Herrschaft ohne Hegemonie

Im Osten macht sich das Gefühl breit, in der dritten Diktatur in Folge zu leben - auch wenn die äußeren Insignien für eine repräsentative Demokratiesprechen...

Die erste Diktatur war noch bejubelt worden und hatte von außen beseitigt werden müssen, die zweite war zumeist nur ertragen und, als die Besatzungsmacht ihr Desinteresse nicht mehr länger verheimlicht hatte, von innen gestürzt worden, der "gefühlten" dritten begegnet man schon zu Zeiten ihrer Existenz mit immer offenerem Hohn.
Nach den Wahlen von 1946, als der simulierte Protest gegen die Oder-Neiße-Linie die SED zur führenden Kraft hatte werden lassen, war im Osten eine eigenartige Situation entstanden, die sich als Jahrzehnte andauernder Ausfall eines jeglichen inneren Hegemons beschreiben läßt: Danach errang die SED nie wieder die Zustimmung einer Mehrheit, wenngleich sie in bestimmten Phasen durchaus darum nachsuchte, doch auch dann bestenfalls die Zustimmung einer Minorität und bei der Mehrheit nur Duldung fand. Zu sehr setzte ihre Führung auf die Gewalt der (sowjetischen) Gewehrläufe und oft auch auf Herrschaft pur; ihr war entgangen, daß Herrschaft auf Dauer nur durch Hegemonie und nicht allein durch Sozialpolitik abzusichern ist. Da diese Herrschaft jegliche Konkurrenz ausschaltete, wiederholte sich in Deutschland quasi italienische Geschichte: Der - trotz unübersehbarer Privilegien für Nazis und ihre Nutznießer - freundlich zurechtrestaurierte Westen wurde für den Osten zu dem, was im 19. Jahrhundert das bürgerliche Sardinien-Piemont während der Einigungsbewegung für die anderen italienischen Gebiete gewesen war: Die geistige, kulturelle und später auch die politische Hegemonie wurde von dort ausgeübt.
Dieser Zustand hatte in Deutschland 1947 begonnen. Und: Er dauerte bis zum Jahre 2003 an. In dieser langen Zeit übte der Westen als "Gesamtkunstwerk " im Osten die Hegemonie aus; Anfang der neunziger Jahre erreichte sie ihren Höhe- und damit Kippunkt.
Da die Eliten des Westens die vom Osten 1990 erbetene Vereinigung ausschlugen und statt dessen zu einem Anschluß schritten, sahen sich die Ostdeutschen bald von entscheidender Mitwirkung ausgeschlossen. Das war ihnen nicht neu: Bei den Nazis hatten sie nichts zu sagen gehabt (was so verkürzt natürlich nicht stimmt, aber als postume Entlastungslüge bis heute gepflegt wird); unter den "Russen und ihren SED-Knechten " hatten sie erst recht nichts zu melden gehabt (was so natürlich auch nicht stimmt, aber - da biographisch deutlich näher - als postume Entlastungslüge noch viel liebevoller gehegt wird); unter den Wessis wurde ihnen trotz freier Wahlen erst recht keine Chance gelassen. Die Strategie war ihnen bekannt, und so wußten sie, sich auch hier dreinzufinden: Solange es gut - und heißt natürlich vor allem ihnen und ihren Lieben gut - geht, werden sie die liebsten Untertanen sein; geht es daneben, dann haben sie nichts damit zu tun gehabt - so wie 1945 und 1989.
Das Problem ist: Dieses Mal stimmt es. Alles wurde vom Westen übergestülpt; wer sich wehrte, wurde mit seiner Stasi-Akte erschlagen. So moralisch rein und so frei von jeder Verantwortung, von schlechtem Gewissen gar nicht zu reden, wie sich die Ostdeutschen für das seit 1990 Geschehene fühlen können, ist es in der Geschichte selten einer Menschengruppe ergangen.
