Neoliberaler Systemwechsel

Der abtretende BDI-Präsident Michael Rogowski eroberte mit einer Kriegserklärung an den Sozialstaat kurzzeitig die Schlagzeilen:

"Unternehmen sollen Arbeit schaffen, während die Beschäftigten die soziale Sicherung und das Gesundheitssystem selbst finanzieren. Die primäre Verantwortung liegt nun einmal nicht in der Sozialfürsorge." (Zeit vom 16.9.2004) Diese so genannte Kriegerklärung an den Sozialstaat hat den Charme, dass sie in dem Augenblick erfolgt, wo entscheidende Pfeiler dieses Sozialstaates längst ausgehöhlt worden sind.

Mit Blick auf das Wirtschaftswachstum und die Vergrößerung des Wohlstands sind wir seit Jahren mit einem großen gesellschaftlichen Paradoxon konfrontiert: "In Deutschland wird seit gut zwanzig Jahren auf neoliberale Weise reformiert. Ohne nachhaltigen Erfolg. Die wirtschaftliche Lage wurde immer kritischer. Dass die neoliberale Bewegung dennoch die Herrschaft über das Denken erreicht und behalten hat, ist eine strategische Meisterleistung." (Müller 2004: 10) Dieses Paradoxon hat der Sozialdemokrat Albrecht Müller aktuell in das Zentrum eines Buch gerückt, in dem 40 Denkfehler, Mythen und Legenden analysiert werden, die bei der medialen Begründung für die destruktive Politik der neoliberal gesinnten Elite immer wieder eingesetzt werden.[1]

Müller, früherer Mitarbeiter der sozialdemokratischen Spitzenpolitiker Brandt und Schmidt, gehört zu dem mittlerweile sehr geschrumpften Kreis von Anhängern einer keynesianisch angelegten Wirtschaftspolitik in der SPD. Schon vor den Bundestagswahlen 2002 hat Müller zusammen mit Heiner Flassbeck in einem Grundsatzartikel die destruktive Grundeinstellung der heute führenden Eliten angegriffen: Seit zwanzig Jahren wurden die Kapitalinvestitionen gefördert, "die Unternehmenssteuern ... gesenkt, die Reallöhne blieben über weite Strecken hinter der Produktivität zurück. Der Wohlfahrtstaat wurde reformiert, es wurde dereguliert und privatisiert." (Flassbeck/Müller 2002: 13) Obwohl also die Änderungen der Zumutbarkeit, des Kündigungsschutzes, des Ladenschlussgesetzes, der Vorsorgeregelungen etc. allen in Erinnerung sind, verharrte die bundesdeutsche Wirtschaft nach dem weltweiten Crash des New Economy-Booms der 1990er Jahre in einem Zustand der Stagnation. Wie kommt das? "Es sei noch nicht genug reformiert worden, sagen die Verfechter der seit Jahren tonangebenden Richtung. Deutschland sei erstarrt und verkrustet, es gäbe ein hartnäckiges Strukturproblem, kein Konjunkturproblem. Weiter reformieren und entstaatlichen, den Arbeitsmarkt flexibler machen, die sozialen Sicherungssysteme weiter privatisieren, die gesamte Reformagenda konsequent abarbeiten - und überhaupt, der Abschied vom Modell Deutschland sei angezeigt." (ebd.) Schon damals lugte durch die Argumentation auch eine Kritik an der Politik der Sozialdemokratie durch. "In den Parteien finden Sachdebatten zur Mobilisierung des Sachverstandes kaum mehr statt. Wenn es Mobilisierung von Sachverstand über die Parteimitglieder und -gliederung noch gäbe, dann wären nennenswerte Gruppen von SPD-Mitgliedern und -gliederungen gegen die pauschale Verdammung aller Konjunkturprogramme und gegen die mit der Riester-Rente verbundene Illusion eines angesparten Geldkapitals angegangen." (ebd.)

