Move Your Body, Stretch Your Mind

Als mögliche Strategie gegen eine vereinnahmte Freizeit bietet sich die schlichte, aber bewährte Aufmüpfigkeit an. Mit Foucault gesprochen geht es um die Ausübung von Kritik ...

Das Jahr 2004 steht, geht es nach dem Willen der EU-Kommission, ganz im Zeichen des Sports und der Erziehung: Zum Europäischen Jahr der Erziehung durch Sport gekürt, soll es das allgemeine Bewusstsein entsprechend aufrütteln. Wie die Etikettierung bereits verrät, gilt die Aufmerksamkeit weniger der Bewegung als vielmehr der Erziehung, präziser, dem pädagogischen Wert von Sport. Gesetzt wird dabei auf die Kampagne Move Your Body, Stretch Your Mind, die zur intensiven Zusammenarbeit von Bildungs- und Sporteinrichtungen führen soll. Erwünscht ist eine Kooperation, welche die erzieherische Funktion des Sports und seine europäische Dimension optimal in den Blickpunkt rückt. Trendy wird dabei auf den multikulturellen Wert von Sport hingewiesen und die Bedeutung des Sports für die soziale Eingliederung benachteiligter Bevölkerungsgruppen betont. So bekunden Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP), Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat (ÖVP), Familien- und Sozialminister Herbert Haupt (FPÖ) sowie Sport-Staatssekretär Karl Schweitzer (FPÖ) neben Sportgrößen wie Hermann Maier und Mirna Jukic ihre Unterstützung für die nationale Umsetzung dieser Kampagne.

Die österreichische Variante lautet prompt ,,Bewege dein Leben, Körper und Geist!". Auf der nationalen Ebene ist der Spielraum somit erweitert, das Leben als solches kommt ins Spiel und macht damit auch das rege Interesse der unterschiedlichen politischen Ressorts plausibel. Kinder und Jugendliche sollen sich nicht nur bewegen, sondern auch Freude daran haben und gleichzeitig ihre Persönlichkeit entwickeln, der Gedanke an Gesundheitsvorsorge darf da naturgemäß nicht fehlen. Wer jedoch meint, es ginge hierbei um die Aufwertung von Schulsport, der irrt, wie Gehrer in einer Presseaussendung unmissverständlich klarmacht: ,,Wir wollen alles dafür tun, dass sich unsere Jugend bewegt und auch gleich die Eltern mit einbinden." (APA, 22. 01. 2004) Eine Ausweitung der Zielgruppe, das freut die Pädagogik, die seit ihrer Hochblüte in den 1970ern, als die Pädagogisierung - also die Erziehung und Aufklärung der Gesellschaft - unausweichlich schien, kontinuierlich an Bedeutung verliert (Ziehe 1996). Nun gibt es aus dem Blickwinkel der Disziplin Anlass zur Hoffnung: Kinder, Jugendliche, Eltern und nicht zu vergessen die so genannten Multiplikatoren, Lehrer und Lehrerinnen sowie Mitglieder von Sportverbänden - sie alle kommen jetzt in den Genuss der Erziehung durch und für den Sport. Allerdings ist gerade diese Freude mit Vorsicht zu genießen. Jedenfalls lassen sich bei näherer Betrachtung einige Tücken dieser sportlichen Erziehungswelle aufweisen.

Gouvernementalität neu: Die Sorge um sich

Erzählungen beginnen in der Regel mit dem berüchtigten Es war einmal, so auch diese, allerdings ist hier die Vergangenheit bereits von Brüchen gekennzeichnet: Anlässlich der sozio-politischen und ökonomischen Transformationen, die später in der Bezeichnung Postfordismus ihre semantische Entsprechung finden sollten, konstatierte Michel Foucault 1978 eine ökonomische und politische Krise: ,,Wir stehen vielleicht am Beginn einer großen krisenhaften Neueinschätzung des Problems Regierung." (Foucault 1996, 120) Mit dem Regierungsbegriff ist hier die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden und Institutionen, die eine Führung der Menschen untereinander garantieren, gemeint: ,,Von der Verwaltung bis zur Erziehung" (ebd., 118).

