Enteignung von "oben" und (Wieder)Aneignung von "unten"

"Öffentliche Güter" und Kriterien neoliberaler Privatisierung

in (05.07.2004)

"Enteignet die Kollektivisten! Bereichert euch!" Dies ist der unausgesprochene Schlachtruf neoliberaler Politik.

Doch diese Enteignung durch Privatisierung ist umkämpft und funktioniert keineswegs reibungslos. Sie produziert vielmehr zahlreiche Widersprüche und Widerstände. Neoliberale Privatisierungspolitiken geraten in eine Krise. Aber die Reaktion neoliberaler Akteure ist eine Radikalisierung des immer Gleichen: mehr Privatisierung, mehr Liberalisierung. Trotz wachsender Unzufriedenheit wird die Politik der Privatisierung durch nationale Regierungen, supraund internationale Organisationen beschleunigt. Mit einer Verschärfung von Privatisierungspolitiken und der Institutionalisierung von veränderten bzw. neuen Eigentumsrechten sollen die letzten Bastionen des fordistischen Wohlfahrtsstaates - die Bereitstellung allgemeiner öffentlicher Dienstleistungen, infrastruktureller Grundversorgung und (wenn auch rudimentärer) sozialer Sicherungssysteme - endlich geschliffen, die Unumkehrbarkeit neoliberaler Verhältnisse gegen wachsende Widerstände gesichert und Machtverhältnisse betoniert werden.

Die jüngste Welle der Privatisierungen in Europa und internationaler Regelsetzungen im Rahmen der WTO markieren einen erneuten Schub zur Durchkapitalisierung der Gesellschaften. Sie sind in doppelter Hinsicht unverzichtbar für einen sich zunehmend aggressiv gebärdenden Neoliberalismus: Angesichts fortbestehender Überakkumulation und mangelnder Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals dienen Privatisierung und die Etablierung neuer Eigentumsrechte der Erschließung neuer Verwertungsbereiche im Sinne einer inneren und äußeren Landnahme. Darüber hinaus entziehen sie durch die wachsende Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung entscheidende Bereiche der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion dem politisch-demokratischen Einfluss von Parlamenten und Bevölkerung.

Die Citoyens, die mit politischen und sozialen Rechten ausgestatteten StaatsbürgerInnen, werden zu Kunden. Diese realisieren ihre gesellschaftliche Teilhabe gemäß ihrer monetären Leistungsfähigkeit, mit der sie die für ihre individuelle Reproduktion notwendigen Waren und Dienstleistungen aus einem bunten Strauß privater Anbieter kaufen können. Ohne die Fähigkeiten eines "guten", also kaufkräftigen Kunden ist man auch kein vollständiger Citoyen. An die Stelle demokratischer Teilhabe und kollektiver politischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen treten atomisierte Individuen, die sich als Verkäufer und Käufer auf dem Markt gegenüber stehen. Da marktförmige Tauschbeziehungen zunehmend die Sphäre der unmittelbaren Lebensbedürfnisse betreffen, wundert es nicht, wenn diese versachlichten Beziehungen auch die übrigen, noch nicht dem Tauschgesetz unterworfenen Lebensbereiche (wie z.B. die Familie) ergreifen. Ohne ausreichende finanzielle Ressourcen bist du raus aus dem Spiel des Marktes, bist du mit minimalen politischen Rechten gesellschaftlich marginalisiert.

Privatisierung meint immer Enteignung und Ausschluss einer Mehrheit und exklusive Verfügungsmöglichkeiten einer Minderheit. Privatisierungsprozesse führen zur Einschränkung des freien Zugangs zu lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit, Wasser, Sicherheit etc.), zum Abbau von Qualitätsstandards und Beschäftigung, zur Verschlechterung von Arbeitsverhältnissen, zur Missachtung ökologischer Aspekte und Vertiefung geschlechtlicher Arbeitsteilung. Die Folgen sind zum Teil desaströs - nicht nur bei den britischen Eisenbahnen, der Stromversorgung in den USA und Neuseeland, der Wasserversorgung in Bolivien, Ecuador oder Südafrika, der Kinderbetreuung in Deutschland. Statt einer Entlastung öffentlicher Haushalte führen sie in vielen Fällen zur Erosion der Einnahmebasis von Kommunen und ihrer verstärkten Abhängigkeit von transnationalen Konzernen.