Blühende Landschaften waren den einst in ihrer Mehrheit zu jeder Abschwörung bereiten DDR-Bürgern versprochen worden; das einzige, was jedoch dauerhaft blühte, war die Verschiebung des Eigentums von Ost nach West. Nach den gebrochenen Wahlversprechen der einen wie der anderen wurde nun massenhaft und lagerübergreifend die Gefolgschaft aufgekündigt. Daß künftig nun selbst auf die Pazifizierungsbeschwörung von den gleichen Lebensverhältnissen verzichtet wird und das bundespräsidiale Programm Mezzogiorno signalisiert, erhöht die ostische "Undankbarkeit" noch.
Der Westen, dessen herrschende Klassen seit der Wende den Wert der ihnen dank der Amerikaner gegenüber dem Osten zugefallenen Hegemonie vergessen haben, steht jetzt schlechter da als die SED nach den Oktober-Wahlen von 1946: Damals ging es um einen Betrug, der schon nach wenigen Wochen offenbar wurde, jetzt geht es um eine fünfeinhalb Jahrzehnte andauernde Zuneigung, die in einem Zuge dem Dementi verfällt. Der Osten ist wirklich (und irreversibel) auf sich zurückgeworfen, und der Westen in seiner Usurpationswut sieht sich der Erfahrung ausgesetzt, wie sich Herrschaft ohne Hegemonie anfühlt. (Hinzu kommt: Auch innerhalb der Gesellschaft Westdeutschlands stehen die herrschenden Klassen mit ihrer einst von den USA geliehenen Hegemonie kaum besser da.) Entsprechend hysterisch sind die Reaktionen.
Der Osten befindet sich am Anfang einer neuen Periode. Die Zustimmung zur repräsentativen Demokratie und zur Marktwirtschaft, also zum "Westen", ist rapide zurückgegangen. Es wird ein neuer Hegemon gesucht. Die Anschlußparteien des Jahres 1990 haben sich trotz anfänglich hohen Kredits bei der Mehrheit lächerlich gemacht. Die Anschlußverweigerer von damals vermögen kaum mehr zu bieten; viele ihrer Protagonisten mit einer bis heute unreflektierten Diktatur- und nicht selten auch Funktionärs-Sozialisation sind kulturell wie intellektuell -oftmals rettungslos - überfordert. Da zudem fast alle, die flüssig zu schreiben, zu lesen und zu rechnen vermögen, sich gezwungen sehen, in den Westen abzuwandern - dort zwar minderwertiges ostisches Volk bleiben, aber immerhin ihren Kindern eine Zukunft bieten können -, gehört der Rechten im Osten die Zukunft. Bisher war dieser Teil Deutschlands aus ökonomischen Gründen ein Auswanderungsgebiet; möglicherweise wird er es bald auch aus politischen Motiven sein.
Die eigentlichen Verlierer sitzen jedoch im Westen, vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - außerhalb der herrschenden Klassen. Das unmündige Ostvolk hatte am 9. November 1989 die Mauer durchstoßen, um endlich am Goldenen Zeitalter der westdeutschen Kriegsgewinnergesellschaft teilhaftig zu werden; doch die zynische List der Geschichte spielte ihm einen Streich: Sie beendete just im Moment der östlichen Freiheit die Zukunft des westlichen Volkswohlstandes - denn die Unfreiheit der einen war die Bedingung für die Wohlfahrt der anderen gewesen.

in: Des Blättchens 7. Jahrgang (VII) Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

aus dem Inhalt:

Jörn Schütrumpf: Herrschaft ohne Hegemonie; Martin Schirdewan: Übrigens: Wir brauchen keine Regierung; Martin Nicklaus: Ent-Täuschungen; Jürgen Schaepe: Glück und Landnahme; Klaus Hansen: Der Untergang. Aufsatz eines Jungmädels; Klaus Hart, Rio de Janeiro: Lob und Hudel für einen Diktator; Uri Avnery, Tel Aviv: Eine Nation? Was für eine Nation?; Gerd Kaiser, z. Z. Warschau: Aufenthalt; Wladimir Wolynski, z. Z. Minsk: Um die Wurst; M. R. Richter, Kiew: Das Ende einer Ära?; Jan Bonin: Theater museal; Hermann-Peter Eberlein: La Mettrie; Erhard Weinholz: Berliner Nahverkehr