Eine Krise bescheinigte Foucault dem Machttypus Regierung in einem Augenblick der Ereignisse, in dem der Großteil Europas noch dem wohlfahrtsstaatlichen Denken verpflichtet ist. Das Modell der Versicherung ist für den Entwurf des Sozialen dominant: Risiko wird sozialisiert (Lemke 1997, 239) und individuelle Not zur Angelegenheit kollektiver Verantwortung (Liesner 2002, 108). Eine ökonomische Krise scheint über kurz oder lang unabwendbar und sie findet auch rasch ihren Ausdruck im symptomatischen Ende der fordistischen, ,,unbegrenzten" Produktionsweise, die wiederum zu abnehmenden Wachstumsraten der Wirtschaft führt. Gleichzeitig kommt es zu einem beträchtlichen Anstieg der Sozialausgaben. Daraus resultierende Schlussfolgerungen sind ausreichend bekannt: Die bis dahin gängige Annahme, steigendes Wirtschaftswachstum stehe in einem direkten Zusammenhang mit der Erhöhung von sozioökonomischen Sicherheiten, wird nicht mehr geteilt, später sollte die Einschätzung überhaupt ins Gegenteil umschlagen (Mahnkopf 2003, 64). Vor diesem Hintergrund wird nicht nur die Verteilungsfrage, sondern auch die Frage nach politischer Partizipation brisant. Neben vielen anderen Aspekten ist es die Koppelung von Sicherheit und Abhängigkeit, die zur allgemeinen Erhitzung der Gemüter führt. Sicherheit ja, aber nicht um jeden Preis. Eine fragliche Sicherheit, die zu einer normierten und normalisierten Existenz unter der Obhut der Autorität des Staates und seiner Institutionen führt, wird nicht länger hingenommen. Die Gesellschaft begehrt auf; konkret entstehen Neue Soziale Bewegungen, die das Problem von Regierung und Bevölkerung um eine weitere Facette bereichern. Die Neue Soziale Frage ist aufgeworfen und damit wird das für die Gesellschaft verantwortliche individuelle Handeln ebenso zum bestimmenden Thema wie die Interessensorganisation jenseits von Parteiverbänden (Grosser 1995). Staatspolitische Konsequenzen lassen nicht lange auf sich warten, Foucault sieht sie im Aufkommen neoliberaler Politiken und der Entstehung einer neuen Gouvernementalität (Foucault 2000).

Mit dem Neologismus Gouvernementalität ist der Begriff des Regierens (gouverner) um jenen der Denkweise (mentalité) erweitert (Bröckling u.a. 2000, 8) und ermöglicht damit auch, neue Einflüsse der Führung von Kollektiven und Individuen, entstanden im Zuge der wohlfahrtstaatlichen Krise, zu berücksichtigen. Unter Gouvernementalität ist dementsprechend die Gesamtheit von Institutionen, Verfahren, aber auch Analysen und Reflexionen, Strategien und Taktiken, die eine bestimmte Art der Machtausübung zulassen, gemeint. Diese Machtausübung hat die Bevölkerung als Richtungspunkt; ihre Hauptwissensform ist die politische Ökonomie, als technisches Instrument ist ihr das Sicherheitsdispositiv zur Seite gestellt (Foucault 2000, 64f). Qualitativ ist diese Gouvernementalität neu, da sie von einer Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus geprägt ist und damit das Problem der Regierung in eine andere Perspektive rückt. Das heißt: Zum einen lässt sich eine Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Ökonomie feststellen, zum anderen eine Differenz der Grundlage des Regierens (Lemke 1997, 240f). Das Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie gestaltet sich insofern anders, als der Staat nicht länger als Wächter und Garant einer Marktfreiheit auftritt, sondern der Markt als solcher zur organisierenden und regulierenden Instanz des Staates avanciert. Die Grundlage des Regierens wiederum verändert sich in Folge einer neuen Bestimmung des Freiheitsbegriffs. Ging es im klassischen Liberalismus um die Frage der natürlichen Freiheit, die es zu gewährleisten gilt, so ist die Freiheit in der neoliberalen Konzeption eine künstlich verfasste: Regelungen und Begrenzungen des Regierungshandelns finden von da an ihre Legitimation im ,,unternehmerischen und konkurrenziellen Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen" (Lemke 1997, 242). Damit eröffnet sich eine Konstellation zwischen Staat und Individuum, die seit geraumer Zeit unter der Chiffre ,,Ich-Aktie" firmiert und die lang umkämpfte Opposition Individualfreiheit versus Staat in den Hintergrund treten lässt.

