistische Verengung" der NPK vermieden werde und die Auseinandersetzung über Modernisierung und Rationalisierung der Produktion "nicht schlicht auf den alten Pfaden des Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital" ausgetragen würden (S. 17, 22). Inzwischen muss konstatiert werden, dass ein Zurückdrängen von Heteronomie nicht nur beschränkt blieb auf einzelne Bereiche, insbesondere die technisierten Fertigungsbereiche, für die manuellen (Bandmontage z.B.) aber relativ bedeutungslos blieb, sondern insgesamt im Zuge der "Rekonventionalisierung" kapitalistischer Rationalisierung auf wesentliche Elemente innovativer Arbeitsgestaltung wieder verzichtet wird. So würden vielfach ergonomische Verbesserungen im Fertigungsprozess sowie die Flexibilität der Fertigungstechnik wieder zurück genommen, und in der Arbeitsorganisation werde zunehmend ein "Taylorismus in modernisiertem Gewand" praktiziert (S. 44f.). Der Umschwung führe zu verschlechterten Arbeitsbedingungen, zu einer Renaissance des fordistischen Fließbandes mit enger Taktbindung und erneuter strikter Trennung von Planung und Ausführung. "Alles in allem: Die neue Rationalisierungspolitik kontrastiert mit dem ›Geist‹ der innovativen Arbeitspolitik. Eigeninitiative, Partizipation, Verantwortlichkeit und diskursive Zielfindung werden obsolet, Produktivitätszugewinn wird über die Wiedereinführung von Hierarchie, Kontrolle und Exklusion gesucht." (S. 57)

Ob damit allerdings schon ein neuer Paradigmenwechsel in der Arbeitsgestaltung verbunden ist, sei noch nicht zu entscheiden. Für wahrscheinlicher hält Schumann ein Nebeneinander verschiedener Praktiken, je nachdem, welches "Verwertungskalkül" in der Unternehmung und im einzelnen Betrieb bestimmend sei, das kurzzeitorientierte shareholder-value-Kalkül oder das an einer Technologieführerschaft und langfristigem Ausbau von Produktionsintelligenz orientierte Verwertungskalkül der Neoindustrialisierung (vgl. S. 60). Auf die längerfristig beobachtbaren "epochalen" Umbrüche der Arbeitsgestaltung bzw. des kapitalistischen Rationalisierungsprozesses bezogen wird - in dem besonders lesenswerten Kapitel "Industriearbeit zwischen Entfremdung und Entfaltung" aus dem Jahr 2000 - das Bild einer Dreistufigkeit der Entwicklung entworfen und anhand schematischer Darstellung (gegliedert nach den vorherrschenden Managementprinzipien, den Organisationsmerkmalen und dem Charakter der Industriearbeit, S. 65, 69 und 73) veranschaulicht. Danach entspricht dem bis in die 1970er Jahre dominanten Produktionssystem des Taylorismus/Fordismus ein Vorherrschen von Entfremdung, dem Postfordistischen Produktionssystem, einsetzend in den 1980er Jahren, ein Zurücknehmen der Entfremdung und eine Zunahme von Entfaltungschancen in der industriellen Arbeit, und der seit den 1990er Jahren beobachteten Neuen Unübersichtlichkeit die Pluralisierung von Gestaltungskonzepten und ein Nebeneinander "alter" und "neuer" Formen von Entfremdung.

Ad 2. Pluralisierung von Solidarität

Die Frage, was aus dem traditionellen Arbeiterbewusstsein werde, wenn der Taylorismus seine Wirkkraft verliert, bzw. was von der Arbeitersolidarität gegenüber den Zumutungen kapitalistischer Ausbeutung bleibe, wenn innovative Arbeitspolitik auf mehr Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Fachkompetenz setzt, ist vor dem Hintergrund der skizzierten Unübersichtlichkeit oder Pluralität zu beantworten. Ganz offensichtlich hängen Veränderungen im Arbeits- und Arbeiterbewusstsein - mindestens auch - ab von den konkreten Arbeitserfahrungen in der unmittelbaren Produktion. Schumann differenziert deshalb zu Recht nach Anforderungen und Spielräumen, wie sie z.B. in unterschiedlicher Ausprägung in der Gruppenarbeit anzutreffen sind: je nachdem, ob sie eher "strukturinnovative" oder eher "strukturkonservative" Gestaltungsansätze realisiert haben (vgl. S. 32f.).