"Öffentliche Güter" als Globalisierungskritik von "oben"

Gegen die Folgen dieser auch (und gerade) von sozialdemokratischen Regierungen und Mitte-Links-Bündnissen betriebenen Politiken organisiert sich auch in aufgeklärt-liberalen Kreisen immer wieder Kritik. Dagegen werden Konzepte und Kategorien gesetzt, die über konsensuale Problembearbeitungsprozesse den harten gesellschaftlichen Widersprüchen ihre Spitze nehmen sollen. Anfang der 90er Jahre waren es die Nachhaltigkeitsdiskurse, es folgten das Projekt einer Global Governance, einer Good Governance, der Human Security und seit wenigen Jahren wird vom United Nations Development Programme (UNDP) nun das Konzept der Globalen öffentlichen Güter propagiert. Angesichts der weltweiten gesellschaftlichen Ungleichheiten und sozialen Problemlagen artikuliert sich darin eine Kritik der neoliberalen Globalisierung von ›oben‹, die weniger auf eine Strategie gesellschaftlicher Mobilisierung und Überzeugung als auf ein gezieltes Lobbying auf Ebene der nationalen und internationalen Eliten setzt.

Das Konzept hat den Charme, mit dem wohlfahrtstheoretischen Begriff der "öffentlichen Güter" die herrschende neoklassische Theorie mit ihren eigenen Waffen anzugreifen. Es greift die schlichte Erkenntnis auf, dass trotz der Tendenz des Kapitals, alle gesellschaftlichen Verhältnisse in warenförmige zu verwandeln, dies nicht bei allen für die Reproduktion notwendigen allgemeinen Produktionsbedingungen möglich ist. Denn in vielen Bereichen können nicht zahlende ›Kunden‹ mangels rechtlicher, technischer und gesellschaftlicher Voraussetzungen nicht von der Nutzung ausgeschlossen werden. "Öffentliche Güter" seien daher quasi die Ausnahme von der ansonsten gut funktionierenden marktförmigen (kapitalistischen) Produktion. Entsprechend könne die Bereitstellung "öffentlicher Güter" durchaus über den Markt erfolgen, der Staat müsse nur den Zugang für alle gewährleisten.

Der Unterschied ist, dass der Fokus nun global statt national ist und mit einer klaren politischen Perspektive verbunden wird: Was als "öffentliches Gut" definiert wird, ist keine ökonomie-theoretisch eindeutige Angelegenheit, sondern Ergebnis politischer Entscheidung. Entsprechend werden normativ bestimmte gesellschaftliche Bereiche und Güter als "öffentliche" gesetzt: von der allgemeinen Versorgung mit Bildung, Wasser usw. bis zur Finanzmarktstabilität, Frieden etc. Dieser prinzipiell demokratisch-normative Charakter des Konzepts und seine politische Anschlussfähigkeit an Mainstream- wie an kritische Positionen macht letztlich seinen politischen Wert aus.

Die Kriterien der Nicht-Auschließbarkeit, Nicht-Rivalität und Öffentlichkeit der Entscheidung sind allerdings uneindeutig. Widersprüchliche Folgen und soziale Kosten eines "public good" bleiben außer Acht. Statt unterschiedliche gesellschaftliche und politische Differenzen zu benennen, wird tendenziell ein gesellschaftliches Allgemeininteresse suggeriert. Hingegen zeigt das Beispiel eines "öffentlichen Gutes" Finanzmarktstabilität, dass die Vorteile der Stabilität, gewährleistet mittels rigider Geld- und Haushaltspolitik, vor allem Vermögensbesitzern zugute kommen. Die negativen Konsequenzen in Form von zurückgehenden öffentlichen Investitionen und höherer Arbeitslosigkeit müssen von anderen gesellschaftlichen Gruppen getragen werden - aus dem "public good" für die einen wird ein "public bad" für die anderen (Elmar Altvater). In solchen widersprüchlichen Wirkungen öffentlicher Güter tritt ihre gesellschaftliche Formbestimmtheit - also ihr Klassencharakter - hervor. Schließlich werden im UNDP-Konzept auch Handelsliberalisierungen und die Gewährleistung privater Eigentumsrechte zum "öffentlichen Gut", womit aus der Anschlussfähigkeit an den Mainstream ein Instrument zur Integration oppositioneller Gruppen in den neoliberalen Herrschaftsmodus wird.

Damit die Kategorie des "öffentlichen Gutes" nicht zu einem sog. "catch-all"-Begriff wird, der alles und nichts umfasst und unter der Hand in sein Gegenteil verkehrt wird, bedarf es also einer klareren Bestimmung seines Inhalts. Diese Bestimmung muss notwendigerweise eine öffentliche und politische Form finden. Die Vorstellung von Öffentlichkeit und der Politik-Begriff, den die liberalen Kritiker der Globalisierung mit diesem Konzept implizit transportieren, sind allerdings verkürzt. Der "öffentliche Raum" ist kein Ort des herrschaftsfreien Diskurses, in welchem das "bessere" Argument sich durchsetzt. Er ist vielmehr der Ort des Kampfes um Hegemonie vor dem Hintergrund ungleicher sozioökonomischer Ausgangsbedingungen und Verfügungsstrukturen. Gleichzeitig wird er als öffentlicher, zivilgesellschaftlicher Raum erst durch staatliche Definitionsgewalt konstituiert. Das "Öffentliche" ist also nicht per se das "Gute" und repräsentiert kein Allgemeininteresse.

