In welcher Gesellschaft leben wir?

Kapitalistisches Eigentum in seiner gegenwärtigen Gestalt als globalisierter Kapitalismus und imperiale politische Herrschaft bilden der Kern der heutigen Weltordnung. Es geht um die Frage: Was tun?

Die Frage scheint geklärt, durch den Gang von Geschichte. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen, sie trägt ihre Plausibilität in sich selbst. Auch für uns. Das sollte uns wundern, tragen wir doch in unseren Biografien die Erfahrungen von Existenz in unterschiedlichem gesellschaftlichem Sein.

Das ist der Ansatz: Hinterfragen wir die scheinbare Plausibilität unseres "Werkeltagbewusstseins". Der Zeitgeist bietet verschiedene Deutungsmuster (Denkformen) an: westliche Demokratie, freiheitlich-demokratische Grundordnung, marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaft, (nicht mehr) Industriegesellschaft, (nicht mehr) Arbeitsgesellschaft, Freizeitgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Wissensgesellschaft. Zugleich scheint die Welt(-Gesellschaft) in ihren Normalzustand zurückgekehrt. Die im Rückblick "unnatürliche" Bipolarität der Welt mit unterscheidbaren gesellschaftlichen Ordnungen ist aufgehoben, die Welt ist wieder eins. "Geschichte ist offen!", hat der Zeitgeist von Karl Popper übernommen. Und: "Das Ende von Geschichte ist gekommen!", behauptet er zugleich, Veränderungen sind möglich, qualitative Wandlungen der Grundlagen sozialen Seins gelten als ausgeschlossen. Sozialer Wandel, um das "bewährte System" zu erhalten. Alle Politik ist Gestaltungspolitik und damit im Wesen konservativ.

Was lässt sich als Kern dieser Deutungsmuster gegenwärtiger Gesellschaft ausmachen?

  1. Alles dreht sich um Waren, es ist eine Gesellschaft von Waren. Was Marx "Warenfetischismus" nannte, hat den Siegeszug angetreten. Diese Warengesellschaft ist demokratisch, alle Waren sind gleich - als tauschbar. Fortschritt ist, dass prinzipiell alles in Ware verwandelt werden kann, nicht nur Produkte und Dienstleistungen, Information sowieso, aber auch Bildung und Spezialqualifikation, Kunst, Wissen, Glaube, politische Ideen, Soldaten, humanitäre Hilfe, Gesundheit, gar Solidarität (Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände), alles hat seinen Markt.
  2. Diese Welt ist global. Die Realität hat die physikalische Erkenntnis eingeholt: Raum und Zeit sind relativ. Kein Ort der Erde ist unerreichbar, keine Chance mehr für Robinson. Per Information kann man überall auf der Welt eingreifen. Für Informationen gibt es keine Grenzen mehr, wie mir jeder morgendliche Blick auf den Müll in meinem elektronischen Briefkasten zeigt. Prinzipiell kann jede Produktion an jeden Ort der Welt verlegt werden, durch Umsteuerung von Kapitalflüssen, der Rest ist Organisation. Für unsere Redaktion z. B. ist es völlig unerheblich, ob ein Autor oder eine Autorin im Prenzlauer Berg wohnt oder in Nordirland.
  3. Der Mensch ist seinem Wesen nach ungleich. Er mag zwar "frei und gleich geboren" sein, das war es dann aber auch. Rousseau und seine Nachfahren im Geist waren und sind Spinner. Die neoliberale Hegemonie, mit der wir es seit einiger Zeit zu tun haben, basiert darauf, dass es ihren Protagonisten gelungen ist, ein antisolidarisches Gesellschaftsbild und ein egoistisches Menschenbild zu implementieren und wirksam zu verbreiten. In der Konsequenz werden Menschen eingeteilt in Wertvolle, Nützliche und Überflüssige (in den Slums dieser Welt, aber auch in den kapitalistischen Metropolen).

Soweit meine Sicht vom Gesellschaftsbild des Zeitgeistes.

Aber entspricht dieses Gesellschaftsbild der Realität oder wieweit entspricht es der Realität? Sind die Alternativlosigkeit und die Plausibilität, mit der es präsentiert wird, berechtigt? Was können Ansätze zur Analyse sein?

Ansätze zur Analyse
Dazu ist erforderlich, die eingesetzte Methodologie offen zu legen. Wenn ich als Soziologe mehr tun will, als "Fliegenbeine zählen", mehr als deskriptive Aussagen zu formulieren, dann brauche ich ein internes Modell der Gesellschaft. Das ermöglicht mir, meinen jeweiligen Gegenstand zu verorten, Realität zu rekonstruieren, indem ich ihn in Beziehung setze zu Zusammenhängen, Prozessen und Verhältnissen. Mein Ansatz ist ein Vergesellschaftungsansatz. Individualität und Gesellschaftlichkeit bilden eine Identität. Ausgangspunkt war die gedankliche Auseinandersetzung mit Aussagen wie diesen: "Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse, und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe. Die zweite schafft die Bedingungen der dritten." 1

Um ihren Lebensprozess zu realisieren, so Karl Marx in der "Deutschen Ideologie", müssen die Menschen untereinander Beziehungen eingehen, Kooperation ist die Grundform der individuellen und der gesellschaftlichen Existenz.2 Diese Beziehungen sind von unterschiedlicher, sich historisch wandelnder Gestalt. Man kann die gesellschaftlichen Beziehungen unterscheiden nach Art (ökonomische, kulturelle usw.), nach Gestalt (unmittelbare - vermittelte), nach Reichweite (familial - global), nach Ergebnis (reproduktiv - kreativ) und nach sozialer Qualität (konfrontativ - kooperativ).