Es kann nicht überraschen, dass die Arbeitssituation um so positiver beurteilt wird, je mehr sie dem "Konzept einer selbstorganisiert-funktionsintegrierten Gruppenarbeit" entspricht (S. 78). Vielleicht schon weniger selbstverständlich ist, dass das auch dann noch gilt, wenn innovative Gruppenarbeit mit größerem Konkurrenzdruck, größerer Leistungsanforderung und höherer Belastung einher geht. Nach den Befunden von entsprechenden Untersuchungen am SOFI kann Schumann von einer einheitlichen Folgewirkung neuer Produktionskonzepte dennoch nicht sprechen. Auf der einen Seite seien Veränderungen des Arbeiterbewusstseins "evident": Verglichen mit dem arbeitspolitischen Konservativismus des traditionellen Lohnarbeiters im Taylorismus/Fordismus kann sich eine selbstbewusstere Einstellung als "Mitspieler" von Modernisierungs- und Rationalisierungsprozessen gerade bei den Belegschaften mit größerer Autonomie im Arbeitsvollzug durchsetzen (S. 89, 101). Auf der anderen Seite hat sich durchweg ein "Lohnarbeiterbewusstsein" erhalten: "Es ist erstaunlich, wie sehr sich trotz der Veränderungen ein Lohnarbeiterbewusstsein erhält, dessen Konturen nach wie vor ganz traditionell durch die Interessenwidersprüche von Kapital und Arbeit geprägt sind... Die neue Arbeitspolitik stellt diese Bestimmungsmomente des Arbeiterbewusstseins nicht still. Nach wie vor geht die Mehrheit der Arbeiter davon aus, dass die Unternehmen versuchen, die Effizienz auf Kosten der Arbeiter zu steigern; verbesserte Wirtschaftlichkeit gehe immer ›auf Knochen‹ der Arbeiter." (S. 102f.) "Auch Gruppenarbeit mit hohen Anteilen an Selbstorganisation und beachtlichen Freiheitsgraden bei der Bestimmung des eigenen Arbeitsverhaltens gilt nur als graduelle Statusverbesserung und hebt in den Augen der Mehrheit die grundsätzlich untergeordnete betriebliche Stellung des Arbeiters nicht prinzipiell auf. Der Arbeiter habe auf die betrieblichen Entscheidungen nach wie vor keinen Einfluss." (S. 104) Insofern werde aus dem Lohnarbeiter auch kein individualistischer "Arbeitskraftunternehmer". Die Einsicht, dass kollektive Interessenwahrnehmung weiterhin notwendig ist, bleibe jedenfalls für die Mehrheit virulent. Auch wenn sich damit keineswegs ein "systemveränderndes Klassenbewusstsein" verbinde (S. 106, 116).

Trotz solcher allgemeinen Grundzüge von Einstellungen zur Arbeit, zur betrieblichen Herrschaft und zur Solidarität in der Interessenwahrnehmung lassen sich weitere Differenzierungen, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten (oder einfach Unterschiede) beobachten. Weniger eng bezogen auf die Erfahrungen mit Gruppenarbeit knüpft Schumann (im Artikel über "Sozialstrukturelle Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Solidarität") an die bereits in der Studie von 1984 heraus gestellte Segmentierung der Belegschaften an. Dem Dahrendorfschen Bild vom Wolkenkratzer der Chancen und Möglichkeiten folgend, unterscheidet er neben der so genannten globalen Klasse fünf Segmente oder Strata, die - vom Betrieb ausgehend - als Teilkollektive der modernen Sozialstruktur angesehen werden könnten: die Modernisierungsmacher und die Modernisierungsmitgestalter, die von der Modernisierung Ausgesparten und die Modernisierungsbedrohten, schließlich die Modernisierungsverlierer, das sind die Dauerarbeitslosen und sozial Ausgegrenzten (S. 110ff., vgl. auch 148ff.). Da von einer Rückkehr der Zwei-Klassen-Gesellschaft die Rede nicht sein könne, sei auch ein einheitlicher Solidaritätsbegriff für die Lohnarbeiterschaft nicht mehr angebracht. Die aktuellen Untersuchungen zeigten vielmehr je verschiedene Ausprägungen und Formen solidarischer Haltungen. So hat sich "traditionelle, emotional gestützte Arbeitersolidarität" im Teilkollektiv der von Modernisierung bislang Ausgesparten (aber auch unter den Bedrohten, den "prekär" Beschäftigten) noch vielfach erhalten können, während neue Solidaritätshaltungen vor allem im Teilkollektiv der Modernisierungsmitgestalter (in den mittleren und höheren "Etagen") zu entdecken sind. Hier "entstehen aktiv ausgehandelte, an sozialer Vernunft orientierte Solidaritäten in Gruppen bzw. im Betriebskontext, die oft keinen direkten Bezug auf die ›Lager‹interessen des Lohnarbeiters haben. Es geht um rationale, Ungerechtigkeit vermeidende, letztlich Konsens erfordernde Entscheidungen, die oft zunächst konträre Interessenpositionen auch innerhalb der Gruppen, aber auch zwischen Gruppen und Betrieb, austarieren müssen." (S. 118)

