Die Opposition im virtuellen Niemandsland

Venezuela nach dem Referendum

Die Situation in Venezuela ist nicht nur politisch brisant, sie gibt auch medientheoretisch Einiges her. In dem südamerikanischen Land scheint Baudrillards Satz von den Bildern, die nur noch auf sich selbst verweisen, Wirklichkeit geworden zu sein. Die Berichterstattung der privaten Medien hat sich losgelöst von der Realität, wie sie die Bevölkerungsmehrheit erlebt und wie sie auf der Straße zu beobachten ist. Anders als bei Baudrillard sind der Virtualität jedoch enge Grenzen gesetzt. Immerhin sind die Wohlstandsenklaven, in denen die venezolanischen Eliten leben und die in mancher Hinsicht an Disneyland erinnern, ökonomisch ja weiterhin von jener dunkelhäutigen, irgendwie schmutzigen Gesellschaft abhängig, zu der man eigentlich nicht dazu gehören möchte. Die völlige Selbstreferenzialität medialer Bilderwelten wird auf Dauer zum Problem, denn deren Produktion findet in einer ganz realen Gesellschaft mit handfesten sozialen Konflikten statt. Tatsächlich erinnert die Berichterstattung der venezolanischen Medien auch vier Wochen nach dem gescheiterten Referendum gegen Präsident Chávez am 15. August immer noch an eine absurde Fassung von "Matrix". Weil die Wahlen mit 59,25% Zustimmung für den Präsidenten aus Sicht der bürgerlichen Opposition katastrophal ausgegangen sind, verweigert diese schlichtweg die Wahrnehmung der Realität. Das Ergebnis wird als gefälscht bezeichnet; die automatischen Wahlmaschinen, die erstmals eingesetzt wurden, um Manipulationen bei Stimmabgabe und Auszählung zu verhindern, seien, so die Oppositionsführer, manipuliert worden. Da es neben dem elektronischen Zählverfahren auch einen Kontrollmechanismus mit Stimmzetteln gab, die die Wähler ausgedruckt bekamen und in die Wahlurnen werfen mussten, behaupten die Bürgerlichen ergänzend, Tausende von Urnen seien ausgetauscht worden. Und weil dies wiederum von den Wahlbeobachtern der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des Carter Centers, die der Regierung Chávez bis dato nicht gerade wohlgesonnenen gegenüberstanden, für unmöglich gehalten wird, wirft die Opposition den beiden internationalen Einrichtungen vor, mit dem Präsidenten unter einer Decke zu stecken.