Das komplexe Geflecht dieser Beziehungen der wirklichen Menschen untereinander und zu ihren Existenzbedingungen bildet die gesellschaftlichen Verhältnisse. In diesen gesellschaftlichen Verhältnissen haben die verschiedenen Arten gesellschaftlicher Beziehungen unterschiedliche Bedeutung oder unterschiedliches Gewicht. Um leben zu können, müssen Menschen bekanntlich essen und trinken, sich kleiden, wohnen sich fortbewegen usw. "Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst ...". In Gesellschaften, die auf Privateigentum beruhen, sind die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse knappe Güter, sie haben meist die Existenzform von Waren, und die Ressourcen, über die Bedingungen ihrer Herstellung und ihre Produkte und andere Ergebnisse zu verfügen und/oder sie sich anzueignen, sind sozial ungleich verteilt. Diese Verfügung über die Bedingungen der Produktion hat die Existenzform als Kapital, unsere Gesellschaft ist eine kapitalistische Gesellschaft.

Menschen sind nicht nur kommunizierende, bedürftige und produzierende Wesen, sie sind auch denkende Wesen, der Drang zum "Baum der Erkenntnis" ist ihnen eigen. Die Ergebnisse dieses Denkens sind verschiedengestaltig, sie reichen von Erfahrung bis Wissenschaft.

Zwei Aspekte sind in unserem Zusammenhang von Bedeutung:
Erstens führt diese Erkenntnis- und Lernfähigkeit (im Kapitalismus zusammen mit der Tendenz des Kapitals, sich auszuweiten und zu rationalisieren) dazu, dass ständig neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden und dass die Prozesse des Herstellens immer effektiver werden, um schneller und mehr produzieren zu können. Die Verfügung oder Nicht-Verfügung über Kapital und andere kapitalförmig verwertbare Ressourcen (politische Macht, Wissen, Information, Organisation- und Verwaltungskompetenz) und der permanente Prozess der Rationalisierung (Produktivkräfte) bilden zusammen die sozial-ökonomischen Verhältnisse. Soziale Unterschiede, die mit diesen sozialökonomischen Strukturen zusammenhängen (von ihnen bedingt werden), haben den Charakter von Klassenunterschieden, sie bilden die Grundlage von Klassenformierung und -strukturierung, das ist unabhängig davon, welche Rolle das im öffentlichen Bewusstsein spielt. Aber die Klassenstruktur ist nur eine Dimension in den komplexen sozialen Strukturen moderner kapitalistischer Gesellschaften. So ist es z. B., wie wir von Pierre Bourdieu wissen, nicht nur von Bedeutung, was und wieviel man isst, sondern auch wie man isst. 3 Die Kulturstile konstituieren den Habitus, der die Basis für die Formierung der soziokulturellen Milieus und damit verbundene Formen der Vergesellschaftung oder der Abschließung ist.

Zweitens unterscheiden sich die Ergebnisse menschlichen Denkens nach Stellung der Individuen im Geflecht der gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse und damit verbundenen Interessen. Daraus ergeben sich Unterschiede in Deutungsmustern und Zukunftsbildern (bzw. Chancen für ihre Annahme oder Zurückweisung). Menschen können sich in den hochkomplexen modernen Gesellschaften mit ihrer Vielfalt an Differenzierungen, Zusammenhängen und Spaltungen nur orientieren, wenn sie dabei Deutungsmuster (Topoi) verwenden, sie sagen ihnen, was richtig und was falsch, was gut und böse ist. Diese Deutungsmuster können sich verändern und sind veränderbar, das ist ein wichtiges Mittel zur Gewinnung oder Sicherung politischer Macht. Jene Deutungsmuster, die die meisten Menschen beeinflussen können, haben die Hegemonie, sie definieren den Zeitgeist. Sicher, die herrschende Ideologie ist immer die Ideologie der Herrschenden, Ausdruck der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, aber nicht nur. Der Kampf um die Köpfe ist ein Krieg, die Produktion von Deutungen ist längst ein selbständiger Industriezweig mit Mächtigen und Machtlosen, aber in diesem Krieg hat es noch nie einen endgültigen Sieger gegeben. Gegenhegemonien sind möglich.

Was ist neu? Globalisierung und Flexibilisierung
Beide Aspekte der sozialökonomischen Verhältnisse haben im modernen Kapitalismus eine neue Qualität erreicht: Die Konzentration und Ausweitung von Kapitalmacht und die Rationalisierung.

Die Entdeckung der potenziellen Globalität gesellschaftlicher Beziehungen als Beziehungen von Waren, als Weltmarkt, ist es, die Marx wenige Jahre, nachdem der Zeitgeist jubilierte "Marx ist tot!", zu dem Klassiker der Globalisierung werden ließ. Aber es gibt Unterschiede zu der Realität, die Marx reflektierte. Zum einen ist aus der potenziellen Globalität der Waren als verdinglichte gesellschaftliche Beziehungen eine reale Globalität universeller Verfügbarkeit geworden. Zum anderen ist diese Globalität längst nicht mehr auf diese verdinglichten Beziehungen begrenzt, eingreifendes Handeln, Kommunikation, gesellschaftliche Beziehung in ihrer Unmittelbarkeit sind gleichfalls global möglich, und das zu Echtzeit. Das Zentrum dieser Welt (-Gesellschaft) ist überall, überall, wo die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Dominiert wird das alles durch die Globalisierung des Kapitals, dieses hat es am effektivsten verstanden, die neuen Möglichkeit zu nutzen, ja zu okkupieren.