Ad 3. Fortschrittsperspektiven kritischer Industriesoziologie

Die von Schumann charakterisierte "neue Unübersichtlichkeit" im Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitsgestaltungskonzepte und einer "Pluralisierung" solidarischer Einstellungen und Haltungen muss Folgen haben für die kollektive Formulierung und Vertretung gemeinsamer Interessen als Lohnabhängige. Die Gewerkschaften müssen nicht nur den Forderungen und Erwartungen hinsichtlich der unmittelbaren Arbeitsbedingungen höchst unterschiedlicher Gruppen gerecht werden, sie müssen sich auch "auf ein modernes, man kann auch sagen ›pluralisiertes‹ Solidaritätsverständnis der abhängig Beschäftigten einstellen" (S. 120). Bei der bloßen additiven Bündelung unterschiedlich ausgeprägter Interessen und Haltungen will es Schumann nicht belassen. Vielmehr verspricht er sich einen Erfolg gewerkschaftlicher Interessenpolitik nur unter der Voraussetzung, dass es gelingt, die divergierenden Perspektiven in eine "Vision gesamtgesellschaftlicher Solidarität" einzubinden, was wiederum bedeute, die Vertretung der Interessen "mit der übergreifenden Idee einer zivilgesellschaftlichen, republikanisch-demokratischen Perspektive verbinden" zu können. Unmissverständlich wird das nicht nur den Gewerkschaften gegenüber postuliert, sondern auch an die Adresse der Sozialdemokratie gerichtet, von der die Wiedergewinnung einer "gesamtgesellschaftlichen Fortschrittsperspektive" und eine "an der Vision einer besseren Gesellschaft orientierte Politik" erwartet wird (S. 121, 163).

Hier tritt das eingangs erwähnte normative Moment der Schumannschen Betrachtungen klar hervor. Als den übergeordneten Maßstab der Forschungen am SOFI bezeichnet er die "soziale Innovationsperspektive" (S. 172), die mehr umfasst als die Befürwortung innovativer Arbeitspolitik und einer angemessenen Berücksichtigung der neuen Qualifikationsprofile in der beruflichen Bildung (S. 124ff.). Soziale Innovation ist nicht zu haben ohne autonomere Formen der Arbeitsgestaltung. Aber es muss auch klar sein, dass - wie Richard Detje in dem sehr lesenswerten Vorwort zu der Aufsatzsammlung schreibt - die Frage nach der Zukunft der Arbeit für den weiteren gesellschaftlichen Entwicklungsgang zwar entscheidend ist, sich die Gesellschaft aber nicht einfach aus dem Fabriksystem heraus entwickelt. Die Berücksichtigung der vielfältigen Vermittlungsglieder vorausgesetzt, lässt sich dann mit Detje resümieren: "Die Krise des Fordismus zeichnete sich früh in den Entwicklungstrends der Produktionsarbeit ab; der Blick auf den Shop floor kann also helfen, Zukunftspfade zur Überwindung der gegenwärtigen Krise der Arbeitsgesellschaft zu identifizieren. Die vorliegende Publikation ist deshalb kein Kompendium industriesoziologischer Diskussionen im engeren Sinne. Es geht um nicht weniger als um Beiträge zur Analyse der Transformation industrieller Arbeit als Nukleus gesellschaftlicher Umgestaltungen." (S. 8)

