Die Befreierinnen befreien sich selbst

Frauenpolitik in Venezuela zwischen Fortschritt und nationaler Mobilisierung

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez ist wegen seines Populismus höchst umstritten. Doch eines muss man ihm lassen: Unter seiner Ägide finden bemerkenswerte soziale Reformen statt. ...

... So stärkt die staatliche Frauenpolitik beispielsweise die Rechte von (Haus-)Frauen und ermöglicht unbürokratisch Kredite an Kleinunternehmerinnen. Doch die Förderung von Frauen dient auch problematischen Zielen wie der Bevölkerungskontrolle. "Frauen kann man nicht kommandieren." Minutenlang ertönt tosender Beifall von den vollbesetzten Rängen des Nationaltheaters "Tereza Careno" in Caracas. Hugo Chávez hält inne, geht einen Schritt vom Rednerpult zurück und genießt die Wirkung des ersten Satzes seiner Rede zur Eröffnung des Weltfrauenforums zur Solidarität mit Venezuela. Mehr als 1.500 Vertreterinnen von venezolanischen und internationalen Frauenorganisationen waren im September 2003 zum Auftakt des Kongresses angereist. Gewidmet war er Manuela Saenz, die in Venezuela unter dem Namen La Manuelita als Lebensgefährtin des südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simon Bolivar bekannt ist. "La Manuelita griff vor Simon Bolivar zu den Waffen, um den Kampf für die Unabhängigkeit unseres Landes zu führen", fährt Chavez fort. "Sie ist die Befreierin des Befreiers. Deswegen sagen wir in Venezuela heute: Neben jedem großen Mann steht eine große Frau!" Blumen fliegen auf die Bühne, Transparente werden hochgehalten, und die Jubelchöre aus dem Publikum wollen auch während der folgenden drei Stunden nicht enden. So lange dauert die Ansprache des venezolanischen Staatschefs, länger als die aller Rednerinnen vor ihm zusammen. Man mag im Auftritt des Präsidenten als glamouröser Popstar der Klassenkampfrhetorik die Instrumentalisierung von Frauen für ein pro-chavistisches Spektakel der nationalen Einheit sehen, das Assoziationen mit Kuba weckt. Tatsächlich gehören die venezolanische Frauenbewegung, die mehrheitlich aus Intellektuellen der Mittelschicht besteht, aber auch die in Basis- und Stadtteilgruppen organisierten Frauen der marginalisierten Bevölkerung - der so genannten clases populares - zu den überzeugtesten Chávez-Anhängerinnen. Das liegt ohne Zweifel daran, wie der Präsident die Frauen seiner bolivarischen Republik anruft. Immer wieder verweist er auf die besonderen Verdienste von Frauen am Herd, in den Stadtteilen und auf der Straße während der beiden großen Krisen seiner Amtszeit: dem Putsch vom April 2002 und dem so genannten Streik der Unternehmer beim Jahreswechsel 2002/03.