Eine Welle von Fusionen und Übernahmen, verstärkte Konzentrations- und Zentralisationsprozesse bei den großen Unternehmensgruppen haben insgesamt zu einer Stärkung des international agierenden Finanzkapitals geführt. Sie werden gesteuert an Strategien zur Effizienzsteigerung und bewirken strukturelle Veränderungen beim gesellschaftlichen Gesamtarbeiter. Vor allem sind sie verbunden mit einer gigantischen Vernichtung von Arbeitsplätzen. Es gibt nur wenige "global player", aber diese Wenigen haben mehr ökonomische (und politische) Macht bei sich konzentriert als je zuvor. Sie haben eine Größe erreicht, dass sie längst über die einzelstaatlichen Volkswirtschaften hinausgewachsen sind, sie in ihre Anhängsel verwandelt haben. Sie entscheiden über Kapitalflüsse, über Kredite und Zinsen. Sie entscheiden (gemeinsam mit der politischen Administration der USA) über das Agieren der Weltbank. Sie sind dabei, die Welt buchstäblich zu erobern. Das Zentrum ist eben nur der Möglichkeit nach überall.

Diese Prozesse haben technologische Grundlagen. Es sind die Informations- und Kommunikationstechnologien, die den Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt erst möglich machen. Diese Technologien sind in der Gesellschaft allgegenwärtig, sie werden in allen produktiven und nichtproduktiven Bereichen wirksam und ermöglichen jeweils Effektivität und effektive Vernetzungen. Ihre Wirkung besteht nicht in erster Linie in neuen Produkten, obwohl es auch dabei eine rasante Entwicklung gibt, die anhalten dürfte. Ihre Hauptwirkung besteht darin, dass sie vermitteln, dass sie prinzipiell alle Herstellungs-, Transport- und andere Arbeitsprozesse effektiver machen und optimieren können. Sie ermöglichen Flexibilisierung und machen sie beherrschbar.

Globalisierung und Flexibilisierung sind objektive Prozesse, sie kann man weder leugnen noch ignorieren und schon gar nicht rückgängig machen, zu ihnen kann man sich nur verhalten. In diesen Prozessen hat sich bisher das Kapital eindeutig zum Sieger gemacht. Globalisierter Kapitalismus bedeutet, dass nicht nur die Erträge gesellschaftlicher Arbeit den realen Wirtschaftskreisläufen in den nationalen Volkswirtschaften entzogen werden und in die virtuelle Sphäre der internationalen Finanzmärkte verschwinden, sondern auch, dass aus dieser Geisterwelt des sich selbst wertsteigernden Geldes ein gewaltsamer Druck in Richtung Profitsteigerung in der realen Wirtschaft ausgeübt wird, der letztlich permanenten Arbeitsplatzabbau bewirkt. Die Konsequenzen sind stagnierende Investitionen, was bei gleichzeitiger Produktivitätssteigerung die Reduzierung von Lohnarbeit zusätzlich beschleunigt, und defizitäre Staatskassen, die Einschränkungen in den Dienstleistungen für die Gesellschaft erzwingen.

Aber es ist nicht alternativlos, dass Globalisierung und Flexibilisierung sich als kapitalistische realisieren. Die eine Frage, die sich daraus ergibt, ist die, warum es so möglich ist, was die Vermittlungen sind. Die andere ist die nach Alternativen, z. B. ist doch zumindestens zu fragen, ob nicht die gleichen Möglichkeiten zur Internationalisierung von anderen politischen Akteuren genutzt werden können oder zu einem anderen Typ der Regulation zwischen Wirtschaftlichem und Sozialem, nämlich zu Gunsten des Sozialen.

An den Linken gehen diese Prozesse vorbei, deshalb findet eine Auseinandersetzung um Gestaltungsoptionen gar nicht erst statt, und deshalb haben die neoliberalen Konzepte bisher kampflos gewonnen. Aber zu den Fragen.

Vermittlungen: Politische Macht und Zeitgeist
Die oben formulierte erste Frage umfasst zwei Teile: Was bewirkt, dass diese Gesellschaft so stabil ist? Und: Was bewirkt, dass die Entwicklung in eine ganz bestimmt Richtung gehen kann, die den neoliberalen Konzepten folgt?

Diese Fragen sollen an zwei Dimensionen der gesellschaftlichen Verhältnisse diskutiert werden, einer politischen und einer geistigen. Die These ist, dass zum einen die politische Macht so verteilt und die politischen Kräfteverhältnisse so gestaltet sind, dass die Prioritäten für den Einsatz der staatlich verfügbaren Ressourcen bei der Reproduktion der ökonomischen Verhältnisse liegen, es ist eine marktradikale Politik. Zugleich werden die geistigen Verhältnisse dominiert von Deutungen, die Marktwirtschaft und Privateigentum, wirtschaftlichen Erfolg und privaten Gewinn generell positiv besetzen. Beide Aspekte verstärken einander.