(Wieder)Aneignung von "unten"

Dennoch artikuliert sich im Konzept der sog. "öffentlichen Güter" eine Kritik am herrschenden Privatisierungs- und Verwertungsdruck, die in ihrer Widersprüchlichkeit ernst genommen werden muss und durch gesellschaftlichen Druck von "unten" reartikuliert werden kann. Aus der ursprünglich wohlfahrtstheoretischen Kategorie der "öffentlichen Güter" wurde durch soziale Kämpfe bereits ein politischer Begriff. Kommunale Initiativen gegen die Privatisierungen der öffentlichen Grundversorgung, Bündnisse gegen Sozialabbau auf nationaler Ebene und transnational organisierte globalisierungskritische Bewegungen verbinden konkrete, sonst vernachlässigte Interessen mit den lebendigen Praxen gelebter gesellschaftlicher Widerstände, eröffnen Räume für das Erfinden von Alternativen. Bislang bleiben die unterschiedlichen Handlungsebenen und Aktionsformen aber noch zu unverbunden nebeneinander bestehen und sind häufig genug defensiv in der Verteidigung des nationalen fordistischen Wohlfahrtsstaates verhaftet. Solche Defensivkämpfe sind angesichts des verschärften Drucks auf Sozialsysteme und öffentliche Dienstleistungen verständlich und notwendig. Dabei kann insbesondere das Eintreten für die Bewahrung der sog. "öffentlichen Güter" ein wichtiges Element sein und das "öffentliche Gut" zunächst als nützlicher Kampfbegriff fungieren. Doch wer soll besagte "öffentlichen Güter" produzieren, bereitstellen, gewährleisten? Angesichts der historischen Erfahrung mit westlichem Fordismus und östlichen Staatssozialismus kann die reine Anrufung des Staates keine Perspektive darstellen. Es muss nach alternativen Formen der Bereitstellung und Produktion der allgemeinen Produktionsbedingungen jenseits von Markt und Staat gefragt werden. Es geht nicht um "mehr Markt" versus "mehr Staat", nicht darum, einfach Forderungen an den Staat zu richten. Vielmehr geht es um eine Transformation des Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft durch gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Verschiebung der Kräfteverhältnisse: vor allem durch alltagsnahe Praxen der Wiederaneignung gesellschaftlichen Reichtums und sozialer Rechte - auch durch die Überschreitung und Dehnung herrschender Rechtsverhältnisse. Das heißt, Abwehrkämpfe gilt es mit offensiven Forderungen zu verbinden, die über das gegenwärtig Machbare und die bestehende Gesellschaftsform hinausweisen und zugleich in ihr ansetzen. Um die Vielfalt der Problemlagen, Praxen, Erfahrungen und Kämpfe zu fassen, sind unterschiedliche Ansätze zu nutzen, die gegenüber der tendenziell staatszentrierten Kategorie "öffentlicher Güter" die Subjekte stärker ins Zentrum rücken. Das gemeinsame dieser Ansätze könnte sein, eine möglichst weit gehende "Dekommodifizierung" (1) gesellschaftlicher Verhältnisse und die transnationale Verallgemeinerung sozialer Rechte zu ermöglichen - gegen neue Verhältnisse der Enteignung von "oben", zugunsten einer (Wieder)Aneignung von "unten".

Die alltägliche Wiederdurchsetzung bestehender Rechte und ihre Erweiterung, etwa des Tarifrechts im Betrieb, v.a. im Bereich prekärer Beschäftigung oder von Sozialhilfe- und Arbeitsamtsleistungen, die den Betroffenen allzu häufig vorenthalten werden; die Eltern, die den Anspruch auf umfassende Bildung oder Betreuung ihrer Kinder vor Ort einfordern; das kollektive Abzweigen von Strom oder Petroleum in den Staaten des Trikonts; die illegalisierten MigrantInnen, die sich ein Recht auf Mobilität gegen staatliche Repression ertrotzen müssen; die gemeinsame Beschaffung von Waren des täglichen Überlebensbedarfs; die guten alten Hausbesetzer; das millionenfache unerlaubte Kopieren von Software, Musik und Filmen und nicht zuletzt die Aneignung von Land durch die Landlosenbewegung in Brasilien oder die Zapatistas in Mexiko, die dies mit veränderten Formen gesellschaftlicher Organisierung und Widerstand zu verbinden suchen - all das sind Beispiele alltagspraktischer Aneignung allgemeinen gesellschaftlichen Reichtums und sozialer Rechte, die über die simple Anrufung des Staates hinausgehen, Erfahrungen bereitstellen und erst den gesellschaftlichen Druck aufbauen, der zu veränderten gesellschaftlichen Regulationsformen führen kann.

 

(1)Kommodifizierung bezeichnet den Prozess des Zur-Ware-Werdens, Dekommodifizierung den umgekehrten Prozess. Weitere Informationen unter: www.wem-gehoert-die-welt.de oder www.whoowns- the-world.org