Zwar sind die expliziten Äußerungen zur gesellschaftlichen Umgestaltung in den Aufsätzen doch eher vorsichtig und allgemein gehalten, aber angesichts der verbreiteten Tendenzen in der deutschen Industriesoziologie, großen theoretischen Diskussionen und grundsätzlicher Kritik aus dem Weg zu gehen, kann nicht nachdrücklich genug hervor gehoben werden, dass Schumann unverdrossen an den Ansprüchen der Kritischen Theorie fest hält und sie mit der Tradition einer kritischen Industriesoziologie (in ihrer Göttinger Spielart) zu verbinden sucht. "Kritische Arbeits- und Industriesoziologie will gesellschaftsrelevante Entwicklungsprozesse transparent machen und Bewegungsgesetze erkennen. Dabei leugnen wir die Empathie für das Schicksal der Beherrschten nicht. Göttinger Industriesoziologie sah immer ihre Aufgabe darin, auch Ideologiekritik zu leisten: eine einseitige, d.h. auch verschleiernde Wahrnehmung von Arbeit aufzudecken; aufzuklären über fortbestehendes Arbeitsleid; Gestaltungsmöglichkeiten in der Perspektive von Humanisierung anzudenken." (S. 63f.)

Die Theoriearbeit, die Schumann heute für besonders dringlich hält und in seinen Wortmeldungen immer wieder anmahnt, muss entsprechend grundlegend und umfassend sein. Keineswegs könne die einst so vehement vertretene Leitidee aufgegeben werden, sich als Industriesoziologe am Projekt einer zeitgemäßen Theorie der Gesellschaft zu beteiligen. Das spannt den Horizont von Theoriearbeit und Forschungspraxis sehr viel weiter, als es der Rückzug auf Theorien mittlerer Reichweite nahe legen würde, wie Schumann gegenüber Christoph Deutschmann kritisch angemerkt hat (S. 168, s. auch 164ff.). Um etwa die Ursachen der heute virulenten Transformation industrieller Arbeit nicht in doch pauschaler Weise einfach in der "Globalisierung", als "Chiffre für den Wendepunkt" (S. 162), zu sehen, bedürfe es gründlicher Untersuchung der veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen: der Gründe für das "verschobene Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt" ebenso wie der neuen "Kapitalverwertungsstrategien der Unternehmen" (S. 58, 72). Die beanspruchte "forschungsstrategische Öffnung" erhöhe den Theorieanspruch enorm: "Die geforderte Theorie der sozioökonomischen Entwicklung muss nicht nur die Logik ökonomischer Prozesse, also die durch die Kapitalverwertung stimulierte Suche nach möglichst effizienten Lösungen mit den dafür gewählten Produktionskonzepten zusammen bringen und damit entsprechend veränderter Handlungsbedingungen Modellwechsel erklärbar machen, sondern auch die Wirkungen und Wechselwirkungen auf das Segment der ›Nicht-Beschäftigung‹ einbeziehen." (S. 148, vgl. auch 173.)

Klärungsbedarfe

Angesichts dieser beharrlichen Forderung von grundlegender Theoriearbeit und Beibehaltung der kritischen Funktion der Industriesoziologie, ohne die auch "ihr praxisbezogener Anspruch (auf) größere Handlungsmöglichkeiten" (S. 171) nicht eingelöst werden kann, verwundert es ein wenig, dass Schumann wenig Bereitschaft zeigt, sich - womöglich selbstkritisch - auseinander zu setzen mit einer Reihe wichtiger Einwände gegen Konzeption und Begrifflichkeit der Studie zum Ende der Arbeitsteilung. Was in dem von Thomas Malsch und Rüdiger Seltz herausgegebenen Diskussionsband "Die neuen Produktionskonzepte auf dem Prüfstand" (edition sigma, Berlin 1987) von Fachkollegen und von Nicht-Industriesoziologen kritisch zur Sprache gebracht worden ist, mag in einzelnen Aspekten von Schumann tatsächlich berücksichtigt worden sein, explizit erwähnt wird es in den Aufsätzen nicht. Zentrale und teilweise sehr elaborierte Ausführungen hingegen - wie etwa die Kritik von Heiner Ganßmann am Arbeitsbegriff und am Verhältnis von technischer und ökonomischer Rationalität, oder die von Veit Bader am unklaren Bedeutungsgehalt von Entfremdung, Heteronomie und Autonomie sowie die scharfen Einwände von Lothar Hack gegen die Auswahl der "Kernsektoren" und vor allem gegen den Theoriemix aus Marxismus-Tradition und Phänomenologie - scheinen in keiner Weise ernst genommen. Darum aber kommen Analysen der Arbeit (nicht nur der industriellen) und ihrer kapitalistischen Rationalisierung nicht herum. Der dem Buch von Kern und Schumann vorgehaltene "vorzeitige Abbruch theoretisch-systematischer Klärungen" (Malsch) ist, so weit ich sehen kann, noch immer mit verantwortlich für die abnehmende Resonanz in der gegenwärtigen soziologischen Diskussion und für die auffallende Zurückhaltung vieler ihrer kritischen Repräsentanten.