Politik ist in der Realität beileibe nicht die Kunst des Möglichen. Aus meiner Sicht sind zwei Bestimmungen von Politik (des Politischen) möglich. Zum einen ist Politik die Gesamtheit der Prozeduren und Institutionen, in denen die Staatsbürger die Gestaltung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Zum anderen kann Politik bestimmt werden als Gesamtheit der politischen Beziehungen, die die Menschen eingehen, sich dabei orientieren und organisieren, Normen und Institutionen finden und sie verändern. Soweit die Abstraktion, die Realität ist davon entfernt. Zutreffend ist, dass es sich um Regulierung handelt, die Dimension des Politischen ist eine regulierende, reguliert wird mittels der Ressourcen, die staatlich verfügbar sind, und daneben durch die viel beschworenen Rahmenbedingungen. Ansonsten sind die Verhältnisse anders. Formal sind die Mitglieder der Gesellschaft gleich, egal ob man sie als Staatsbürger oder als Akteur politischer Beziehungen ansieht. In der Realität sind sie es nicht. In den politischen Kräfteverhältnissen haben staatliche Institutionen, Parteien und Interessenverbände (formelle und informelle) ganz klar die Übermacht. Es geht kaum um Diskurse über verschiedene mögliche Lösungsansätze zu gesellschaftlichen Problem- und Konfliktlagen. Die Konzepte sind vorgegeben, sie werden durchgesetzt. Als Wahlbürger können sich die Mitglieder der Gesellschaft dazu verhalten, aber sie haben keine wirklichen Chancen.

Die Ressourcen, die für gesellschaftliche Steuerung zur Verfügung stehen, sind riesig, reichlich 50 Prozent des Bruttoinlandproduktes (1 Billion von 1,8 Billionen EUR) wandern durch die Staats- und andere öffentlich-rechtliche Kassen. Auch so gesehen bedeutet Politikmachen Macht haben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Politiker mindestens soviel Energie für die Erhaltung von Macht verwenden wie für ihre eigentliche, regulierende Funktion.

In der Welt der Erscheinungen ist immer noch der Einzelstaat der Raum der politischen Prozesse, diese Erscheinung wird reproduziert und verstärkt, indem die Einzelstaaten immer noch die Räume der Legitimationsbeschaffung sind. Aber in Wirklichkeit, in seinen wesentlichen Zusammenhängen hat auch das Politische diesen Rahmen längst gesprengt. Der internationalen Vergesellschaftung der Ökonomie folgt die internationale Vergesellschaftung der Politik. Die Europäische Union hat wesentlich mehr Einfluss auf unseren Alltag, als wir es gemeinhin annehmen. Auch hier tun sich die Linken schwer, sich dazu angemessen zu verhalten.

Kriege sind nach Ende der Bipolarität und in der Ära von Globalisierung und Flexibilisierung auch wieder zu Mitteln von Politik geworden, "neue" Kriege. Geführt werden sie von "Eingreiftruppen " und zunehmend auch von Söldnern. Vor allem die USA sind es, die internationale Konflikte mit militärischen Mitteln kontrollieren und dabei die Welt nach dem Bild der kapitalistischen Metropolen und ihren eigenen Interessen gestalten wollen. Wird die Verfassung der Europäischen Union so angenommen, wie sie jetzt im Entwurf vorliegt, dann gibt es auch in der EU einen rechtlichen Rahmen für weltweites militärisches Eingreifen, für Kriege. Überall auf der Welt sind die Menschen gegen diese Kriege, sie finden trotzdem statt. Hans Jürgen Krysmanski hat den Prozess so zusammenfassend beschrieben: "... ein bestimmtes Zusammenspiel von privatem Reichtum mit ›Direktoraten‹ aus Konzernwelt, Politik, Militär, Kultur usw. (ist) heute zu einem schwarzen Loch, zu einem Gravitationszentrum der Macht verdichtet, das die Institutionen der Demokratie und die checks and balances der Zivilgesellschaft nicht nur der USA mit unheimlicher Gewalt aufzusaugen droht." 4

Nach Max Weber bedeutet Macht "... jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen". 5 Herrschaft hingegen kann nach ihm "nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden." 6 Genau das findet statt. Weil politische Macht als politische Herrschaft ausgeübt wird, gibt es die Einheit von kapitalistischer Globalisierung und neuer imperialer Politik, die politische Herrschaft vermittelt sie.

Demokratie wird dabei ausgehöhlt, aber nicht aufgegeben, erfolgt doch die Legitimationsbeschaffung nach wie vor im einzelstaatlichen Rahmen. Und hier kommt der Zeitgeist ins Spiel.

Zeitgeist, Alltagsbewusstsein und mögliche Alternativen
Dass Bewusstseins- und Stimmungslagen in der Gesellschaft widersprüchlich sind, gilt wohl überall und zu allen Zeiten. Für die Gesellschaft in Deutschland trifft dies zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf eine besondere Weise zu. Es gibt eine verbreitete allgemeine Unzufriedenheit, ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein, grassierende Zukunftsangst und zugleich intensive Fortschrittserwartungen, aber alle diese Tendenzen sind in sich widersprüchlich. Die Lage in der Gesellschaft wird von Mehrheiten gegenwärtig negativer bewertet und pessimistischer gesehen als die eigene Situation, zugleich sind sehr viele in ihrer Lebensplanung verunsichert. Intensive Hoffnungen auf Veränderungen sind unmittelbar mit der Furcht vor Veränderungen verbunden, vor allem davor, selbst dabei zu den Benachteiligten zu gehören. Deutlicher als Umfrageergebnisse das können, zeigt sich diese Stimmungslage darin, dass zu Zeiten steigender Preise, zunehmender Steuern und Sozialabgaben bei stagnierenden oder gar rückläufigen Realeinkommen die Sparquote der Deutschen anwächst.

