Konfliktaufarbeitung

Richtungsauseinandersetzungen - nicht nur in der IG Metall

Die Eskalation der Richtungsauseinandersetzungen in der IG Metall im Juni/Juli ist ein Lehrstück für den Zustand der politische Kultur in dieser Republik. "Blockierer" gegen "Modernisierer" ...

... lautet die mediale Verarbeitung. Damit ist die erste Botschaft bereits unterschwellig verkündet: Ein Streit zwischen Akteuren recht schlichten Gemüts, die sich in etwas komplexeren gesellschaftlichen Verhältnissen nur tölpelhaft oder unterwürfig zu bewegen vermögen.
Die zweite Botschaft: Gewerkschaften sind zu Machtapparaten erstarrt, in denen die Diadochen um Rang und Pfründe kämpfen, immer zum Leidwesen der Mitglieder. Die dritte Botschaft: Eine tatsächliche Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft muss gegen solche Organisationen durchgesetzt werden, muss ihren Einfluss und ihr politisches Mandat nachhaltig beschneiden. Diese Botschaften sind an der politischen Öffentlichkeit und an der IG Metall nicht abgeperlt - sie müssen aufgearbeitet werden.

Die Krise der IG Metall ist durch diese Inszenierung selbstverständlich nicht ausgelöst worden und ist durch Medienschelte nicht zu lösen. Sie ist auch nicht erst dadurch entstanden, dass ein unliebsamer Kandidat für den Posten des Vorsitzenden mit medialer Unterstützung nachträglich abserviert werden sollte. Selbst die Tatsache von Richtungsauseinandersetzungen ist für sich genommen kein neues Faktum - unterschiedliche politische Strömungen hat es in den Gewerkschaften immer gegeben.

Neu ist etwas anderes: Zum einen eine Zuspitzung der politischen Auseinandersetzungen. Dabei verfolgen neoliberale Fundamentalisten die "Idee einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der Gewerkschaften nur noch eine marginale Rolle spielen".[1] Komplizierter ist für die IG Metall aber die Auseinandersetzung mit der zur "Neuen Mitte" gewendeten Sozialdemokratie, die sich von einer an sozialer Gerechtigkeit ausgerichteten Politik grundsätzlich absetzt. Zum anderen eine Neujustierung der Handlungsebenen (zwischen sektoraler Tarif- und Betriebspolitik) und der Politikfelder (Tarif-, Sozialpolitik), bei denen manifeste konzeptionelle Probleme gewerkschaftlicher Politik zutage treten, die nicht oder unzureichend bearbeitet sind.

Die IG Metall war in den vier Streikwochen im Mai/Juni mit einer massiven antigewerkschaftlichen Stimmung konfrontiert, die quer durch alle politischen Lager ging. Doch der Streik war nur Aufhänger, nicht Auslöser. Bereits unmittelbar nach der Bundestagswahl im September letzten Jahres begann eine Kampagne gegen den vermeintlichen Gewerkschaftsstaat. Zu den Schlussfolgerungen, die das rechtsbürgerliche Lager aus seiner Niederlage zog, gehört, dass Gewerkschaften selbst mit gebremstem Engagement nach wie vor eine nicht zu unterschätzende politische und organisatorische Kraft sind. Diese nachhaltig zu schwächen, indem man eines der Kerninstitute des gebändigten Kapitalismus, nämlich die Tarifautonomie, einschränkt, muss als eines der strategischen Zielen neokonservativer Politik erkannt werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine reine Machtauseinandersetzung, sondern auch um eine der politischen Repräsentanz. Denn die Krise des politischen Systems und die Erosion der parlamentarisch etablierten Parteien sind nur schwer zu bewältigen, solange es zur Gegenmacht fähige, demokratisch legitimierte Massengewerkschaften gibt, für die das politische Mandat nicht nur eine programmatische Worthülse sondern gesellschaftlicher Gestaltungsauftrag ist. Im Grunde ist die aberwitzige Propaganda von der vermeintlichen Machtfülle der Gewerkschaften nur die Kehrseite der Legitimationskrise des politischen Systems und Ausdruck des Bestrebens, Gewerkschaften auf den Status eines x-beliebigen Lobbyverbandes herunterzubringen.

