Kleinkredite - ein fortschrittliches Instrument der Armutsbekämpfung?

Das Kleinkreditwesen wurde in den 1980er Jahren von Mohamed Yunus in Bangladesh mit der Gründung des ersten Kreditinstitutes für Arme, der Grameen-Bank, ins Leben gerufen. ...

... In den 90er Jahren avancierte der Kleinkredit zum neoliberalen Allheilmittel im Kampf gegen die Armut auf der Welt. Zuerst USAID, dann auch die Weltbank, der IWF und internationale Entwicklungsagenturen begannen, Kleinkredit-NGOs finanziell auszustatten wie kaum ein entwicklungspolitisches Projekt zuvor.
Das mit den Kleinkrediten de facto durchgesetzte Recht der Armen auf Verschuldung wurde jedoch vor allem auch ideologisch durchgesetzt. So erklärte Yunus anlässlich des internationalen Kleinkreditgipfels, der 1997 in Washington stattfand: "Wir feiern hier die Befreiung des Kredites aus der Sklaverei der Bürgschaft. Auf diesem Gipfel sagen wir der Finanzapartheid auf Wiedersehen, erklären den Kredit zum Menschenrecht und setzen einen Prozess in Gang, der die Armut ins Museum schickt." 2001 wurde gar von den Vereinten Nationen zum Jahr des Kleinkredites ernannt. Und das Wall-Street-Journal jubelte Ende des gleichen Jahres: "Grameen beweist, dass der Kapitalismus ebenso für die Armen funktionieren kann, wie für die Reichen!" Heute gibt es in über 60 Ländern der Welt Kleinkreditsysteme nach dem Muster der Grameen-Bank.
Feministische Ökonomiekritikerinnen wie die Mexikanerin Ximena Bedregal haben das Kleinkreditwesen, das sich in allen Ländern und in all seinen Formen vorrangig an Frauen richtet, in den letzten Jahren scharf kritisiert. Bedregal argumentiert in einem Beitrag mit dem Titel "Kleinkredite: globale Politik, um die armen Frauen auf dem Weltmarkt zu vereinen" (in: Triple Jornada, Nr. 34, 4. Juni 2001), dass die Ideologie des Kleinkreditwesens letztlich eine Individualisierung der Schulden bedeute. Die sozialen ‚SchuldenÂ’, die viele Länder des Südens aufgrund der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der 70er und 80er Jahre bei großen Teilen ihrer Bevölkerungen angehäuft haben, um den monetären Schuldenkrisen zu begegnen, werden über den Kleinkredit in eine individuelle Verschuldung umgewandelt. Wo keine staatlichen sozialen Sicherungssysteme mehr existieren, vermittelt das Mikrofinanzierungswesen: Wenn du es mit einem Kleinkredit nicht schaffst, bist du für Scheitern und Armut selbst verantwortlich.
Dass die Banken und Mikrofinanzierungseinrichtungen mit dem Kleinkreditwesen den Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen der Armen erhalten haben und teilweise Zinsen nehmen, die über den marktüblichen liegen, wird selbst von Frauenorganisationen kaum mehr thematisiert. Seit der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 werden das Empowerment und die ökonomischen Rechte von Frauen quasi mit dem Recht auf einen Kredit gleichgesetzt. Bedregal macht jedoch darauf aufmerksam, dass im Kontext neoliberaler Wirtschaftspolitik das Kleinkreditwesen die Frauen nicht nur zu Verwalterinnen der Armut, sondern auch zu (Welt-)Marktsubjekten zurichtet. Denn weil der Kleinkredit zurück gezahlt werden muss, ist die Finanzierung eines Projektes zur Selbstversorgung nicht möglich. Die Frauen sind gezwungen, Projekte zu initiieren, deren Produkte oder Dienstleistungen in den Marktkreislauf eingebracht werden können. Am Beispiel der Grameen Bank weist Bedregal zudem nach, dass es vor allem Frauen sind, die Kredite für den Ausbau der kommunitären sozialen Infrastruktur aufnehmen - und sich damit zugunsten der Allgemeinheit individuell verschulden.
Der Fall der Grameen-Bank zeigt aber auch, dass der Mikrokredit zum neoliberalen Kontroll- und Disziplinierungsinstrument werden kann. So lässt Yunus mit Hilfe lokaler PromotorInnen und NGOs nicht nur die Schulden eintreiben, sondern über die Vergabe eines Kleinkredites sind auch Bedingungen zur Teilnahme an Kursen über Hygiene, gesunde Ernährung, Familienplanung und sparsames Haushalten geknüpft. Bedregal bezeichnet diese Praxis als zynisch. Sie fragt: "Was würden die Mitglieder dieser NGOs sagen, wenn die Vergabe eines Kredites für ein Auto daran geknüpft wäre, das Rauchen aufzugeben, regelmäßig die Zähne zu putzen oder Kondome zu benutzen?"

Aus iz3w 274 (Jan./Feb. 2004)