Aus dieser Grundstimmung heraus kann es zu massenhaften Protestaktionen kommen (wie am 3. April 2004 in Berlin und anderswo), unmittelbar politisierbar ist sie kaum, höchstens an den Rändern, und da vor allem für Rechtspopulismus, wie Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern zeigen. Warum ist das so? Es ist eine deutsche Spezifik, dass Unzufriedenheit und Krisenbewusstsein sich aus einer völlig anders gearteten Basis heraus entwickeln. Diese Basis wurde von einer verbreiteten Wohlstandsmentalität ("Wohlstand ist anständig!" als Leitwert) und einem tiefen Fortschrittsglauben ("Es geht immer weiter aufwärts.") geprägt, und das - bei allen sonstigen Unterschieden - im Westen und im Osten nahezu gleichermaßen. Es hat in der alten BRD immer auch Arme, Benachteiligte und Ausgegrenzte gegeben. Aber es war für die Masse der Menschen eine über Jahrzehnte nahezu ungebrochene Erfahrung, dass der Wohlstand zunahm. Das wirkte in der immer breiter werdenden sozialen Mitte der Gesellschaft und bis weit in die unteren Einkommensgruppen hinein, verschämt wurde Armut versteckt, Arbeitslosigkeit getarnt. Reformen bewirkten Fortschritt, mehr Chancengleichheit, mehr soziale Gerechtigkeit. In der DDR war das Lebensniveau zwar insgesamt bescheidener, aber der Wohlstand im Westen war für viele Vor- und Leitbild, auch wenn man nur als Beobachter von außen daran teilnahm. Die Wohlstandsmentalität wurde sehr schnell übernommen. Das wurde augenfällig in der Geschwindigkeit, mit der der durchschnittliche Ostdeutsche aus dem Trabbi in den VWoder aus dem Wartburg in den BMW umstieg. Aus der "nachholenden Modernisierung" wurde dann zwar nichts, aber die nachholende Motorisierung war ein schlagartiger Erfolg. Diese Wohlstandsmentalität ist zugleich partizipativ (man weiß, dass man an einer allgemeinen Entwicklung teil hat) und egoistisch, erst danach - vielleicht - auch solidarisch. Mit dieser historisch akkumulierten Erfahrung kollidiert nun die aktuelle Erfahrung, dass Wohlstand nicht nur nicht wächst, sondern dass es Abstriche gibt, Wohlstand in Frage gestellt wird oder sogar verschwindet. Das wirkt aktuell bis in die soziale Mitte der Gesellschaft, deren Breite jetzt abschmilzt. Das gegenwärtige Krisenbewusstsein in Deutschland ist somit in der übergreifenden Tendenz defensiv, rückwärts gewandt, nostalgisch. Zwei politische Aspekte deuten sich aus diesem Kontext heraus schon einmal an: Soziale Absteiger tendieren eher zur Revolte als zur Revolution. Defensives Krisenbewusstsein favorisiert die alten Modelle, denen die früheren Erfolge zugeschrieben werden, und die politischen Akteure, die damit im Zusammenhang gesehen werden.

Mit dem bis hierher Gesagten ist natürlich nicht die Gesamtheit der Stimmungs- und Bewusstseinslagen erfasst, es handelt sich um eine Tendenz im insgesamt sehr differenziert strukturierten geistigen Leben der Gesellschaft, in Informationen und Meinungen, bei Werten und Deutungsmustern. Eine weitere, wesentliche Tendenz besteht darin, dass die Überzeugung: "So wie es ist, kann es nicht bleiben!" um sich greift und zur Mehrheitsmeinung geworden ist. Welche Vorstellungen sich in diesen Überzeugungen artikulieren, ist nicht nur sehr differenziert, sie sind vor allem in hohem Maße unklar, diffus und widersprüchlich. Etwa zwei Drittel der Deutschen sehen dringenden gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf, noch mehr jedoch sind der Meinung, dass die Agenda 2010 bisher nichts gebracht hat. Das heißt, sie wollen andere Reformen als diese, sie wollen Alternativen. SPD und Grüne sind an die Regierung gelangt, weil sie Reformen für mehr soziale Gerechtigkeit in Aussicht stellten. Vor allem seit Beginn ihrer zweiten Regierungsperiode haben sie den Begriff der Reformen umgedeutet, Reform soll nun nicht mehr sein, mehr Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit herzustellen, Reform soll nun die Verwertungsbedingungen für Kapital verbessern, den Anteil der Sozialleistungen an den öffentlichen Haushalten verringern und dadurch zu Wirtschaftsentwicklung beitragen. Das folgt der zentralen Botschaft des neoliberalen Zeitgeistes. Fast alle konkreten politischen Projekte, die die Regierung auf den Weg oder auch nur in die öffentliche Debatte gebracht hat, stoßen auf mehrheitliche Ablehnung in der Bevölkerung. Das gilt für die Praxisgebühren und überhaupt für die Gesundheitspolitik, das gilt für die Herabsetzung der Anspruchsfristen für Arbeitslose und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, das gilt für die Rentenpolitik sowie für Subventions- und Steuerpolitik, insbesondere für die immer wieder reflektierte Erhöhung der Mehrwertsteuer. Auslandseinsätze der Bundeswehr, die unter dieser Regierung möglich und politische Praxis geworden sind, werden gleichfalls mehrheitlich abgelehnt. Aufwind hat aber ausgerechnet die konservative Fraktion der politischen Eliten in Deutschland, deren Kritik an der Regierung vor allem darin besteht, diese würde die notwendigen Reformen nicht konsequent genug betreiben. Die Hegemonie der neoliberalen Ideologie ist ungebrochen.

Was sind das für Gegebenheiten und Vorgänge, in denen die Reproduktion neoliberaler Hegemonie erfolgt?