Revolutionäre Verfassung

Zu politischen Krisenzeiten hatten die venezolanischen Frauen in den nationalistischen und nationalrevolutionären Diskursen schon immer ihren Platz als Rückgrat der Nation. Doch Chávez ist bei der venezolanischen Frauenbewegung und den Frauen der clases populares auch aus einem anderen Grund beliebt: Wegen der staatlichen Frauenpolitik. Sie soll weit über Quotenregelungen hinausgehen und mit dem Ziel der "internen, nachhaltigen Entwicklung" in der angestrebten Staatsform der "partizipativen Demokratie" verankert werden. In den Augen vieler hat Chavez dafür mit der neuen Verfassung vom Dezember 1999 den Rahmen geschaffen. Zur Umsetzung der staatlichen Frauenpolitik wurden das "Nationale Fraueninstitut" (INAMUJER) und die eng mit ihm kooperierende "Nationale Bank für die Entwicklung der Frau" (BANMUJER) gegründet. Nach dem Wahlsieg von Chávez im Dezember 1998 schlossen sich fast fünfzig, höchst unterschiedliche Frauenorganisationen zur Koordination der Frauen-NGOs zusammen, darunter das Zentrum für Frauenforschung der Zentraluniversität von Caracas, die Einheit der schwarzen Frauen Venezuelas, die Zirkel organisierter Frauen aus den Armenvierteln (Barrios) und unabhängige Gewerkschafterinnen. Die Koordination erarbeitete einen Forderungskatalog und drängte mit Erfolg darauf, an der verfassungsgebenden Versammlung beteiligt zu werden. Maria León, die Direktorin des INAM, sieht den größten Erfolg der venezolanischen Frauenbewegung darin, dass "hundert Prozent unserer Forderungen in die neue Verfassung aufgenommen wurden." Auch die Gründung des INAMUJER und der BANMUJER wurden in der neuen Magna Charta festgelegt. Deren Herzstück stellt für die Frauenbewegung der Artikel 88 dar, in dem der Staat die unbezahlte Hausarbeit als "ökonomische Aktivität" anerkennt, die "Mehrwert, gesellschaftlichen Reichtum und sozialen Wohlstand" schaffe. Mit dem Satz "Hausfrauen haben ein Recht auf soziale Absicherung" schließt der knapp gehaltene Absatz. Damit ist er in gewisser Hinsicht revolutionär: Er stellt nicht nur einen Frontalangriff auf die geschlechtliche Arbeitsteilung der traditionellen bürgerlichen Gesellschaft dar, in der die Frauen und die ihnen zugeschriebenen Tätigkeiten in der Familie, im Haushalt und auf kommunitärer Ebene dem Bereich des Privaten zugeordnet und damit unterbewertet wurden, wenn sie nicht gar als quasi natürliche Ressource galten. Der Artikel 88 entschleiert auch neoliberale Diskurse, die die Einbindung von Frauen in die klassischen Bereiche des Öffentlichen propagieren, sprich in den Arbeitsmarkt, in den Marktkreislauf sowie in den Institutionen der politischen Entscheidungsmacht. Die reproduktiven oder fürsorgenden Tätigkeiten werden dabei allerdings ausgeblendet, auch wenn sie nach wie vor im Verantwortungsbereich von Frauen liegen.

Institutionalisierter Pluralismus...

Maria León, die seit vierzig Jahren der kommunistischen Partei Venezuelas angehört und aus einem der Barrios kommt, die sich an den Bergen rund um das Zentrum von Caracas hochziehen, sieht im Artikel 88 die Grundlage für ein fortschrittliches Sozialversicherungsgesetz: "In der neuen Verfassung werden die Hausfrauen nicht nur als Arbeiterinnen anerkannt, sondern sie haben auch das Recht auf eine Rente erhalten, ebenso wie die Fabrikarbeiterin ein Recht auf eine Rente hat." So stehe im Zentrum der Arbeit des INAMUJER, dass dieses Recht im derzeit diskutierten Entwurf für ein neues Sozialversicherungsgesetz umgesetzt wird. INAMUJER, das im Jahre 2000 seine Arbeit aufnahm, ist eine Regierungsinstanz und verfügt über einen Etat von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Ziel sei, dass alle Politiken und Programme der Regierung einen Gender- Fokus enthalten, erklärt Maria León. Die Arbeitsschwerpunkte des Institutes entsprechen denen des so genannten "Nationalen Planes für soziale und ökonomische Entwicklung". Dieser soll eine Konkretisierung dessen darstellen, was mit dem Begriff der "internen nachhaltigen Entwicklung" in der Verfassung als Staatsziel verankert ist. Vor allem in den Bereichen Basisgesundheit, Alphabetisierung und einer von Importen unabhängigen Lebensmittelversorgung wird die Umsetzung des Planes seit dem Frühjahr 2003 forciert. Mit der Wiederbelebung der Landwirtschaft sowie der Förderung von Produktionsgenossenschaften und Kleinstunternehmen soll einer Schwachstelle der Chávez-Regierung begegnet werden: das Land importiert nach wie vor 70 Prozent aller Lebensmittel, und die Importeure gehören mehrheitlich der Opposition an. So ist die aktuelle Projektoffensive vor allem als Reaktion der Regierung auf die Versorgungskrise zu sehen, die der anti-chavistische Unternehmerstreik ausgelöst hatte, um die Regierung zu destabilisieren. Dessen Folgen trugen vor allem die Bewohner der Barrios. Während das ad hoc Basisgesundheitsprogramm Barrio Adentro und Misión Robinson, ein Alphabetisierungskonzept im Schnellverfahren, ohne Geschlechterfokus am INAMUJER vorbei gestartet wurde, ist das Institut erfolgreich, was die Schaffung von Einkommensmöglichkeiten für Frauen sowie die Vereinheitlichung der organisierten Frauen betrifft. Diese Vereinheitlichung ist Programm und richtet sich vor allem an die Frauen der clases populares, der stärksten Basis von Chavez. So sollen in jedem Stadtteil, in jeder Gemeinde und in jedem Bundesstaat Ableger des nationalen Fraueninstitutes gegründet oder bereits bestehende lokale und regionale Fraueneinrichtungen in INAMUJRERES umgewandet werden. Über 10.000 so genannte Treffpunkte für Frauen hat das Team von Maria León landesweit bereits aufgebaut. "Das sind Basisorganisationen, in denen der Staat mit der zivilen Gesellschaft, in diesem Fall mit den Frauen, zusammen trifft", erzählt León und nennt eine Zahl von 100.000 Frauen als Basis des Institutes. "Das INAMUJER ist zu einem Instrument der Mehrheit der Frauen in diesem Land geworden."