      Denn eben die Taktiken des Regierens gestatten es, zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen, was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist. (Foucault 2000, 66)

Angesichts der virulent gewordenen Sozialen Frage ist, wie bereits angedeutet, ein für die Gesellschaft verantwortliches individuelles Handeln angesagt. Das Kräfteverhältnis beginnt sich somit zu verändern: Individuen wie Interessensgruppen sollen sich aktiv an Lösungen gesellschaftlicher Probleme beteiligen. Die Risikoverteilung unterliegt nun neuen Spielregeln: Zum einen ist es die ,,Ökonomisierung des Sozialen" (Lemke 1997, 254), also die bürgerliche Pflicht des Einzelnen, das Risiko, das durch die eigene Existenz der Gesellschaft aufgebürdet wird, zu minimieren. Zum anderen ist es die Arbeit an sich (Bröckling 2003, 90), die das neue Programm des Sozialen gestaltet. Damit ist das unendliche Feld der Sorge um sich und des Sich-selbst-Regierens eröffnet: Bin ich gesund genug?

Verrückt nach Gymnastik: Versicherungswesen im Wandel

Etwa zeitgleich, wir befinden uns Mitte der 1970er Jahre, steckt Österreichs Breiten- bzw. Freizeitsport noch in den Kinderschuhen. Den Neuen Sozialen Bewegungen gilt sportliche Betätigung auf Grund der Ausrichtung am Leistungs- und Konkurrenzprinzip, aber auch wegen der kaum aufgearbeiteten Vereinnahmung durch das NS-Regime, als suspekt. Denken bzw. das Revival des aufklärerischen Imperativs, man möge den Mut aufbringen und sich seiner Vernunft bedienen, scheint Sport per se auszuschließen. Umso beliebter sind nächtelange Diskussionen, volle Aschenbecher und mitunter leere Dopplerflaschen. Die Erzählung könnte zweifellos auch anders lauten, Faktum ist, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, so im legendären ,,Club 2", noch Alkohol getrunken und Tabak geraucht werden darf. Fitness dagegen ist vorerst dem Land der unbegrenzten Konsummöglichkeiten vorbehalten, und dem kleinen, nach ähnlichen ökonomischen Höhen strebenden Japan. So turnt etwa zur selben Zeit in Japan Jung und Alt ab 6.30 Uhr gruppenweise in Parkanlagen, Schulhöfen und an Arbeitsplätzen zur morgendlichen Radiogymnastik: ,,Alle zusammen eins, zwei, drei... " (Lintner 2001, 88f; 112f). Wohl gibt es auch in Österreich ,,Fit macht mit", eine Hörfunksendung mit der Vorturnerin der Nation als Moderatorin, Ilse Buck, allerdings wird diese morgendliche Gymnastik mehr belächelt, denn tatsächlich zur körperlichen Fitness genutzt.1 Während Österreich heute für sich Druck, Zug, Schub und Entspannung als Trendsport entdeckt - die Grundbewegungen des Nordic Walking - ist die Radiogymnastik in Japan nach wie vor populär:

      In einem japanischen Unternehmen zu arbeiten unterscheidet sich stark von dem, was ich bisher bei Unternehmen kennen gelernt habe. Der Arbeitstag fängt in der Regel um halb neun an und beginnt mit der Radiogymnastik. Die komplette Abteilung macht also Frühsport und Dehnungsübungen zu Musik aus der Lautsprecheranlage. (Görnert 2004)

Die in Japan äußerst beliebte Tradition mag auf den ersten Blick in Einklang mit dem dort herrschenden kulturellen Common Sense einer auf Leistung und Wettbewerb basierenden Gesellschaft stehen, bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich jedoch als ein Exportschlager der USA. Diese so erfolgreiche Etablierung von Volksgymnastik beginnt ebenfalls mit der Geschichte vom Brüchigwerden des sozialen Gefüges, in diesem Fall erweitert um die Variable kulturelle Differenz.

Amerika der 1920er Jahre: Ablebensversicherungen sind gerade groß im Kommen. Die bedeutendste nordamerikanische Versicherungsgesellschaft, Metropolitan Life Insurance Company (Metlife), setzt auf viele Mitglieder, die ein langes und gesundes Leben führen sollen. Das neue Medium Radio und die so genannte Metropolitan-Gymnastik stellen die Breitenwirkung des neuen Ideals sicher (Lintner 2001, 49). Regelmäßige Bewegung und Gesundheitsvorsorge sind die Zauberformel für eine lang andauernde Partnerschaft, Versicherungswesen wird damit zu mehr als einem der vielen Geschäftsfelder, es entwickelt sich zu einem sozialen Programm: Unterstützung der Gemeinschaft und Gesundheitsförderung ihrer Mitglieder ist das neue Unternehmensmotto (Metlife 2004). Der Erfolg bleibt in einer Zeit, in der Diphtherie, Pocken und die Virusgrippe zahlreiche Opfer fordern, auch nicht aus. Noch heute rühmt sich die Metlife, innerhalb von fünfzig Jahren 20 Millionen Menschen kostenlose medizinische Behandlung ermöglicht zu haben (ebd. 2004).

Eine ähnliche Erfolgsstory zeichnet sich in Japan ab. Auch dort floriert das Versicherungswesen, allerdings mit gewissen Schwierigkeiten, zumindest zu Beginn: Die japanische Postlebensversicherung (1916) setzt auf den Faktor Angst ("wir müssen alle sterben") und erfreut sich angesichts von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Typhus und Cholera großen Andrangs (Lintner 2001). Allzu bald stellt sich jedoch heraus, dass der Abschluss der Versicherungspolizzen auch Schattenseiten hat. Viele der Versicherten sehnen sich einen schnelleren Tod herbei, um die hinterbliebene Familie ehest möglich zu versorgen. Ein untragbarer Zustand für jede Versicherung. Die Einstellung zum Leben und Tod muss sich in dieser Gesellschaft fundamental ändern, sollen die Versicherungen ökonomisch überleben. 1928 wird Radiogymnastik2 in Japan erstmals gesendet, nachdem Mitarbeiter der Postlebensversicherung die Metropolitan Life Insurance Company und ihre Werbestrategien studiert hatten (Lintner 2001, 57f; 70ff). Ein Jahr später preist die Postlebensversicherung das griechische Schönheitsideal der Antike als Vorbild für die Gesundheit des Körpers in Japan. Der Imagewandel - nicht die Versicherungssumme, sondern langes gesundes Leben solle an erster Stelle stehen - war damit vollbracht.