In der Meinungsbildung der Bevölkerung wirken relativ stabile Faktoren, und es wirken variable Faktoren. Zu den relativ stabilen Faktoren gehören Werte, Wertestrukturen und dabei gesetzte Prioritäten sowie Gesellschafts- und Menschenbilder. Sie verändern sich in "normalen" Zeiten nur relativ allmählich. Zu den variablen Faktoren gehören Problemwahrnehmungen und -bewertungen, Deutungsmuster für relevante Ereignisse und Prozesse und gesellschaftspolitische Strategien für Problemlösungen und Zukunftsgestaltung.

Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die Werte der bürgerlichen Revolution, dominieren in unserer Gesellschaft unangefochten, sie werden in allen sozialen Gruppen und soziokulturellen Milieus mehrheitlich geteilt. Weitere Werte, denen viele Menschen eine große Bedeutung zumessen sind: Macht und Ordnung, Solidarität und soziale Gerechtigkeit, Fleiß und Ordnung sowie Kreativität und Selbstverwirklichung. Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede, welche Strukturen sich dabei formieren und wie die Prioritäten gesetzt werden. Danach lassen sich in der Gesellschaft vier Typen von Wertestrukturen unterscheiden, die jeweils mit spezifischen politischen Orientierungen verbunden sind.

  • Der erste Typ setzt die Prioritäten einerseits bei Macht und Ordnung und andererseits bei Kreativität und Selbstverwirklichung, politisch dominiert eine konservative Orientierung; das sind die Werteprioritäten der eigentlichen Trägergruppe neoliberaler Politik.
  • Der zweite Typ setzt die Prioritäten gleichfalls bei Macht und Ordnung und daneben bei Fleiß und Wohlstand, er hat politisch eine Mitte-Rechts-Orientierung und wandert zwischen rechten und sozialdemokratischen Politikangeboten.
  • Der dritte Typ favorisiert Soldarität und soziale Gerechtigkeit und daneben Fleiß und Wohlstand, es handelt sich um eine traditionell soziale Orientierung, politisch sozialdemokratisch oder links davon orientiert.
  • Nur der vierte Typ, der die Prioritäten bei Kreativität und Selbstverwirklichung sowie Solidarität und Gerechtigkeit setzt und sich politisch links orientiert, ist ein klares Gegenpotenzial zu neoliberaler Politik, allerdings ein relativ kleines.

Die eindeutigen Unterstützer und die eindeutigen Gegner neoliberaler Politik sind Minderheiten. Die Latenzen in den beiden mittleren Gruppen, die insgesamt klar die Mehrheit bilden, kommen vor allem dadurch zustande, dass bei ihnen eine Orientierung auf Wirtschaft und eine Orientierung auf soziale Sicherheit jeweils stark und zugleich wechselnd sind, das macht sie für neoliberale Botschaften gelegentlich und zeitweise empfänglich (vor allem, wenn sie Anlass zu Zukunftsangst haben), aber auch für andere.

Weiterhin ist von Bedeutung, dass bei dem anderen, eigentlich relativ stabilen Faktor des gesellschaftlichen Meinungsbildes, den Gesellschafts- und Menschenbildern, der neoliberalen Ideologie ein Einbruch gelungen ist. Langfristig in entsprechenden Denkfabriken vorbereitet, ist es ihren Protagonisten gelungen, ein antisolidarisches Gesellschaftsbild und ein egoistisches Menschenbild zu implementieren und wirksam zu verbreiten. Gezeichnet wird eine Gesellschaft, die geprägt wird durch den erbarmungslosen Ellenbogenkampf um den größtmöglichen privaten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Diese Gesellschaft gehört den Reichen, Mächtigen und Schönen. Der dazu passfähige Mensch hat egoistisch zu sein, als Erfolg gilt, möglichst viel in die eigene Tasche zu wirtschaften und das möglichst ungehindert. Das legitimatorische Gegenbild ist das vom faulen Menschen, der in der sozialen Hängematte lümmelt. Diese Bilder konnten sehr wirkungsvoll am Egoismus der Wohlstandsmentalität anknüpfen. An alternativen Gesellschafts- und Menschenbildern, vor allem an solchen, die eine solidarische Gesellschaft zeichnen und auf die Verbindung von individueller Freiheit und sozial gerechter Gesellschaft setzen, gibt es derzeit inhaltliche und kommunikative Defizite, sie sind unkonkret und nicht glaubhaft als realisierbar zu vermitteln.

Wie die Aktienkurse stehen, ist nur für eine Minderheit der Deutschen wirklich von Bedeutung. Trotzdem stehen die entsprechenden Botschaften täglich auf den Titelseiten der großen Boulevard-Zeitungen. Über die Entwicklung an den Börsen wird in allen Nachrichten- und Magazinsendungen des öffentlich-rechtlichen und des privaten Fernsehens informiert. Der Kern ist, es handelt sich nicht um Nachrichten, hier wird ein neoliberales Deutungsmuster verpackt und in einem ideologischen Trommelfeuer verbreitet. Seine Botschaft ist: "Wenn die Wirtschaft boomt (gemeint sind die privaten kapitalistischen Unternehmen), geht es der Gesellschaft gut!".