Die Angriffe kommen nicht nur von der politischen Rechten. Auch die Neue Sozialdemokratie demontiert die institutionelle und politische Rolle der Gewerkschaften im sozialstaatlichen Kapitalismus. Diese war hierzulande zwar nicht entfernt so weitreichend wie in den skandinavischen Ländern, aber das "Modell Deutschland" basierte gleichwohl auf der anerkannten Bedeutung der Gewerkschaften in den tarif- und sozialpolitischen Verteilungsauseinandersetzungen, der Regulierung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsmarktes sowie dem Institut der betrieblichen und Unternehmensmitbestimmung. Für die Protagonisten der "Neuen Mitte" ist dieses Modell im "flexiblen Kapitalismus" nicht mehr zu halten. Bereits das von Klaus Zwickel propagierte "Bündnis für Arbeit" war aus der Sicht der Neuen Sozialdemokratie kein "Korporatismus auf gleicher Augenhöhe", sondern billigte den Gewerkschaften nurmehr eine subalterne Rolle zu. Schröders "Rat", die IG Metall möge sich an der IG BCE ein Beispiel nehmen, zielt auf eine wettbewerbspolitische Neubegründung der Verteilungspolitik, eine Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik auf expandierende Niedriglohnsektoren sowie auf die schrittweise Verlagerung öffentlicher auf private soziale Sicherung.

Tarif- und Betriebspolitik

In Frage steht damit die gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Orientierung der Tarifpolitik. Den Flächentarifvertrag haben der sozialdemokratische Kanzler und sein Wirtschaftsminister nicht erst im Arbeitskampf Ost, sondern bereits in der berühmten Agenda-Eröffnungsrede vom 14. März mit der Forderung nach generellen betrieblichen Öffnungsklauseln in Frage gestellt. Der Arbeitskampf Ost hat gezeigt, dass diese Auseinandersetzung tariftechnisch nicht zu lösen ist. Immerhin hatte die IG Metall in den Verhandlungen ein weitreichendes Modell zweistufiger Tarifpolitik angeboten: für wachstumsschwächere Betriebe eine deutlich verlangsamte Arbeitszeitverkürzung als für die ökonomisch Potenten. Was wäre die Folge gewesen, wenn die Unternehmerverbände diese tarifpolitische Revolution nicht abgelehnt hätten? Was wäre in diesem Fall vom Flächentarifvertrag Ost geblieben? Und welche Begehrlichkeiten wären im Hinblick auf die "Reform" des Flächentarifvertrages im Westen entstanden - auf der Basis eines Angebots der IG Metall?

Die Interventionen etlicher Gesamt- und Konzernbetriebsräte aus der Automobilindustrie in den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen haben gezeigt, wie brüchig das Verhältnis von Tarif- und Betriebspolitik ist. Dafür gibt es "objektive" Gründe: verschärfte Unternehmenskonkurrenz, wachsender Druck der Massenarbeitslosigkeit, flexible Produktionsmodelle und neue Herrschaftsmodi in den Betrieben. Aber ebenso wichtig ist die "politisch-subjektive" Dimension: die wettbewerbspolitische Einbindung von betrieblichen Interessenvertretungen und die "Verbetriebswirtschaftlichung" des Denkens auch in den Gewerkschaften sind Stichworte für längerfristige Versäumnisse, die die Abstimmung von Tarif- und Betriebspolitik haben prekär werden lassen. Die Betriebsratswahlen der letzten Jahre haben gezeigt, dass Betriebsräte nicht mehr ohne weiteres und in jedem Fall als Sprachrohr der Gewerkschaften und als gewerkschaftlicher Ansprechpartner für alte und neue Mitglieder angesehen werden können. Es ist geradezu grotesk, wenn sich in der Auseinandersetzung um die Führung und Orientierung der IG Metall GBR-Vorsitzende als Basis darstellen. Die Neuvermittlung von Tarif- und Betriebspolitik macht eine Vitalisierung der Vertrauensleutearbeit in den Betrieben erforderlich.