... oder Chávistische Kontrollinstanz?

Was die Direktorin des INAMUJER als Demokratisierung ihres Institutes bezeichnet, "um sicher zu stellen, dass die Rechte der Frauen auch auf lokaler Ebene umgesetzt werden", kann jedoch auch zum Instrument der Kontrolle und Durchführung staatlicher bevölkerungspolitischer Programme werden. Die Regierung hat beispielsweise einen so genannten territorialen Bereich ihrer Politik definiert, der "eine ausgewogene Verteilung der Bevölkerung über das gesamte venezolanische Territorium" zum Ziel hat. Man will der unkontrollierten "Übervölkerung" der Städte begegnen und gleichzeitig die landwirtschaftliche Produktion wieder ankurbeln, die seit dem Ölboom in den 70er Jahren weitgehend brach liegt. Das INAMUJER unterstützt also im Grunde eine Umsiedlungskampagne, indem sie über ihre lokalen Institute und Treffpunkte Frauen versucht zu motivieren, aus den Armenvierteln der Städte aufs Land zu ziehen. Dafür gibt es als Anreize eine besondere Rente für Kleinbäuerinnen und Landarbeiterinnen sowie eine bevorzugte Kleinkreditvergabe der nationalen Frauenbank für ‚produktive ProjekteÂ’ von Frauen auf dem Land. Die eng mit dem INAMUJER kooperierende "Nationale Bank zur Entwicklung der Frau" (BANMUJER) wurde im März 2001 von Chávez offiziell eröffnet. Sie ist die erste halbstaatliche Einrichtung dieser Art auf der Welt und Teil des neuen weit verzweigten venezolanischen Kleinkreditwesens, das sich vor allem an Frauen richtet, um sie in den internen Marktkreislauf einzubinden. BANMUJER wird von ihrer Präsidentin, der Volkswirtschaftlerin Nora Castañeda, als Hauptinstrument zur Bekämpfung der Frauenarmut in Venezuela bezeichnet, die bei etwa 60 Prozent liegt. Die Kleinkredite zwischen 300 und 500 Euro pro Person richten sich vor allem an Frauen in extremer Armut. Gefördert werden seit Ende des Unternehmerstreikes in Übereinstimmung mit den Regierungszielen vor allem landwirtschaftliche und andere ‚produktiveÂ’ Projekte auf dem Land. Bis Ende letzten Jahres genehmigte BANMUJER 27.000 Kleinkredite für Kooperativen und Kleinstunternehmen mit maximal neun Mitarbeiterinnen. Es müssen keine Bürgschaften hinterlegt werden, sondern die Kreditnehmerinnen bürgen gegenseitig mit ihrem Wort. 15.000 Kleinkredite wurden bereits ausgezahlt und etwa 10 Millionen Euro dafür bereitgestellt. Nora Castañeda hält die Frauenbank schon jetzt für einen großen Erfolg. Nicht nur, weil die Rückzahlungsmoral sehr gut sei, sondern vor allem, weil sie die Schaffung von Selbstbeschäftigung (autoempleo), das allgemeine Empowerment der Frauen sowie eine soziale und solidarische Ökonomie fördere. "Autoempleo bedeutet, dass du dir mit einer kleinen Gruppe selbst deine Arbeit schaffst, solidarisch arbeitest, aber auch, dass du dich selbst um deine Gesundheit und eine verantwortliche Familienplanung kümmerst", erklärt Castañeda. "Deshalb bieten wir nicht nur Kleinkredite, sondern auch Workshops zur Projektentwicklung sowie zu reproduktiver und mentaler Gesundheit an, denn viele Frauen denken, sie hätten