Zur Mitte der laufenden Legislaturperiode ist diese zurückhaltende SPD-Kritik nicht mehr zeitgemäß. Die Sozialdemokratie ist - mit ihrem grünen Koalitionspartner - zum Rammbock der neoliberalen Systemänderung geworden: "Am verheerendsten jedoch wirkt sich die gut 20-jährige Vorherrschaft der neoliberalen Reformpropaganda auf die Parteipolitik aus... Mit der Agenda 2010 ..., den Steuersenkungen zu Gunsten der großen Konzerne und der Öffnung der Rentenversicherung hin zur Privatvorsorge, ist die rot-grüne Koalition zum Rammbock der neoliberalen Reformen geworden... Nahezu geräuschlos haben beide Parteien große Teile ihrer bisherigen Programmatik ausgetauscht." (Müller 2004a: 1070)

Der Neoliberalismus hat die SPD durch Vereinnahmung ruiniert und als regierungsfähigen Machtfaktor ausgeschaltet. Mehr noch: "SPD und Grüne haben den Konservativen mit ihrer Politik und mit ihren programmatischen Erklärungen den Weg dafür bereitet, nach einer Machtübernahme spätestens im Jahr 2006 ungestört und ohne Widerstand von politischer Seite die Revolution von oben durchzuführen und den Abbau sozialstaatlicher Regelungen zu realisieren. Mit bösen Folgen für unser Land." (ebd.)

Nicht die Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen die Neoliberalen die Bevölkerung überziehen, sollen uns hier beschäftigten,[2] sondern die Abschätzung der Folgen. Weshalb war diese Transformation der Sozialdemokratie möglich und weshalb verfolgt die wirtschaftliche und politische Elite entgegen ihren stets beschworenen patriotischen Werten eine destruktive Politik?

Ende der sozialen Demokratie

Heiner Flassbeck, ein Mitstreiter von Müller, hat mehrfach unterstrichen, dass offenkundig alles richtig schlimm werden muss, bevor es besser werden kann. Grundlage der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums ist die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Innerhalb des kapitalistischen Wertbildungs- und Verwertungsprozesses stellt sich über die reine Marktsteuerung langfristig keine Vollbeschäftigung und kein sozial verträglicher Strukturwandel in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft ein. Daher ist eine soziale Regulierung unverzichtbar. Keynes konstatierte daher mit Blick auf die schlechten Erfahrungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: "Heute besteht wohl Übereinstimmung darüber, dass ein befriedigendes Beschäftigungsniveau davon abhängt, dass die Gesamtausgaben (für Verbrauch und Investitionen) jenen Umfang erreichen, der dem Einkommen entspricht, das auf dem angestrebten Beschäftigungsniveau insgesamt zustande kommt... Das Hauptgewicht sollten Maßnahmen zur Aufrechterhaltung und damit zur Vermeidung von (Konjunktur-) Schwankungen haben... Es wird notwendig sein, sinnvollen Konsum zu ermutigen, vom Sparen abzuraten und einen Teil des unerwünschten Surplus durch vermehrte Freizeit zu absorbieren - mehr Urlaub und (eine wunderbare Art, Geld loszuwerden!) und weniger Arbeitsstunden." (Keynes 1997: 153) Im Übergang aus der Krisenkonstellation komme es darauf an, nicht die Arbeitseinkommen in das Zentrum der Regulation zu rücken, sondern der weiterführende Weg zur Verbesserung der Bedingungen der working class sind der Ausbau der social insurance, die Anhebung der Alterseinkommen und schließlich die Lenkung von Produktivitätsgewinnen in die Bereiche des Wohnens, der Erholung und der Bildung sowie in Kinder- und Familienzuschüsse.