Von Manipulation kann keine Rede sein

Diese eigenwillige Argumentationskette stützt sich auf eine einzige Grundlage: die Meinungsumfragen der oppositionellen Initiative Súmate. Das aus den USA finanzierte Kampagnenbüro zählte am 15. August eine Ablehnung von 59 Prozent der Bevölkerung gegen den Präsidenten. Wenn das Wahlergebnis nun genau anders herum aussehe, so die Opposition, könne es sich nur um einen Betrug handeln. Was für eine Logik: Die Wirklichkeit - das sind die Fernsehberichte, Meinungsumfragen und Zeitungsartikel. Alles, was davon abweicht, ist "Manipulation" oder gar - wie ein oppositionsnaher Leitartikel in der spanischen Tageszeitung ABC im August verlautbarte - "virtuelle Realität". Absurder geht es kaum. Die wichtigste Erkenntnis nach dem Referendum dürfte damit darin bestehen, dass Venezuela in den vergangenen Jahren keineswegs, wie in den Medien stereotyp verbreitet wird, in erster Linie von Präsident Chávez polarisiert worden ist. Der soziale Bruch der venezolanischen Gesellschaft reicht mindestens zwei Jahrzehnte weiter zurück, und auch für die politische Eskalation ist die Opposition ungleich stärker verantwortlich als der häufig demagogisch auftretende Präsident. Seit 1999 verteufeln die Bürgerlichen eine von fast 90 Prozent der WählerInnen bestätigte Verfassungsreform, die immerhin die Mitbestimmungsmöglichkeiten stark erweitert hat, als "undemokratisch". 2001 riefen sie zum Generalstreik gegen eine Landreform auf, die brachliegenden Großgrundbesitz in die Hände von Kleinbauern überführen soll. Wenige Monate später inszenierte sie einen Putschversuch, nachdem die Umstrukturierung des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA angekündigt worden war. Als dieser scheiterte, versuchte sie zur Jahreswende 2002/2003 mit Sabotageakten und Aussperrungen den Zusammenbruch der Regierung herbeizuführen. Der innenpolitische Konflikt in Venezuela hat eine sehr schlichte Ursache: Eine ökonomisch privilegierte Minderheit will nicht zulassen, dass eine in jeder Hinsicht demokratisch legitimierte Regierung an der Macht- und Reichtumsverteilung im Land rüttelt. Dass Präsident Chávez das Referendum so deutlich gewinnen konnte, hatte vor allem mit den Misiones, den Sozialprogrammen der Regierung, zu tun. Die Erfolge der Kampagnen sind bemerkenswert. Innerhalb weniger Monate sind Hunderte von Gesundheitsposten, Schulen und Mercal-Läden (zur Verteilung subventionierter Grundprodukte) neu entstanden. Überall im Land trifft man auf Klassen von Erwachsenen, die im Rahmen der Misiones Robinson und Ribas Lesen und Schreiben lernen oder den Schulabschluss nachholen. Mehr als 10.000 kubanische ÄrztInnen sind mit dem Programm Barrio Adentro in die Armenviertel gegangen und gewährleisten dort die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung. Das Hervorhebenswerteste an diesen Programmen ist, dass die Misiones nicht einfach als paternalistische Sozialmaßnahmen des Staates daherkommen. In vielen Stadtteilen und Dörfern ergänzen sich Selbstorganisierungsbemühungen und Unterstützung durch die Regierung auf ziemlich produktive Weise. Dass die Misiones wesentlich von Nachbarschaftsorganisationen getragen werden, dürfte mit zwei Ursachen zu tun haben: zum einen mit der Unfähigkeit der Staatsbürokratie und dem Fehlen einer klassischen linken Avantgardepartei, die den sozialen Bewegungen einen enormen Raum verschaffen. So ist das venezolanische Transformationsprojekt bislang im besten Sinne von Improvisation geprägt. Zum anderen ist für die Rolle der Basisorganisationen aber durchaus auch ein politisches Konzept verantwortlich. Die "bolivarianische Verfassung" von 1999 sieht den Übergang von einer repräsentativen zu einer "partizipatorischen, protagonistischen Demokratie" vor. Tatsächlich werden Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung auf allen Ebenen gefördert. Diese Idee - also das Konzept, politische Repräsentation durch Formen der Selbstregierung zu ersetzen - unterscheidet die Entwicklung in Venezuela auch grundlegend von den Prozessen in Nicaragua, El Salvador oder Kuba, wo in der Vergangenheit zwar auch viel von poder popular (Volksmacht) die Rede war, diese Macht aber wesentlich von linken Parteien und ihren sozialen Unterabteilungen ausgeübt wurde. Eher als am sandinistischen Nicaragua oder am staatssozialistischen Kuba orientiert sich das venezolanische Projekt, zumindest bislang, an Bewegungserfahrungen. Die neu gegründeten Consejos de Planificación Local (Lokale Planungsräte) etwa haben die Bürgermitverwaltung der Kommunalhaushalte im südbrasilianischem Rio Grande do Sul zum Vorbild. Und die nach wie vor überaus dynamische Stadtteilbewegung Venezuelas ähnelt in ihrer horizontalen Struktur viel eher der brasilianischen Landlosen-Bewegung als den nicaraguanischen oder kubanischen Komitees zur Verteidigung der Revolution.

