Ein Prozess und seine Geheimdienste

in (01.03.2004)

Seit fast einem Jahr findet in Berlin der zweite Prozess gegen Johannes Weinrich statt

Bürgerliche und Linke haben jeweils ihre eigenen Gründe, dass zweite Verfahren gegen Johannes Weinrich in Berlin nicht zu beachten. Einig sind sie sich nur im wegschauen. Dabei geschehen dort ähnlich wie im Hamburger Al-Quaida-Prozess richtungweisende Dinge.

Johannes Weinrich sitzt seit 1995 im Berliner Untersuchungsgefängnis Moabit. Von 1996 bis 2000 wurde ihm der Prozess wegen des Anschlages 1983 auf das Berliner Maison de France gemacht. Mit einer juristisch hanebüchenen Urteilsbegründung wurde er seinerzeit zu lebenslanger Haft verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Seit März 2003 findet vor der 35. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts ein weiterer Prozess gegen das mutmaßliche Mitglied der Organisation Internationaler Revolutionäre, besser bekannt als Carlos-Gruppe, statt.

Weinrich ist jetzt angeklagt, zwischen 1975 und 1983 an insgesamt sechs Bombenanschlägen in Frankreich, Griechenland und Deutschland maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Ihm wird konkret die Beteiligung an einem Raketenanschlag auf eine Passagiermaschine der israelischen Fluglinie El Al im Jahr 1975 am Pariser Flughafen Orly vorgeworfen. Die Rakete verfehlte zwar ihr Ziel, traf stattdessen aber eine Maschine der jugoslawischen Airline JAT. Motiv für den Anschlag soll laut Anklage Rache für die im Juni 1973 in Paris erfolgte Tötung des Führers der palästinensischen Volksfront zur Befreiung Palästinas gewesen sein. Im Jahr 1981 soll Weinrich für den rumänischen Geheimdienst einen Anschlag auf den Sender "Freies Europa" in München ausgeführt haben. Ein Jahr später soll der syrische Geheimdienst Auftraggeber für ein Sprengstoffattentat in der Pariser Innenstadt gewesen sein, das dem Herausgeber der Zeitschrift Watan Al Arabi galt. Für 1983 sind insgesamt drei Anschläge in der Anklage aufgeführt: Ein misslungenes Attentat auf den saudi-arabischen Botschafter in Athen und zwei Bombenanschläge an Silvester in Frankreich. Eine Bombe detonierte im Bahnhof Marseille, beinahe zeitgleich eine zweite Bombe in einem fahrenden TGV-Schnellzug. In der Anklage heißt es hierzu, die beiden Anschläge seien aus Rache für einen vorangegangenen französischen Luftangriff auf den Libanon ausgeübt worden.

Unter freiwilligem Ausschluss der Öffentlichkeit
Die Anklage stützt sich hauptsächlich auf die Aussagen zweier Kronzeugen und kopierter Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS). Mitglieder der Carlos-Gruppe hielten sich Anfang der 1980er Jahre zeitweise sowohl in Budapest als auch in Ost-Berlin auf. (Das wussten seinerzeit auch französische und westdeutsche Geheimdienste.) Bei diesen Gelegenheiten haben sowohl der Staatssicherheitsdienst Ungarns als auch das MfS umfangreiches Material über die Gruppe gesammelt. Die "Erkenntnisse" der Ungarn wurden größtenteils dem MfS übergeben.

Die erste Kronzeugin, Weinrichs ehemalige Gefährtin Magdalena Kopp, ist bereits im März auf Grund eines Fehlers von Oberstaatsanwalt Mehlis aus dem Verfahren gekippt. Kopp hatte als "Aussteigerin" der Carlos-Gruppe 1995 vor der Berliner Staatsanwaltschaft umfangreiche Aussagen gemacht, die sie 1996 bei einer richterlichen Vernehmung an ihrem Wohnsitz Neu-Ulm fast wortgleich bestätigte. Als geladene Zeugin im Weinrich-Prozess hat sie allerdings vor Gericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, weshalb auch die staatsanwaltlichen Aussagen nicht ins Verfahren eingeführt werden konnten. In einem Beschluss auf Antrag der Verteidigung hat die 35. Große Strafkammer verkündet, dass auch die richterliche Vernehmung einem Verwertungsverbot unterliege, da die Verteidigung seinerzeit von den Vernehmungen nicht benachrichtigt wurde. Die damalige Begründung von Staatsanwalt Mehlis, mit einer Benachrichtigung der Verteidiger wäre der Untersuchungserfolg gefährdet, wertete die Kammer als "nicht nachvollziehbar".