Inhaltlich müssen die Perspektiven solidarischer Tarifpolitik geklärt werden. Dabei geht es zum einen um die Dauerbaustelle "Reform des Flächentarifvertrages". Mit ERA[2] ist es endlich gelungen, längst überholte Spaltungslinien aufzuheben - es ist Aufgabe gewerkschaftlicher Betriebspolitik, dies umzusetzen (und darauf zu achten, welche sozialen Spannungen jenseits der alten "Kragenlinie" virulent sind). Mit "gute Arbeit"[3] ist ein Neuansatz für die Humanisierung der Arbeit entwickelt worden, der gegen die Unternehmensstrategien der "Internalisierung des Marktes" stark gemacht werden muss. Offen sind die arbeitszeitpolitischen Perspektiven. Die Niederlage im Arbeitskampf Ost kann nicht heißen, sich nun gänzlich von kollektiver Arbeitszeitverkürzung zu verabschieden. Ein Fehler war, dass ein gesamtgesellschaftliches Projekt auf den Aspekt der Ost-West-Angleichung verkürzt und auf eine Tarifauseinandersetzung Ost beschränkt wurde. So konnte es gegen massive Widerstände keine hinreichende Ausstrahlungskraft entwickeln und zu keinem Gesamtanliegen der IG Metall werden; vielmehr war es selbst Spitzenfunktionären damit möglich, sich aus der Auseinandersetzung herauszustehlen. Aber auch in den Betrieben müssen die Reklamations- und Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz gestärkt werden, damit Marktdruck sich nicht in Arbeit ohne Ende umsetzt. Die notwendigen "Haltegriffe" und "Leitplanken" kann eine qualitative Flächentarifpolitik bieten.[4]

Politische Ökonomie

Überzeugen müssen die Gewerkschaften auch in ihrem anderen "Kerngeschäft": der Verteilungspolitik. Zur Streikauswertung Ost gehört, dass die IG Metall in allen ihren Gliederungen (Vorstand, Bezirksleitungen, Verwaltungsstellen) die ökonomische Situation falsch eingeschätzt hat. Aber das bezieht sich nicht nur auf die Betriebe zwischen Ostsee und Erzgebirge, sondern gilt auch im Westen. Seit drei Jahren stagniert die Wirtschaft, was nicht auf vermeintlich zu hohe Kosten sondern auf unzureichende Nachfrage zurückzuführen ist. Aufgrund des langjährigen Falls der Lohnquote und stagnierender Realeinkommen in den 1990er Jahren reicht die gesellschaftliche Nachfrage nicht aus, die im New-Economy-Boom geschaffenen Kapazitäten auszuschöpfen. Zumal Sozialabbau und die fortwährende Kürzung öffentlicher Investitionen den Binnenmarkt weiter schrumpfen lassen.

AllÂ’ das ist nicht neu, gehört zur gewerkschaftlichen Standardkritik - und wird nicht so ernst genommen. Jedenfalls dann, wenn sinkende Lohnnebenkosten auch als gewerkschaftliche Zielstellung zum Abbau von Arbeitslosigkeit propagiert werden. Die Einschätzung der ökonomischen Lage ist zu einem folgenlosen Eröffnungsritual von Tarifverhandlungen geworden. Politische Ökonomie, ohne die Verteilungspolitik eigentlich nicht denkbar ist, spielt in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit kaum mehr eine Rolle, sodass es nicht verwundert, dass selbst in der Organisation die Antwort auf die einfache Frage, in welchem Korridor sich die Verteilungspolitik bewegen kann, unklar ist. Doch mit Formelkompromissen (kurzfristig sei Umverteilung durch Tarifpolitik nach wie vor möglich, langfristig aber nicht) überzeugt man nicht - nicht die Mitglieder in der Organisation, noch die potenziellen Mitglieder in den Betrieben, noch die Bündnispartner in der Gesellschaft.