Basisbewegungen tragen die Sozialprogramme

Ganz materiell sichtbar wird diese Entwicklung in La Vega, einem im Südwesten von Caracas gelegenen Barrio mit etwa 150.000 Einwohnern. Allein im oberen Teil des Viertels hat die Regierung im Jahr 2004 sechs Gesundheitsposten und drei Lebensmittelläden errichtet. Dass man sich hier besonders stark engagierte, wird damit erklärt, dass La Vega als besonders organisierter Stadtteil gilt. Vernünftigerweise geht man nämlich davon aus, dass die Misiones nur dort Erfolg haben können, wo Nachbarschaftsversammlungen die Bildung von Schulklassen und Kooperativen, die Einrichtung von Armenküchen oder das Funktionieren der Gesundheitsposten gewährleisten. In La Vega haben sich um jeden Gesundheitsposten herum Freiwilligengruppen von 10 bis 20 Personen gegründet, die die kubanischen ÄrztInnen bei ihrer Arbeit unterstützen. Auf diese Weise hat sich das Nachbarschaftsnetzwerk von La Vega, dessen AktivistInnen sich selbst als "Ungehorsame" bezeichnen, in den vergangenen zwei Jahren dank der Rückendeckung durch die staatlichen Programme zu einem dichten Geflecht entwickeln können: Freiwilligenzirkel der Alphabetisierungs- und Bildungskampagnen, Kleinkooperativen zur Hinterhoflandwirtschaft, Komitees für die Legalisierung städtischer Landbesetzungen, lokale Planungsräte, Armenküchen und so genannte soziokulturelle Netzwerke. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Präsident Chávez, der - was das wichtigste Argument gegen den Vorwurf des Populismus sein dürfte - die Bevölkerung immer wieder zur Selbstorganisierung aufruft, selbst die Kampagne zum Referendum in die Hände solcher Netzwerke gelegt hat. Ausdrücklich rief er die Bevölkerung im Sommer 2004 dazu auf, nicht auf die politischen Parteien zu warten, sondern sich selbstständig als Initiativen für das Nein zu konstituieren. So waren nach Schätzungen der Nachbarschaftsorganisationen allein im Barrio La Vega diesen Sommer 7.000 Menschen in irgendeiner Form organisiert - ohne Bevormundung durch politische Apparate oder Regierungsfunktionäre. Genau dieser euphorisch stimmende Trend zur Basisorganisierung weist jedoch auch auf mögliche Bruchlinien innerhalb der "bolivarianischen Revolution" hin. Bislang ist das venezolanische Projekt eine bunte Mischung aus Denkansätzen. Was Bildungswesen und Antiimperialismus angeht, orientiert man sich an Kuba. Hinsichtlich der kommunalen Selbstverwaltung blickt man nach Brasilien, bei der Kritik des Neoliberalismus zitiert man gern die linkskeynesianischen Redakteure von Le Monde Diplomatique. Symbolik und Diskurs der "Revolution" schließlich schöpfen gleichermaßen aus dem christlichen Messianismus, der Tradition der Guerillagruppen der 1960er und 1970er Jahre sowie den von der französischen Revolution beeinflussten Protagonisten der antikolonialen Befreiungskriege des frühen 19. Jahrhunderts. Von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet muss ein solches Projekt eigentlich eher mittel- als langfristig an seiner Heterogenität zerbrechen. Doch glücklicherweise haben gesellschaftliche Veränderungen mit Theorie in der Regel wenig zu tun. Unmittelbar vor dem Referendum äußerte Gonzálo Gómez, einer der linken Wortführer und Medienaktivist beim Nachrichtenportal www.aporrea.org, die Ansicht, es werde nach dem Referendum zu einer Klärung des politischen Projekts kommen. Gómez unterschied dabei ganz klassisch zwischen denen, die gewisse Reformen, und jenen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft anstreben. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich die Angelegenheit als weitaus komplizierter. Immerhin scheiden sich die Geister nicht nur an der Frage, ob man neben Reformen für Verteilungsgerechtigkeit auch eine Umgestaltung von Arbeit und Wirtschaft anstrebt, sondern auch daran, welche Rolle Basisorganisationen respektive politischen Repräsentationen dabei zukommt. Bisher gibt es keine eindeutigen politischen Lager, in denen sich die AnhängerInnen der jeweiligen Optionen sammeln könnten. Mit den Parteien und vielen Politikern um Chávez ist auch das Gros der Chávez-WählerInnen unzufrieden. Man weiß zu gut, wie schnell sich politische Eliten verselbstständigen, wenn sie nicht permanenter sozialer Kontrolle und Mitbestimmung unterworfen sind. Auch für viele Führer der Regierungsparteien dürfte diese Art der demokratischen Aneignung von unten unangenehm werden. Dementsprechend groß ist das Konfliktpotenzial. Paradoxerweise ist der Erfolg der Demokratisierungsbewegung wesentlich von einer Person abhängig: Chávez. An sich müsste er, der in der Bewegung die unangefochtene Rolle des Heroen einnimmt, einer solchen Entwicklung ebenfalls mit geteilten Gefühlen gegenüber stehen. Doch andererseits hat er sich seit dem Putschversuch im April 2002 - wohl auch aus Ernüchterung über die ihn stützende Parteienkoalition - immer deutlicher für die Stärkung der Bewegungen ausgesprochen. Venezuela bleibt für Überraschungen gut. Hoffentlich auch weiterhin für erfreuliche. Raul Zelik aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 487 / 17.09.2004