Die neoliberale ideologische Offensive (mit ihren Menschen- und Gesellschaftsbildern, Deutungsmustern usw.) hat Wirkungen erreicht, aber sie hat auch Grenzen. In der Wahrnehmung und Bewertung der drängenden gesellschaftlichen Probleme gibt es kaum Unterschiede. In der Gesellschaft existiert insgesamt eine sehr komplexe Problemstruktur, das spiegelt sich auch im Alltagsbewusstsein wider. In der Problemwahrnehmung aller Gruppen und Milieus haben globale Probleme (Frieden), existenzielle Probleme (Arbeitsplätze, Gesundheit), wirtschaftliche, ökologische und soziale Probleme besonderes Gewicht. Diese Gruppen von Problemen erhalten Priorität. Eine Besonderheit des Ostens ist, dass soziale Probleme intensiver reflektiert werden, sie rangieren vor den wirtschaftlichen Problemen. Politische Probleme und Probleme des Zusammenlebens der Menschen werden auch von vielen als Probleme in der Gesellschaft benannt, aber weniger oft als die oben aufgeführten.

Die Unterschiede liegen darin, welche Konzepte zur Problemlösung und zur Zukunftsgestaltung verbreitet werden und Akzeptanz finden. Formal gibt es im Prinzip nur zwei Ansätze für solche Konzepte. In dem einen Ansatz haben die sozialen Probleme Priorität vor den wirtschaftlichen Problemen, das ist der traditionelle sozialpolitische Reformansatz. Dieser Ansatz wird gegenwärtig im politischen Raum kaum von jemandem vertreten, er ist als unrealistisch verschrien und ist es wohl auch, er würde allerdings bei einer qualifizierten Minderheit in der Bevölkerung Akzeptanz finden. Der andere Ansatz setzt die Priorität bei den wirtschaftlichen Problemen und rangiert die sozialen Probleme danach, das ist gegenwärtig der marktradikale Ansatz. Dieser Ansatz ist heute in Deutschland nahezu konkurrenzlos, ihm folgen alle Parteien des politischen Mainstreams, das "Kartell der sozialen Kälte". Mit Unterschieden im Detail gehen sie gleichermaßen daran, die Defizite im Staatshaushalt und in den sozialen Sicherungssystemen durch Kürzungen und Einsparungen im sozialen Bereich zu beseitigen oder zu verringern. In der Bevölkerung findet dieser Ansatz gegenwärtig auch die relativ größte Zustimmung, ohne Mehrheitsposition zu sein. Es ist jedoch auch noch ein dritter gestaltungspolitische Ansatz vorstellbar. Der geht davon aus, dass keine der politischen Parteien des politischen Mainstreams gegenwärtig über geeignete Gestaltungsstrategien verfügt (das ist ohnehin Mehrheitsmeinung). Erforderlich ist ein neuer gestaltungspolitischer Diskurs (nicht nur in Deutschland, aber im Rahmen der Europäischen Union, des Weltsozialforums, im Europäischen Sozialforum auch in Deutschland). Diesen Diskurs sollten die sozialen Bewegungen, Verbände und die Gewerkschaften wesentlich mit tragen, vor allem müssten die Bürgerinnen und Bürger an ihm relevant mitwirken können. Dieser Diskurs müsste die gegenwärtige Triade von kapitalistischer Globalisierung, neuen imperialen Kriegen und neoliberaler Ideologie kritisch reflektieren und er müsste thematisieren, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen der Grundsatz umgesetzt werden kann, dass die Wirtschaft für die Gesellschaft da ist und nicht umgekehrt. Auch ein solcher Ansatz könnte erhebliche Akzeptanz finden.

Zentrum: Eigentum und Herrschaft
Was ergibt sich daraus insgesamt, in welcher Welt leben wir also?

  1. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft mit einer sich rasch entwickelnden neuen Regulationsweise. Diese Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft, allerdings ist dabei zu beachten, entsprechend der veränderten Produktions- und Regulationsweise funktioniert auch die Klassenformierung auf neue Weise. Und es ist ein globalisierter Kapitalismus mit einer ungeheuren Konzentration von kapitalistischem Eigentum.
  2. Wir haben es damit zu tun, dass politische Macht als politische Herrschaft ausgeübt wird, die politischen Strukturen sind so gestaltet, dass sie Durchsetzungsfähigkeit und Machterhalt möglichst gewährleisten. Es gibt eine immer stärker werdende Tendenz, die politische Herrschaft als imperiale Herrschaft durchzusetzen.
  3. Die Vorherrschaft des neoliberalen Zeitgeistes ist nicht nur ein Produkt des Kartells der Meinungsmacher. Im geistigen Leben dieser Gesellschaft gibt es Konstellationen von Werten und Einstellungen, die diesem Zeitgeist gegenwärtig erhebliche Wirkungen ermöglichen, zumal wirkliche, konkret ausgearbeitete Gegenkonzepte gegenwärtig fehlen.

Kapitalistisches Eigentum in seiner gegenwärtigen Gestalt als globalisierter Kapitalismus und imperiale politische Herrschaft bilden der Kern der gegenwärtigen Weltordnung. Der neoliberale Zeitgeist vermittelt als Legitimationsbeschaffer die Erhaltung und Reproduktion dieser Ordnung.

Bei der Dominanz neoliberaler Wirtschaftspolitik muss es aber nicht bleiben. Jörg Roesler hat die Krise der New Economy mit früheren Krisen nach technologischen Entwicklungsschüben verglichen und ist zu dem Schluss gekommen, dass auch diesmal wie in vergleichbaren Krisenperioden, ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik die Konsequenz sein kann. 7

Im Raum steht die Frage: Was tun?