Die politischen Antworten auf die objektiven Ursachen der Defensive der Gewerkschaften stehen aus. Dies ist Ausdruck einer konzeptionellen Schwäche, aber auch Ausdruck davon, dass man in der Vergangenheit - bis hin zum halbherzigen Widerstand gegen die Agenda 2010 - öffentliche Kontroversen über Zukunftsfragen eher gescheut hat. Überzeugend war das nicht, eher lähmend.

Die Zivilgesellschaft erobern

Mit der Transformation der Sozialdemokratie in eine Partei der "Neuen Mitte", für die soziale Gerechtigkeit nicht mehr der Kitt der (Um-)Gestaltung einer kapitalistischen Gesellschaft ist, ist der IG Metall ein historischer Weggefährte im politischen Raum abhanden gekommen.[5] Ob das zu korrigieren sein wird, ist auf absehbare Zeit schwer zu sagen.

Deshalb bleibt den Gewerkschaften realistischerweise überhaupt nichts anderes als eine Doppelstrategie übrig. Zum einen müssen sie in den Betrieben und Unternehmen den Anspruch auf umfassende Interessenvertretung der Lohnarbeit - der Höherqualifizierten wie der prekär Beschäftigten - erneuern und der Ausgrenzung der Arbeitslosen entgegenwirken. Im "flexiblen Kapitalismus" hängt die Zukunft von einer sozialen Neubegründung der im Fordismus gewachsenen Einheitsgewerkschaft ab. Gleichzeitig muss das zivilgesellschaftliche Engagement verstärkt werden. Im Vorfeld des politischen Systems müssen sich die Gewerkschaften in die hegemonialen Auseinandersetzungen einmischen, soziale und politische Kräfteverhältnisse beeinflussen, auf Bündnispartner zugehen.

Die Abwehr von Spaltungsversuchen, die sowohl von der politischen Rechten wie von der neuen Sozialdemokratie unternommen werden, muss in einer Art "historischem Kompromiss" münden, in strömungsübergreifenden politischen Projekten, die in der Zivilgesellschaft Ausstrahlungskraft entfalten. Das ist auch die Lehre aus den Kämpfen in Österreich, Italien, Frankreich und Spanien. Dort haben es die Gewerkschaften mit rechtskonservativ bis rechtspopulistischen Regierungen zu tun, für die das "Argument" der Konservierung eines "sozialen Friedens" wenig zählt, und die sich auch durch Generalstreiks nicht kurzfristig in die Knie zwingen lassen. Überzeugungskraft heißt auch dort Ringen um Mehrheiten in der Zivilgesellschaft.

So wie in der Gesellschaft Kontroversen benannt, erklärt und ausgefochten werden müssen, so muss auch in der Gewerkschaft eine offene Diskussionskultur gepflegt werden, in die sich Mitglieder und Funktionäre - und nicht nur GBR-Vorsitzende - einbringen können. Eine pluralistische Führungsspitze könnte gemeinsam mit dem Gesamtvorstand einen Beitrag dazu leisten, wenn sie derartige Prozesse zu organisieren weiss.

Otto König ist 1. Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen, und Mitglied im Vorstand der IG Metall. Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.


Anmerkungen:

[1] Rainer Hank, Der Zerfall, in: FAZ vom 2.7.2003.
[2] Siehe den Beitrag von Christoph Ehlscheid und Armin Schild in diesem Heft.
[3] Vgl. Jürgen Peters/Horst Schmitthenner (Hrsg.), gute arbeit - menschengerechte Arbeitsgestaltung als gewerkschaftliche Zukunftsaufgabe, Hamburg 2003.
[4] Vgl. den Ansatz von Steffen Lehndorff auf der arbeitszeitpolitischen Konferenz der IG Metall 2002.
[5] Vgl. Detlef Hensche, Wozu noch Gewerkschaften?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8-2003, S. 903-906.

Aus: Sozialismus Heft Nr. 9 (September 2002), 30. Jahrgang, Heft Nr. 269