kein Recht auf Erholung. Sie thematisieren in der Familie nicht die Belastungen ihres dreifachen Arbeitstages im Haus, in der Gemeinde und in ihrem Projekt." Damit trage die Frauenbank zur Entwicklung der eigenverantwortlich handelnden und partizipierenden Bürgerinnen bei, wie es die Verfassung vorsehe. Zwar hat das Kleinkreditwesen in vielen Ländern des Südens eine beispiellose Karriere als Instrument neoliberaler Wirtschaftspolitik und Armutsverwaltung durch die Frauen durchlaufen (siehe Kasten). Dennoch kann man dessen venezolanische Variante nicht umstandslos als neoliberal bezeichnen. Denn zum einen sind die Zinsen der BANMUJER mit zwölf Prozent so niedrig, dass sie ohne staatliche Subventionen nicht einmal die Kosten der Bank decken können. Zum anderen folgt die Frauenbank mit dem Konzept des autoempleo und ihrer Kreditvergabepolitik dem in der Verfassung festgelegten Paradigma der internen, nachhaltigen Entwicklung. Der entscheidende Unterschied zu Ländern, die ihre staatlichen sozialen Sicherungssysteme abgebaut oder nie aufgebaut hatten, besteht in der Anbindung des Kleinkreditwesen an eine staatliche Politik, die die unbezahlte Fürsorgearbeit von Frauen als ökonomische Aktivität und damit ihr Recht auf soziale Absicherung anerkennt. Der mit dem Kleinkreditwesen verbundene neoliberale Empowerment-Diskurs, der sich zwar rühmt, Frauen eine "Chance" als Unternehmerinnen zu geben, dabei aber die Fürsorgearbeit von Frauen unsichtbar macht, wird im Falle Venezuelas durchbrochen. Von kommunistischen Prinzipien ist die venezolanische Wirtschafts- und Sozialpolitik jedoch weit entfernt. "Unsere Produkte sollen wettbewerbsfähig sein, aber die Produzenten solidarisch", sagt Nora Castaneda und fügt hinzu: "Wir glauben an einen starken Staat und einen starken Markt, der vom Staat reguliert wird." Die Vision der bolivarischen Republik Venezuela ist deshalb kein Sozialismus nach kubanischem Muster, wie es die venezolanische Opposition gerne kolportiert. ChávezÂ’ Wirtschaftspolitik kommt vielmehr dem nahe, was der philippinische Globalisierungskritiker Walden Bello in seinem Buch "Deglobalization: Ideas for a New World Economy" (2001) als "Deglobalisierung" definiert. Bello versteht darunter nicht den Rückzug aus der Weltökonomie, sondern die Umorientierung der Ökonomien von der Produktion für den Export zu einer Produktion für den lokalen Markt. Bei der Umsetzung dieser Vision sind das nationale Fraueninstitut und die Frauenbank zugleich ideologische Dienstleisterinnen und Ideologiekritikerinnen. Nora Castañeda bringt das so auf den Punkt: "Wir kommen aus der Frauenbewegung und haben eine Gender-Vision. Das soll aber nicht heißen, dass der Staat als ganzes auch eine hat. Um diese Situation zu verändern, arbeiten wir an der Konstruktion der neuen und an der Dekonstruktion der alten Republik. Das ist nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein ideologischer Prozess." Stefanie Kron promoviert über Migration, Geschlecht und Entwicklungspolitik in Guatemala Aus iz3w 274 (Jan./Feb. 2004)