Zurück nach Österreich: Exakt ein Jahr vor dem Start der Kampagne ,,Bewege dein Leben, Körper und Geist!" ergibt eine von einem Versicherungsunternehmen in Auftrag gegebene Studie, dass Österreicherinnen und Österreicher immer mehr für ihre Gesundheit tun, aber die Hälfte von ihnen dennoch der Meinung ist, nicht genug für ihren Körper getan zu haben (APA, 10. 01.2003). Die Palette an Vorsätzen reicht von Sport betreiben, gesund ernähren, Wellnessurlauben, Gewicht reduzieren bis zu Tai Chi und Yoga. Die mediale Schlacht um die Gesundheit der Österreicher und Österreicherinnen nimmt ihren Lauf. So zeigt sich auch der überparteiliche Allgemeine Sportverband (ASVÖ) in einer Presseaussendung alarmiert (APA 25.07.2003). Verwiesen wird auf die Kosten, die der Gesellschaft durch sportliche Inaktivität vieler Österreicher verursacht werden. Demnach könnten 800 Millionen Euro pro Jahr eingespart werden, wenn dem Sport ein gebührender Stellenwert im Gesundheitswesen zukommen würde. Eine andere Studie belegt, dass gar 60 Prozent der österreichischen Bevölkerung es eher bequem liebt. Diese Studie wird prompt zum Anlass für eine Motivationskampagne des ,,Fonds Gesundes Österreich" (APA, 08.10. 2003). Unter dem Motto ,,Es ist nie zu spät, den ersten Schritt zu tun" soll die Lust auf Bewegung im Alltag geweckt werden, Bewegung als Vorbeugung gegen Krankheiten. Hier lässt sich eine gewisse Umorientierung feststellen, eine Erkenntnis nicht leugnen: Fehler vergangener Kampagnen sollen verhindert werden, es geht darum, die Bevölkerung nicht zu überfordern. Unvergessen bleibt die Kooperation mit einer österreichischen Versicherungsgruppe und dem ORF, unterstützt durch ein Partnernetz aus Ärztekammer, 606 Apotheken, Sportvereinen und Rotem Kreuz. Unter dem Titel ,,leichter leben" wurde eine landesweite Großaktion zum Abnehmen gestartet. Das Ziel dieser Aktion war durchaus umstritten, ging es doch darum, ein ,,Messergebnis der Erleichterung" in Kilo bzw. Tonnen zu erhalten. Das Ergebnis sollte in Lebensmitteln aufgewogen und für Hungernde in Eritrea gespendet werden. 1.399.811 Kilogramm wurden damals insgesamt abgenommen (mediaresearch ORF, 2004)3. Mittlerweile wird auf eine andere Strategie gesetzt: Es sind die kleinen Schritte, die zählen, Stiegensteigen oder kurze Wege, die sonst mit dem Auto gefahren werden, sollen zu Fuß zurückgelegt werden. Mit Rückgriff auf sportwissenschaftliche Erkenntnisse wird hier auf langsame, mäßige, aber regelmäßige körperliche Ertüchtigung gesetzt.

      Die Vorschrift, man solle sich um sich selbst kümmern, ist jedenfalls ein Imperativ, der durch alle möglichen Lehren wandert; zudem hat er die Form einer Haltung, einer Weise des Sichverhaltens angenommen, hat er Lebensweisen durchtränkt; er hat sich in Prozeduren, in Praktiken und in Rezepten entwickelt, die man bedachte, betrieb, verbesserte und lehrte; so hat er eine gesellschaftliche Praktik konstituiert, die zu zwischen-individuellen Beziehungen, Austauschprozessen und Kommunikationen, ja manchmal zu Entstehung von Institutionen Anlass gab; endlich hat er einer gewissen Weise des Erkennens und dem Aufbau eines Wissens stattgegeben. (Foucault 1995, 62)

Das Prinzip der Sorge um sich stellt, so könnte es wohl in Anlehnung an Foucault und unter Berücksichtigung der aktuellen Gesundheitsinitiativen postuliert werden, ein wiederkehrendes Moment des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Individuum dar. In Anbetracht des Wandels der Gesundheitspolitik und einer neuen Medizin, die sich nicht mehr um Ärzte und Kranke dreht, sondern potenzielle Kranke und Risikogruppen definiert (Deleuze 1993, 261), rückt die Körperbildung als neue Form der Vorsorge in den Vordergrund. Schließlich will eine Studie der Universität Wien im Auftrag des Gesundheitsministeriums errechnet haben, dass jeder Euro, der in Bewegung und Sport im Kinder- und Jugendalter investiert wird, im Alter dem Gesundheitssystem zwei Euro sparen hilft (APA, 22.05.2003). Bin ich fit genug?

