"Ordnung halten, geht leider nicht"

Eine Ausstellung von Naomi Tereza Salmon würdigt den NO!art-Künstler Boris Lurie

In den Holzbaracken des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hatten die deutschen Konstrukteure des industriell perfekten Massenmords in zynischer Weise an menschliche Tugenden appelliert: "Seid ehrlich!", "Sauberkeit ist Gesundheit", "Halte Ordnung". Diese Sätze standen in Fraktur auf den Querbalken. Eine ähnliche Schrift begegnet uns bei den auf die Wand gesprühten Gedichten von Boris Lurie in der von Naomi Tereza Salmon konzipierten Ausstellung optimistic disease facility, die derzeit im Haus am Kleistpark in Berlin zu sehen ist. Boris Lurie hat seine Lyrik bewusst in dieser Typografie setzen lassen, um damit trotz KZ-Erfahrungen seine Verbundenheit mit der deutschen Kultur zu demonstrieren. Um dem Klischee entgegenzutreten: es handle sich dabei nicht um eine Nazischrift. Die Nazis machten breiten Gebrauch von der Moderne und nutzten vielfach die Futura. Diese Ausstellung von Naomi Tereza Salmon war letztes Jahr zum ersten Mal in der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen und wird nun in Berlin als Übernahme gezeigt. Die 1965 in Israel geborene und seit vielen Jahren in Deutschland lebende Künstlerin hatte Boris Lurie 1998 anlässlich dessen Ausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald kennen gelernt. Boris Lurie hat zusammen mit seinem Vater mehrere Konzentrationslager überlebt und wurde aus einem Außenlager des KZ Buchenwald in Magdeburg befreit. Seit 1946 lebt er als Bildender Künstler, Lyriker und Prosaautor sowie Gründer der Künstlergruppe NO!art in New York City. Fasziniert von Werk und Person Luries unternahm Naomi Tereza Salmon zwei Reisen nach New York, wo Lurie zurückgezogen auf der East Side in Uptown Manhattan lebt. Ihre Fotografien aus seiner Wohnung, ihren mit expressiv subjektiver Kamera gedrehten Videofilm kombinierte die Künstlerin mit einer Auswahl von Gedichten Luries, die 2002 beim Eckhart Holzboog Verlag erschienen sind. Die in strenger Struktur angeordneten Elemente bilden in Gänze eine künstlerische Inszenierung, die als eine eindrucksvolle Hommage an den Künstler Boris Lurie verstanden werden kann.

Hommage an Boris Lurie

Mit dieser drei Räume umfassenden begehbaren Installation hat Naomi Tereza Salmon eine Gratwanderung gemeistert und Leben und Werk von Lurie eine Bühne gegeben, ohne selbst dahinter zu verschwinden. Die acht großen brillanten Farbfotografien - ein Porträt Luries und sieben Stillleben - bestimmen die Räume. Größe und Schärfe der Bilder sind die Voraussetzung, um sie als les- und studierbare Tableaus funktionieren zu lassen. In ihnen kann man Partikel und Versatzstücke von Luries Biografie entdecken. Leben und Person werden in kleinen Teilen dechiffrierbar. Die bewusst raumgreifende Hängung der Bilder verweist methodisch auf die wohl bekannteste Arbeit von Naomi Tereza Salmon, die "Asservate". In jener, 1995 veröffentlichten konzeptuellen Arbeit hat die Künstlerin Fundstücke aus den Archiven der Gedenkstätten Auschwitz, Buchenwald und Yad Vashem fotografiert. Nüchtern und sachlich sollten die Bilder sein. Während des Fotografierens gaben die Objekte der Künstlerin Informationen preis, die sie zu Anfang nicht wahrgenommen hatte. Die Konzentration auf das Objekt ohne optische Ablenkung, nur von weißer Fläche umgeben, waren die Gewährleistung für ein Heraustreten des Objekts, dessen Studium mit dem Prozess des Scannens verglichen werden könnte. Im Kopf des Betrachters entstehen Verbindungslinien zwischen gespeicherten Daten und die Be-deutung des Fundstücks verändert sich. In der aktuellen Ausstellung werden alle Räume von drei medialen Achsen durchzogen: Bild, Ton und Text, die einer Dramaturgie folgen und in den zum Kino umgebauten Raum münden. Auf der Bildachse befinden sich Computer und Videoterminals. Im linken Raum kann man die Webpage der "NO!art headquarters east" aufsuchen und sich sowohl über die Aktivitäten der Gruppe sowie über Rezeption informieren. Auf der anderen PC-Station im rechten Raum sind die 1998/99 ausgestellten Werke von Lurie in digitalen Bildern von Naomi Tereza Salmon abrufbar. Auf dem Monitor in dem mittleren Raum werden alle Fotografien der Künstlerin aus Wohnung, Studio und Keller Luries in Manhattan als Sequenz gezeigt. Das schnörkellose Mobiliar in der Ausstellung sowie die offen sichtbare Verkabelung und Technik sind Bestandteile des künstlerischen Konzepts und Ausdruck von Faktizität und Produktion im künstlerischen Schaffen. Die betont minimalistische Ordnung der Ausstellung, ihre konsequent durchgehaltene räumliche Dreiteilung, korrespondiert umgekehrt proportional mit dem unmittelbaren Lebensraum und der Kunst Boris Luries. Sein Verfahren des überbordenden all over, das vielschichtige Überziehen von Leinwand und seinen Wänden mit Fotos, Zeitungsausrissen und Faxen verweist auf ein Kunstprinzip, das sowohl in den Bildern als auch in den Gedichten auftaucht. Lurie verbindet Alltagsbanalitäten, Erotisches, Pornografisches mit Gräuelbildern aus der Höllenmaschinerie der Vernichtungslager. Darf man das?, haben sich die Betrachter immer wieder gefragt. Art Spiegelman, der mit seinem Maus-Comic 1996 in der Ausstellung "Künstler forschen nach Auschwitz", organisiert vom Haus am Kleistpark und der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), hier vertreten war, hat einmal auf den Vorwurf der Geschmacklosigkeit, Auschwitz im Comic zu thematisieren, treffend und lakonisch geantwortet: "Auschwitz war geschmacklos".