Fakt ist: Diese Erfahrungen werden seit den 1970er Jahren - vor allem in Deutschland - in den Wind geschlagen. Erneut stehen Arbeitszeitverlängerung, Lohnkürzung und Abbau sozialer Dienste im Vordergrund, obwohl damit die Ökonomie mit Sicherheit vor die Wand gefahren wird. "In den letzten 25 Jahren wurde der von den Beschäftigten maßgeblich miterarbeite Produktivitätsfortschritt zum größten Teil den Unternehmen überlassen in der Hoffnung, dass dadurch Arbeitsplätze entstehen. Diese massive Umverteilung hat zwar nichts gebracht, wie man an der Arbeitslosigkeit ablesen kann, aber sie wird jetzt unter dem Deckmantel der Arbeitszeitverlängerung richtig forciert." (Flassbeck 2004: 13)

Erneut kreist die politische Debatte - wie vor und während der großen Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre - um die Frage, wie viel Einschnitte in das soziale Netz und wie starke Einkommenskürzungen (oder unbezahlte Arbeitszeitverlängerung) notwendig seien. Diese Orientierung hat sich bereits 1929/30 als vollständig ungeeignet zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit erwiesen. Würde sich die wirtschaftliche und politische Elite daran erinnern, "dass die uralte, jetzt wieder herrschende ökonomische Doktrin nicht nur in den achtziger Jahren, sondern auch bei der davor letzten Bewährungsprobe, nämlich 1929/30, fundamental versagt hat, wären wir einen Schritt weiter... Der orthodoxe Lehrsatz der ›tiefen Schnitte" ... hat ... sich wiederum, wie 1929/30, als ungeeignet zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erwiesen... Die Prediger der ›tiefen Schnitte‹, der ›illusionslosen‹ Rückkehr zum Lohniveau der 50er Jahre sind die Totengräber der Demokratie und des marktwirtschaftlichen Systems. Sie stehen im Begriff, die für dieses System unumgängliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der kurzen und langen Frist zu zerschlagen. Das ›Ende der Illusionen‹ ist das Ende der Marktwirtschaft und das Ende der sozialen Demokratie." (Flassbeck 1999: 1455f.)

Ende der sozialen Demokratie heißt, dass die bis Mitte der 1970er Jahre praktizierte und politisch-ideologisch akzeptierte Aufteilung der Produktivitätsgewinne der Lohnarbeit aufgekündigt ist. Für die Lohnabhängigen hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen: "Jahrelang ging es um kürzere Arbeitszeiten, höhere Einkünfte, längeren Urlaub, Frühverrentung und andere Verbesserungen. Jetzt geht es in die andere Richtung." (Braun 2004) In die Logik der "Agenda 2010" umgesetzt heißt dies: Die vom Kapital durchgesetzte Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen zwischen Lohn und Gewinn erzeugt in den Sicherungssystem einen "Reformbedarf". "Die ›Operation Reformen‹ ist ... eine Lüge, weil sie in weiten Teilen nichts anderes ist als der Versuch, die Einkommensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland weiter auseinander zuziehen und auf lange Sicht Fakten zuungunsten der Arbeitnehmer zu schaffen." (Müller 2004: 51) Diese politisch verlängerte Umverteilung beschädigt wiederum die gesellschaftliche Wertschöpfung - es entsteht eine nach unten gerichtete Spirale.