Der zweite Kronzeuge des Verfahrens wird von der Verteidigung als "Phantomzeuge" bezeichnet. Ali al Issawi, nach Ansicht der Anklage ebenfalls Mitglied der Carlos-Gruppe, soll sich Anfang 2001 im Gewahrsam des jordanischen Geheimdienstes General Intelligence Department (GID) befunden haben. Französische Ermittler, unter ihnen federführend ein Mitarbeiter des französischen Inlands-Geheimdienstes Direction de la Surveillance du Territoire (DST, etwa vergleichbar mit dem polizeilichen Staatsschutz hier zu Lande), waren nach Amman gereist, um den Zeugen zu vernehmen. Der GID ist nach Berichten von amnesty international bekannt dafür, "besonders in Fällen von Terrorismus zu foltern".

Vor Ort wurde den Ermittlern erklärt, dass sie Issawi weder sehen noch sprechen können. Also wurde ein Fragenkatalog übergeben, der von einem Dolmetscher ins Arabische übersetzt, dem angeblichen Zeugen vorgelegt wurde. Die Antworten wurden nicht wörtlich protokolliert, sondern in Berichtsform abgefasst und ins Französische rückübersetzt. Als Beleg für die Identität Issawis wurden den Franzosen Fingerabdrücke, die Kopie eines Fotos aus einem gefälschten Ausweis und eine Speichelprobe übergeben.

Weder die französischen noch die deutschen Behörden und Dienste haben jedoch Vergleichsmaterial, so dass es bis heute keinen Beweis für die Identität des seinerzeit angeblich Vernommenen gibt. Die "Aussage" ist zudem weder datiert noch unterschrieben und es fehlt jeglicher Hinweis auf eine Zeugenbelehrung. Der Umstand, dass der Kammervorsitzende noch im März 2003 festgestellt hatte, dass eine solche Aussage nach deutschem Strafprozessrecht nicht verwertbar sei, spielte ein halbes Jahr später keine Rolle mehr. Nach der Sommerpause hat die Schwurgerichtskammer beschlossen, diese "Aussage" in das Verfahren einzuführen.

Beweismittel: Kronzeugen und Stasi-Material
Auch im so genannten Al-Quaida-Prozess gegen Abdelghani Mzoudi in Hamburg erlangte ein derartiger "Zeuge" Beweiskraft. Denn um nichts anderes handelt es sich bei der vom Bundeskriminalamt dem Hamburger Gericht zur Verfügung gestellten Zusammenfassung von Vernehmungen eines namentlich nicht-genannten Mannes durch US-amerikanische Stellen. Eine solche Praxis geht weit über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in so genannten V-Mann-Verfahren hinaus und wird von einer "kritischen Öffentlichkeit" bis dato fast nicht beachtet. Zeugen vom Hörensagen berichten von weiteren Zeugen vom Hörensagen, die nicht identifizierte Zeugen vernommen haben wollen. Sollte sich diese Praxis durchsetzen, würde damit deutsche Rechtsgeschichte geschrieben werden, die zukünftig nicht nur "Terroristen" treffen könnte.

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Weinrich-Prozess ist der Umgang mit MfS-Akten. Umfangreiches MfS-Material über die Gruppe "Separat" (MfS-Deckname für die Carlos-Gruppe) hatte nach 1990 eine Odyssee durch das Bundesinnenministerium, den Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz erlebt. Von den mindestens 30 Aktenordnern stehen im jetzigen Verfahren lediglich fünf Ordner in Kopie zur Verfügung. Der einzige im Original vorliegende Ordner weist nach Aussagen ehemaliger Mitarbeiter des MfS erhebliche Lücken auf und befindet sich "nicht mehr im Originalzustand". Die Beiziehung der fehlenden Akten wurde vom Gericht abgelehnt. Ein ehemaliger Offizier des MfS, der im Maison-de-France-Verfahren Mitbeschuldigter war, hat im jetzigen Verfahren die Aussage verweigert. Alle weiteren bisher vernommenen Ex-Stasi-Leute konnten sich entweder nicht richtig erinnern oder nur unkonkrete Angaben zu den Attentaten machen.