Verdammt sein zum Erinnern und Speichern

Lurie wurden seine radikalen und verstörenden Bilder und Collage-Malereien, die er in dieser Form bereits Ende der fünfziger Jahre produzierte, verziehen, weil er mit seinem Vater selbst die Tortur mehrerer Konzentrationslager erlebt hatte und nur mit viel Glück und Zufall der Vernichtung entgangen war. Großmutter, Mutter und eine Schwester waren 1941 von den Nazis und ihren allzu willigen lettischen Kollaborateuren ermordet worden. In Luries Bildern existiert keine Trennung zwischen den Zeitebenen sowie zwischen den vielfältigen medialen Formen. Schlagzeilen, historische Fotos, zeitgenössische Fotos, Politik, Boulevard, Slogans, Parteiwerbung, alles vermischt sich auf der Ebene der Medialisierung. So hat er auch die Berichte über die Gräuel der NS-Zeit in den Zeitschriften wie Life und Vogue in der Nachkriegszeit wiedergefunden, eingebettet in Werbung und Glamour. Neben den formalen und stilistischen Kriterien der Bilder bei Lurie ist die frühe Thematisierung des Holocaust bemerkenswert. Bereits in den frühen Arbeiten Ende der vierziger Jahre - hier noch traditionell figurativ - fokussiert er das KZ und die Vernichtung. Ab Ende der fünfziger Jahre wird der NS-Völkermord in einen breiten politischen Kontext gestellt, ohne jedoch einer Relativierung Vorschub zu leisten. Er führt die großen Katastrophen der Moderne (Holocaust und Hiroshima) in einem Tableau motivisch zusammen mit Kolonialismus und Imperialismus und schafft damit einen politischen Kontext. Dennoch springt das Hakenkreuz des deutschen Faschismus immer wieder sofort ins Auge. Zwischen Boris Lurie, 1924 in Leningrad geboren, und der 41 Jahre jüngeren Naomi Tereza Salmon hat sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und ein intensiver Dialog ergeben. Die Fotografien aus Luries unmittelbarer Welt künden von einem Nicht-vergessen-Können, von einem verdammt sein zum erinnern und speichern und sich seine Geschichte immer wieder vor Augen führen zu müssen. In einem Brief zur Eröffnung der Ausstellung in Buchenwald, zu der Lurie selbst nicht erscheinen konnte, schrieb er: "Naomi, bei ihrem Besuch in New York, war von meiner schrecklich unordentlichen Wohnung außerordentlich begeistert: ich dagegen bin von dem Tohuwabohu fürchterlich deprimiert, doch auf lange Dauer es in Ordnung halten, geht leider nicht. Es ist eine Frage, was wichtiger sei, die Wohnung aufzuräumen - und danach lange wieder nicht arbeiten zu können! - oder mit Arbeitsversuchen, so wie sie kommen, ohne Unterbrechung weitermachen. Ich ziehe die zweite Möglichkeit vor ... kann den Krawall aber trotzdem nicht leiden. Wie schön wäre es ordnungsmäßig fruchtbar fortzufahren, doch es passiert nicht. ..." Matthias Reichelt optimistic disease facility, Boris Lurie, New York - Buchenwald, eine Ausstellung von Naomi Terza Salmon, Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6-7, 10823 Berlin, Eintritt frei, jeden Sonntag um 15 Uhr findet eine Führung statt. Rahmenprogramm: 27. Mai,19 Uhr, Künstlergespräch mit Naomi Tereza Salmon; 10. Juni, 19 Uhr, Lurie und die NO!art Gruppe - oder von der aufklärerischen Funktion des Zynismus, Gespräch mit Georg Bussmann; 17 Juni, 19 Uhr, Die Rolle der Kunst bei der Konstruktion der kollektiven Erinnerung, Gespräch mit Harald Welzer, Autor des Buches "Opa war kein Nazi". Das Katalog-Buch "Boris Lurie. Geschriebigtes. Gedichtigtes. NO!art in Buchenwald", Stuttgart 2003, Eckhart Holzboog Verlag ist für 24 Euro in der Ausstellung zu erwerben. aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 484 / 21.05.2004