  1. Zunächst müssen die Linken selbst wieder daran glauben, dass Alternativen möglich sind. Der Weg in die soziale Kälte ist nicht der einzig mögliche.
  2. Es gibt einen dringenden Analyse- und Diskussionsbedarf, den gibt es international und er muss auch international bearbeitet werden.
  3. Kapital und politische Herrschaft sind Bastionen, der Ansatzpunkt könnte bei den Vermittlungen liegen. Dem neoliberalen Zeitgeist muss und kann ein anderes Gesellschafts- und Menschenbild entgegen gesetzt werden: eine sozial gerechte Gesellschaft und solidarische Menschen.
  4. Gebraucht werden "konkrete Utopien", und deshalb ende ich auch mit einem Zitat von Ernst Bloch: "Wie in der menschlichen Seele Noch-Nicht-Bewußtes dämmert, das noch nie bewußt war, so in der Welt Noch-Nicht-Gewordenes: an der Spitze des Weltprozesses und Weltganzen ist diese Front und die ungeheure, noch so wenig begriffene Kategorie Novum. Deren Inhalte sind nicht bloß die unerschienenen, sondern die unentschiedenen, sie dämmern in bloßer realer Möglichkeit, haben die Gefahr des möglichen Unheils in sich, aber auch die Hoffnung des möglichen, noch immer nicht vereitelten, durch Menschen entscheidbaren Glücks." 8

Dietmar Wittich - Jg. 1943, Dr. phil., Soziologe, Mitglied der Redaktion UTOPIE kreativ. Zuletzt in der Zeitschrift: Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, Heft 160 (Februar 2004).

Für eine politisch-strategische Debatte in der PDS und mit anderen Linken hat eine Gruppe von Beraterinnen und Beratern des Parteivorsitzenden der PDS ein Material erarbeitet "PDS: sozial - solidarisch - friedlich - selbstbestimmt. Thesen zur Strategie der PDS". Dieser Beitrag ist in diesem Arbeits- und Diskussionsprozess entstanden.

1 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Dietz Verlag Berlin 1953, S. 75-76. "Betrachten wir die bürgerliche Gesellschaft im großen und ganzen, so erscheint immer als letztes Resultat des gesellschaftlichen Produktionsprozesses die Gesellschaft selbst, d. h. der Mensch selbst in seinen gesellschaftlichen Beziehungen. Â… Die Bedingungen und Vergegenständlichungen des Prozesses sind selbst gleichmäßig Momente desselben, und als die Subjekte desselben erscheinen nur die Individuen, aber die Individuen in Beziehungen aufeinander, die sie ebenso reproduzieren, wie neuproduzieren. Ihr eigner beständiger Bewegungsprozeß, in dem sie sich ebensosehr erneuern, als die Welt des Reichtums, die sie schaffen." Ebenda, S. 600.

2 Karl Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie, in: MEW, Berlin 1958, Bd. 3, S. 28.

3 "In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile." Pierrre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1982, S. 277-278.

4 Hans Jürgen Krysmanski: Wer führt die neuen Kriege? In: UTOPIE kreativ, Heft 152 (Juni 2003), S. 519.

5 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 28.

6 Ebenda, S. 29.

7 Jörg Roesler: Die New Economy - ein Wiederholungsfall? In: UTOPIE kreativ, Heft 161 (März 2004), S. 225.

8 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Zitiert nach: Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien, Leipzig 1985, S. 190.

in: UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 689-700

aus dem Inhalt:

VorSatz, Essay GERHARD WAGNER: "Ich weiß, daß wir diesmal gewinnen". Hollywood, Casablanca und die Befreiung von Paris, Gesellschaft - Analyse & Alternativen MARIO CANDEIAS: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, WOLFGANG WEISS Tragfähigkeit - ein Begriff der Regional-Demographie mit politischen Implikationen, Utopie & Wirklichkeit RICHARD SAAGE Wie zukunftsfähig ist der klassische Utopiebegriff?, JAN VOGELER, HEINRICH FINK Heinrich Vogeler und die Utopie vom neuen Menschen, Reine Lehren MICHAEL BRIE Welcher Marxismus und welche Politik? Uwe-Jens Heuers Buch "Marxismus und Politik" kritisch gelesen, WOLFRAM ADOLPHI Wohlfeile Keule und geistige Selbstverstümmelung. Zwei neue Bücher mit "linkem" Antiamerikanismus-Vorwurf , MAX BRYM Die serbischen Cetniks einst und jetzt, B>Wieder gelesen Wandlung und Wahrhaftigkeit. Franz Fühmann zum 20. Todestag, PDS - strategische Debatte DIETMAR WITTICH In welcher Gesellschaft leben wir?, THOMAS FALKNER Herausforderungen für sozialistische Politik, ELKE BREITENBACH, KATINA SCHUBERT Opposition und Regierung - Partei und Bewegung - Widersprüche? berlegungen zur PDS-Strategiedebatte, FRIEDRICH W. SIXEL Die PDS und die Krise der heutigen Gesellschaft, StandorteULI SCHÖLER Der unbekannte Paul Levi?, Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau, Bücher & Zeitschriften Wolfgang Ruge: Berlin - Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration (HELMUT BOCK), Albert Scharenberg, Oliver Schmitke (Hrsg.): Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen (FRIEDHELM WOLSKI-PRENGER), Massimiliano Andretta, Donatella della Porta, Lorenzo Mosca, Herbert Reiter: No Global - New Global. Identität und Strategien der Antiglobalisierungsbewegung (ARNDT HOPFMANN), Tanja Busse, Tobias Dürr (Hg.): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, (ULRICH BUSCH), Volker Perthes: Geheime Gärten. Die neue arabische Welt (HENNER FÜRTIG), B>Summaries