Taschenfaust

Jede Reform hat ihre Verlierer und Gewinner. Die Sozialdemokratie in Deutschland als der eifrige Erfüllungsgehilfe der neoliberalen Herrschaft, die das tut, was der Kohl sich nicht getraute.

Die Bekannte hatte eine Überweisung. Sowas heißt "Eingriff". Früher wurde das im Krankenhaus gemacht. Gewöhnlich rückte man am Montag ein, es wurden die obligaten Untersuchungen vorgenommen, am Dienstag erfolgte der "Eingriff", und Freitag mittag ging man nach Hause. Das war früher, in "Friedenszeiten", oder, wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann kürzlich so trefflich bemerkte, in der Zeit der "jüdisch-bolschewistischen" Herrschaft in der DDR. Jetzt herrschen Freiheit und marktliche Effizienz. Der "Eingriff" findet ambulant statt. Die Bekannte war gerade zur Einweisung bei der dortigen Anästhesistin: Sie solle sich ein Laken mitbringen, möglichst sauber, etwas zu essen, für den Fall, daß sie nach dem Aufwachen aus der Narkose etwas essen wolle, und wenn sie gar auch noch trinken möchte, wäre eine Flasche Wasser angebracht, möglichst Stilles Wasser. Das solle sie ebenfalls mitbringen.
Solche Geschichten kannten wir aus "Drittweltländern": Ein Familienmitglied liegt im Krankenhaus, die Anverwandten umsorgen den Kranken, wechseln den Verband, so wie der Arzt es sagt, kochen, pflegen und waschen ihn. Die Metamorphosen der "Reformen" hierzulande laufen auf die Einführung von "Drittwelt"-Verhältnissen hinaus, zumindest für "die unten", "die oben" machen mit jeder der "Reformen" ihr Geschäft.
Die Bekannte hatte noch an ihrem Auto zu tun, da sah sie, wie die Anästhesistin schnellen Schrittes aus dem Hause eilte, angetan mit einem schicken Pelzmantel, und in den Porsche stieg. Hätte George Grosz dies gezeichnet, würde man "Klischee" unterstellen. Die Realität von heute entspricht aber offenbar wieder dem Klischee von 1923. Jede Reform in diesem Schröder-Deutschland hat ihre Verlierer und ihre Gewinner. Nur kommen die Verlierer nicht mehr auf die Idee, SPD zu wählen.
Als ich die ersten Wahlergebnisse der Kommunalwahlen in Brandenburg vom 26. Oktober 2003 hörte, wurde bereits mitgeteilt, daß die Wahlbeteiligung niedrig wie nie gelegen habe. Am Ende waren es 45,99 Prozent. Zunächst hatte ich gedacht: Das ist der Abschied der Ossis vom westdeutschen Wahlsystem der inszenierten Parteienkonkurrenz. Doch schon bei den Landtagswahlen in Bayern am 21. September hatte es einen - für westdeutsche Verhältnisse beträchtlichen - Einbruch in der Wahlbeteiligung gegeben: Sie war auf 57,3 Prozent gesunken, um 12,5 Prozent gegenüber 1998 und auf den niedrigsten Stand seit Kriegsende.
Schröder hatte kurz zuvor seine Streichungsprogramme verkündet; die Sozialdemokratie in Deutschland als der eifrige Erfüllungsgehilfe der neoliberalen Herrschaft, die das tut, was der Kohl sich nicht getraute. Als ich 1994 und 1998 die Wahl der SPD für eine gute Idee hielt, hätte ich nie gedacht, daß sie diese Rolle spielen würde. Aber in gewissem Sinne ist es ja nur der Typ Noske, hier nicht mit den Erschießungskommandos der Freikorps, sondern mit dem Gesicht des Gerichtsvollziehers im Kreuzberg von heute, der erst barmt, wie leid ihm das alles tut, und dann die schäbigen Möbel des Proleten auf die Straße stellen läßt.
In Bayern bedeutete der Rückgang, daß bei diesen Wahlen, da angeblich die CSU so grandios gewonnen hatte und die SPD dabei war, das 18-Prozent-Modell in die Tat umzusetzen, die CSU gut drei Millionen Wählerstimmen und die SPD etwas über eine Million erhalten hatte. Nichtwähler gab es 3,87 Millionen, das heißt die Wähler von CSU und SPD zusammen waren nur wenig mehr als die Nichtwähler. Gibt es dafür eine plausible Erklärung, außer der, daß die Wähler nach der Ingangsetzung der neoliberalen Offensive keine Alternative mehr zu sehen vermögen? Rot-Grün und Schwarz-Gelb ihrerseits versuchen sich zu übertreffen in der öffentlichen Bekundung, es gäbe "keine Alternative".
Und die PDS? In Brandenburg regiert sie ja nicht, und sie hat weder Bankenbürgschaft betrieben noch erklärt, daß die Wasserpreise erhöht werden müssen, damit die Klienten von Frau Fugmann-Häschen (Ist der Name in Berlin noch präsent? Sie hatte damals die Berliner Wasserwerke verscherbelt.) auf ihre verfassungswidrige Rendite kommen, wie das in Berlin der PDS-Senator Wolf, sekundiert vom entsprechenden Partei- und Fraktionsvorsitzenden, gerade bekundet hat.
In Brandenburg war es ein aufschlußreicher Wettbewerb um die Wählermobilisierung. Der CDU gelang sie am besten. 81 Prozent der CDU-Wähler hatten auch schon 1998 diese Partei gewählt. Bei der SPD waren es gerade noch 37,7 Prozent und bei der PDS 61,5 Prozent. Das heißt, hinter dem Rückgang der Wahlbeteiligung - bei fast gleichbleibendem Wähleranteil von über 21 Prozent - verbirgt sich auch bei der PDS ein realer Verlust von über einem Drittel der Stimmen.
Auf dem 1. BürgerInnen- und Sozialkonvent in Berlin am 30. Oktober meinte einer der Anwesenden aus der Gruppe der postmodern produzierten Stadtarmut: "Wir haben alle die Faust in der Tasche, und wir warten darauf, daß einer das Signal gibt, daß wir sie aus der Tasche holen." An Gabi Zimmer gewandt, die auf dem Podium saß, sagte er, von der PDS erwarte das ja niemand mehr. Zumindest nicht in Berlin. Und dafür kann Gabi Zimmer ja nun wirklich nicht. Aber sie hatte sich für die PDS auf das Podium gesetzt. In Frankreich hatten die Trotzkisten die Arbeitslosen auf die Straße gebracht und anschließend die Kommunisten in der Wählerzustimmung überholt. Aber vielleicht gibt es ja in Deutschland eine Mobilisierung jenseits von Sozialdemokratie, kommunistischer Nostalgie und Trotzkismus. "Eine andere Welt ist möglich!" Vorausgesetzt, genügend Menschen tun dafür etwas.

in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 10. November 2003, Heft 23