Symptomatisch für die Beweislage war die Aussage eines ehemaligen MfS-Offiziers, der bekundete, dass sie ihre damaligen Informationen "vielleicht aus der Zeitung" hatten. Die Mitglieder der Carlos-Gruppe hätten gewusst, dass sie überwacht wurden und Weinrich hätte ihnen immer nur das erzählt, was sie einige Tage später auch im Spiegel nachlesen konnten. Die Verteidigung kämpft an dieser Stelle darum, dass MfS-Material nicht zum Prozess zuzulassen, da es auch mit "nicht-rechtsstaatlichen Mitteln" wie etwa illegalem Abhören oder illegalen Durchsuchungen erlangt wurde. Doch bereits die 23. Große Strafkammer hatte im Maison-de-France-Verfahren, in dem Stasi-Material ebenfalls eine entscheidende Rolle spielte, klargestellt, dass westdeutschen Geheimdiensten sehr viel weitergehende Methoden als nur das illegale Abhören zur Verfügung stehen und solcherlei Stasi-Operationen deshalb in diesem Fall rechtens waren.

Der Vorsitzende des jetzigen Verfahrens hat bereits mehrfach zu erkennen gegeben, dass er sich auf diese, durch den Bundesgerichtshof abgesegnete Entscheidung stützen wird. Im Prozess gegen Helmut Kohl galt Stasi-Material als nicht beweiskräftig. Und zwar nur deshalb, weil es vom MfS kam. Oberstaatsanwalt Mehlis hatte das MfS bei anderer Gelegenheit eine "quasi-kriminelle Organisation" genannt. Dies hindert Anklage und Gericht im Falle Weinrich nicht, solche Unterlagen zur Grundlage der Beweisführung zu machen. Offensichtlich hängt die Tauglichkeit derartiger Beweise davon ab, wer angeklagt ist.

Vier der sechs angeklagten Attentate wurden in Frankreich verübt. Bis heute laufen dort offiziell noch die Ermittlungen, keinerlei Anklage wurde erhoben. Die bisher vernommenen französischen Ermittler haben unisono ausgesagt, dass sie "keine konkreten Beweise" für die Täterschaft der Carlos-Gruppe haben. Die Annahme sei aber "verlockend gewesen" (so der ehemalige Chef der Pariser Kripo). Ein französischer Kriminalinspektor ließ bei seiner Vernehmung erkennen, dass sowohl der Renseignement Generaux (RG, vergleichbar mit dem hiesigen Verfassungsschutz) als auch die Anti-Terror-Division Einfluss auf die Richtung der Ermittlungen genommen haben.

Es kommt darauf an, wer angeklagt ist
Seit 1994 laufen die Ermittlungen in dieser Angelegenheit gänzlich unter der Regie des DST. Dabei hatten die französischen Kriminalbeamten in zwei der vier Tatkomplexen bereits früh eine "heiße Spur". Ein Mitglied einer rechtsextremen spanischen Anti-ETA-Organisation hatte die Anschläge einen Monat vor deren Ausführung bei der Polizei angekündigt. Zu dem Bombenanschlag auf den Bahnhof von Marseille und einen Hochgeschwindigkeitszug hatten sich als erste von insgesamt zwölf Bekennern französische Rechtsextreme gemeldet. Trotzdem findet sich in den kriminalpolizeilichen Abschlussberichten (nach entsprechenden Hinweisen der geheimdienstlichen "Fachstellen") nur noch die Carlos-Gruppe als wahrscheinlichster Urheber dieser Anschläge.

Das einzige bisher belastende Indiz ist eine Notiz eines ehemaligen kubanischen Geheimdienst-Angestellten bei der kubanischen Botschaft in Ost-Berlin, nach der sich Weinrich ihm gegenüber zu den Anschlägen in Marseille bekannt haben will.

Ein interessantes Indiz für die Frage, wer in diesem Verfahren etwas entscheidet, war die Ablehnung der Überführung des in Frankreich einsitzenden Illich Ramirez Sanchez ("Carlos") als Zeuge im Berliner Prozess. Die Kammer hatte in einem Rechtshilfeersuchen an das französische Justizministerium um die Überstellung von Sanchez gebeten, da dieser es abgelehnt hatte, sich per Videokonferenz oder vor Ort vernehmen zu lassen. Die Franzosen waren einverstanden, wenn bestimmte Sicherheitsgarantien gewährleistet seien. "Im Benehmen mit der Bundesregierung" und "nach reiflicher Überlegung" hatte dann die Berliner Senatsverwaltung für Justiz im Einvernehmen mit dem Bundesjustizministerium auf die Überstellung dankend "verzichtet", da für die sichere Rückführung angeblich "nicht garantiert werden könne". Richter Ehestädt erfuhr als Letzter ("aus der Zeitung") davon. Er kommentierte diesen offenen Eingriff in seine "richterliche Unabhängigkeit" mit einem Achselzucken.

OZ

Ausführliche Prozessberichte sind zu finden auf www.linkeseite.de und http://de.indymedia.org

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 481 / 20.02.2004