Für eine ambitionierte Trägheit: Risikofaktor Bewegung

Kein Zweifel scheint darüber zu herrschen, dass wir in einer entkörperlichten Gesellschaft leben, zumindest gilt das für unseren Alltag: Egal ob Schule, Aus- und Weiterbbildungsstätten oder Arbeit, alle diese Bereiche zeichnen sich durch eine selbstverständlich gewordene Sitzkultur aus, in einigen Fällen ist durchaus auch Stehen angesagt; bewegungsreiche Jobs sind heute definitiv rar oder nicht erstrebenswert. Es sind abstrakte, virtuelle Welten, zumindest Schnittstellen zu virtuellen oder technologisierten Welten, die permanent frequentiert werden und dadurch die meisten Arbeitsrealitäten prägen. Auf der realen, körperlichen Ebene sind diese Arbeitsbedingungen häufig mit einseitigen und damit haltungsschädigenden Positionen verbunden (Becker/Fritsch 1998, 59f). Wenn also eine Kampagne nach der anderen das aktive Leben, die gesundheitsfördernden Aspekte von Bewegung oder die Risikominimierung durch Sport oder Bewegung rühmt, dann wird damit an das Freizeitverhalten appelliert. Dabei etabliert sich nahezu unbemerkt ein ganzer Kanon von Geboten und Verboten, die das versprochene bewegte Leben ziemlich einschränken. Die Einschränkungen beginnen bereits bei der klassischen Trennung von Arbeit und Freizeit: Es ist selbstverständlich geworden, die kleinen und feinen Motivations- und Imagekampagnen ausschließlich auf den privaten Bereich zu beschränken. Von Fitmärschen und -läufen an Nationalfeiertagen über Fit- und Wellnessurlaube bis zur Bekämpfung des persönlichen, nämlich inneren, Schweinehundes (im Rahmen der beschriebenen Kampagne ,,Es ist nie zu spät, den ersten Schritt zu tun") reicht das Gebot der Maßnamen im Dienste der Gesundheitsvorsorge.

Kurios dabei ist die Tatsache, dass es sich einerseits um Sensibilisierungskampagnen zur Bewusstwerdung der Risiken eines postindustriellen Lifestyles handelt, andererseits damit die industrielle Sinngebung der Freizeit als ausschließliche Wiederherstellung der Arbeitskraft erneut ins Spiel gebracht wird. Ähnlich paradox gestalten sich Präventivmaßnahmen gegen Nikotinsucht. Wenn die Betroffenen so widerspenstig sind, nicht auf die Stimme der Vernunft, schon gar nicht auf große Warnhinweise zu achten, denn stehen auch in der neoliberalen Verfasstheit der Gesellschaft wieder individuelle Freiheiten zur Disposition.