Um es klar zu stellen: Die industriesoziologischen Arbeiten am SOFI, von denen Schumann mit seinen Aufsätzen beeindruckend Zeugnis abgelegt hat, gehören nach meiner Auffassung zu den Hoffnungsträgern in der Zunft. Und über deren Grenzen hinaus. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass eine kritische Industrie- oder besser: Arbeitssoziologie, die diesen Namen verdient, jenes Niveau der Diskussion aus den 1980er Jahren erst wieder einholen muss, damit man die Hoffnung auf ihre Renaissance vorbehaltlos teilen kann. Keiner wird behaupten wollen, diesem Anspruch zu genügen sei einfach. Worin könnte die Perspektive für theoretisch-systematische Klärungen heute liegen? Um welche gesellschaftsrelevanten Entwicklungsprozesse und Bewegungsgesetze handelt es sich, die in ideologiekritischer Absicht transparent zu machen sind? An Stichworten mangelt es nicht. Alle weisen darauf hin, dass mit einem engen Verständnis des Fachs, auch wenn es sich zur Zeit um eine Öffnung gegenüber dem Bereich der Organisationssoziologie bemüht, die ihm heute vor die Füße geworfenen Probleme nicht zu bewältigen sind. Das gilt in erster Linie für die Erklärung des epochalen Umbruchs in der gesellschaftlichen Betriebsweise (Marx), der sich seit der Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts als Krise des Fordismus-Taylorismus geltend macht, und zwar nicht nur in der Produktion, sondern auch in den Sektoren der Dienstleistungen, des Konsums und in der Lebensweise, im Alltag der Menschen jenseits der Arbeit. Klärungsbedarf besteht hinsichtlich der "Chiffren" flexibler Kapitalismus, Shareholder-Kapitalismus, HighTech-Kapitalismus, postfordistische Betriebsweise, um einige zu nennen.

Als zweites zentrales Thema ist die Entwicklung des Alltagsbewusstseins anzusehen, das zwar sehr viel mit den veränderten Arbeitsbedingungen zu tun hat und bei den einzelnen Schichten oder Gruppen der Beschäftigten auch verschiedene Ausprägung aufweist, aber nicht in einfacher Kausalitätsbeziehung aus der Arbeit und der Stellung im Produktionsprozess abgeleitet werden kann. Vielmehr ist dem Problem nachzugehen, wie der Neoliberalismus zur dominanten Ideologie des flexiblen Kapitalismus werden konnte, und wie der entsprechende "mächtige Diskurs" (Bourdieu) sich rückwirkend in den Einstellungen zur Arbeit niederschlägt, zum Beispiel gegenüber Maßnahmen eines Taylorismus in modernem Gewand. Insbesondere wäre damit auch ein Zugang gewonnen, wie die Widersprüchlichkeit extremer Individualisierung einerseits und kollektiver Abwehr von neuen Zumutungen (im Betrieb wie im sozialen Sicherungssystem) andererseits erklärt werden kann, und wie es zu neuen Formen solidarischen Handelns kommen kann.

Das Fazit liegt auf der Hand: Die Schumannschen Aufsätze geben Anlass zur Verbreiterung und Intensivierung theoretischer Diskussion und empirischer Forschungspraxis.

Sebastian Herkommer ist emeritierter Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin.


Anmerkungen:

[1] Alexander Gurland, Zur Theorie der sozial-ökonomischen Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft. Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, herausgegeben von Theodor W. Adorno, Stuttgart 1969, S. 62.
[2] Michael Schumannn, Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein. Kritische Industriesoziologie zwischen Taylorismusanalyse und Mitgestaltung innovativer Arbeitspolitik. VSA-Verlag Hamburg 2003. - Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Publikation.

aus: Sozialismus Heft Nr. 10 (Oktober 2003), 30. Jahrgang, Heft 270