Derart signifikante Entwicklungen lassen sich auch am Beispiel des Schulsports beobachten. Die im Zuge des neoliberalen Umbaus des Staates durchgeboxte Schulautonomie hat zu einer Welle von Sparmaßnahmen geführt, die vor allem den Bereich so genannter Nebenfächer im Allgemeinen und Sportunterricht im Besonderen betrifft (Katschnig-Fasch 2003). Angesichts des Europäischen Jahrs der Erziehung durch Sport erscheint diese Entwicklung besonders zynisch: Jugend soll unter allen Umständen fit gemacht werden, anderseits werden Stundenkürzungen im Pflichtfach Bewegung und Sport (ehemals Leibeserziehungen) mit der Begründung, Schüler und Schülerinnen zu entlasten, und trotz des Widerstands von Betroffen durchgesetzt. Die Verlagerung der sportlichen Betätigung, wohlgemerkt einem Pflichtfach, in die freie Zeit der Lernenden kann im konkreten Fall nicht geleugnet werden. Interessanterweise ist es wieder die Gesundheitspolitik, die ausgerechnet das Freizeitverhalten kritisch in den Blick nimmt. Die steigende Zahl von Unfällen in der Freizeit führte zu einer Erhöhung der Unfallkosten. Als Grund für die ständig steigenden Zahlen wird die aktivere Freizeit, die mehr Menschen zur Bewegung und zum Sport bringt, genannt: Frei betriebener Sport, einfaches Gehen und Laufen - organisierter Sport gar nicht eingerechnet - verursachen zurzeit 53 Prozent aller Freizeitunfälle, Tendenz steigend (Institut Sicher Leben, 2004). In diesem Zusammenhang verwundert es kaum, dass eine Freizeitunfallversicherung in Betracht gezogen wird, eine entsprechende Umsetzung wird wohl ausbleiben, würden diese doch die Bemühungen um mehr sportliche Betätigung der Bevölkerung konterkarieren.

    Die Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an Phänomenen oder die Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen. (Foucault 2000, 63)

Ein bestimmendes Moment der neuen Gouvernementalität ist die Verpflichtung des Subjekts, gesellschaftlichen Herausforderungen mit erhöhter Eigeninitiative zu begegnen. Demgemäß führt entsprechend der aktuellen Ausrichtung der Gesundheitspolitik kein Weg daran vorbei, die eigene Freizeit aktiv, im Sinne einer produktiven Sportlichkeit zu gestalten. Als mögliche Strategie gegen eine vereinnahmte Freizeit, die auch noch beträchtliches Risiko mit sich bringt, bietet sich die schlichte, aber bewährte Aufmüpfigkeit an. Mit Foucault gesprochen geht es um die Ausübung von Kritik, im Sinne einer ,,Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden" (Foucault 1992, 28). Subversiv, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften aufgreifend, könnte sich hier die Mimikry bewähren, die Täuschung aus Selbstschutz. Ambitionierte Trägheit wäre dabei die erste Übung. In diesem Sinne: Move Your Mind! Stretch Your Body.

Literatur

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Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M., 254-262

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Foucault, Michel (1995) [1984]: Die Sorge um sich, Frankfurt/M.

Foucault, Michel (1996) [1978]: Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Gespräch mit Ducio Trombadori. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Mit einem Vorwort von Wilhelm Schmid. Mit einer Bibliographie von Andrea Hemminger, Franfurt/M.

Foucault, Michel (2000) [1978]: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., 41-67

Katschnig-Fasch, Elisabeth (2003): In der Spirale der Auflösung - Zur Krise der Schule; Vor der Explosion; in: dies. (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus, Wien, 125-149

Görnert, Michael: Das Praktikum bei Showa Denko K.K., http://www.electronic-storm.de/japan/, download im April 2004

Grosser, Manfred (1995) [1991]: Soziale Frage, in: Nohlen Dieter (Hg.): Wörterbuch Staat und Politik, München/Zürich

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Ziehe, Thomas (1996): Vom Preis des selbstbezüglichen Wissens. Entzauberungseffekte in Pädagogik, Schule und Identitätsbildung; in: Arno Combe/Werner Helsper(Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt/M., 924-942

1 Die größte Resonanz gelang "Fit mach mit!" auf Grund der doppelt gebrochenen Parodie im Rahmen einer Folge der TV-Kultserie Kottan ermittelt: "Ganz Wien" lehnt an Häuserwänden und macht morgendliche Stretchübungen ...

2 Während des Krieges wurde auch die Radiogymnastik in den Dienst des japanischen Nationalismus gestellt: "Nur wenn das Volk stark ist, ist ein Sieg möglich", nach Ende des Krieges zeitweilig durch die US-Besatzung verboten, 1951 kam es zu einem erfolgreichen Relaunch.

3 Tatsächlich wurden Lebensmittel im Wert von damals 1,4 Millionen Schilling gespendet.