Die nächste Konsequenz dieses Paradigmenwechsels ist eine fortschreitende Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme. Die wichtigsten Pfeiler sozialer Sicherheit (Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Altersrentensicherung) basieren in ihrer Finanzierung auf den Arbeitseinkommen. Diese Lohnbasierung führt im aktuellen Fall von Massenarbeitslosigkeit, Ausweitung von prekären - also nicht sozialversicherungspflichtigen - Arbeitsverhältnissen und geringen Zuwächsen der beitragspflichtigen Lohneinkommen zu einer Einschränkung oder Ausgliederung von Leistungen. Logischerweise stößt auch eine mögliche Defizitsenkung durch Steuern an Grenzen, wenn - wegen der Steuersenkungspolitik und der höheren Anforderungen - die öffentlichen Finanzen selbst unter Druck geraten. Eine weitere wichtige Konsequenz ist schließlich, dass die Grundstrukturen der auf dieser Verteilung von Produktivität aufbauenden Machtverhältnisse letztlich in Frage gestellt werden. Der soziale Kompromiss oder der gesellschaftliche Konsens - jahrzehntelang als wesentlicher Faktor der sozialen Marktwirtschaft gefeiert - wird zur Nebensache. Folglich werden auch die erkämpften, höchst unzureichenden Arbeits- und Mitbestimmungsrechte der Lohnabhängigen schrittweise aufgekündigt. Vom Kündigungschutz, der Zumutbarkeit bei der Vermittlung eines neuen Lohnarbeitsverhältnisse, über den Unfallschutz bis hin zur Unternehmensmitbestimmung wird alles auf den berüchtigten Prüfstand gestellt und kommt entsprechend deformiert aus dieser Überprüfung heraus. Der seit Jahren gegen den Widerstand der Gewerkschaften vorangetriebene Ab- und Rückbau des Sozialstaates bringt schleichend eine soziale Polarisierung. Diese Entwicklung ist deshalb nicht nur ökonomisch falsch, sondern sie entfacht auch die sozialen Spannungen, die in den Zeiten der sozialen Marktwirtschaft in einem gesellschaftlichen Kompromiss kontinuierlich austariert wurden. Die wachsenden Einkommens- und Vermögensungleichheiten sind also ökonomisch fatal und erhöhen die soziale Ungleichheit. Selbst ein Teil der sozialen Schichten, die nicht von dieser Entwicklung direkt betroffen sind, lehnt es ab, in einer Gesellschaft mit extremen Unterschieden zu leben. Die in dieser Entwicklung angelegte Konzentration großer Geldvermögen verschiebt letztlich die politischen Machtverhältnisse. Die öffentlichen Institutionen werden offenkundig von den vermögenden Privathaushalten abhängig. Unter solchen Bedingungen nimmt die Gefahr zu, dass die Strukturen der gesellschaftlichen Willensbildung außer Kontrolle geraten.

Sozialdemokratie als Rammbock

Für den Keynesianer Müller "ist es ein Phänomen, wie SPD und Bündnisgrüne, die ich für Parteien mit genuin eigener Substanz hielt, so geräuschlos große Teile ihrer bisherige Programmatik ausgetauscht haben... Man kann einigen aus den Reihen der SPD und der Grünen zugute halten, dass sie Schlimmeres verhindern wollten und wirklich glauben, dass man den Sozialstaat auf dem eingeschlagenen Weg an geänderte Verhältnisse anpassen müsse... Andere in den Reihen der rotgrünen Koalition orientieren sich schlicht am Mainstream der Eliten und Medien." (Müller 2004: 308) Es wäre gewiss leichtfertig, die Macht und die materiellen Ressourcen der wirtschaftlichen und politischen Elite zu unterschätzen. "Die Revolution von oben, die Umerziehung des Volkes erfolgt heute nicht mehr mit Bajonetten und soldatischem Drill, nicht mit Gewalt, sondern auf die sehr sanfte Weise, mit Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit und der Einflussnahme auf die Organe der politischen Willensbildung, auf die Parteien und Medien." (Müller 2004: 66) Bei aller Bedeutung der Medienmacht und der neoliberalen Hegemonie über die gesellschaftliche Öffentlichkeit, lautet die Gegenthese: Dieser Bereich verstärkt eine Transformation und erzeugt sie nicht. Diese Verstärkung war in dem Maße möglich wie die politische Linke entweder aus Unvermögen oder Leichtfertigkeit darauf verzichtet hat, ihre schwachen Gegenkräfte und Ressourcen gebündelt einzusetzen. Fest steht auch, belegt durch Demonstration, Wahlen oder unspektakuläre Alltagshandlungen: Große Teile der Bevölkerung halten auch nach jahrzehntelanger TINA-Melodie an der Notwendigkeit einer sozialstaatlichen Kompensation gegenüber Markt- und Kapitalsteuerung fest. "Jedenfalls waren die Revolutionäre von oben mit ihrer Gehirnwäsche bislang nicht sonderlich erfolgreich. Das Volk ist bockbeinig... Bei ihrem Versuch, das Volk umzuerziehen, liegt also noch ein weiter Weg vor den Eliten." (Müller 2004: 66) Schließlich muss auch noch erklärt werden, warum die Eliten selbst von der sozialen Marktwirtschaft auf eine destruktive Grundeinstellung des Systemwechsels übergegangen sind.

Die modernisierte Sozialdemokratie als politische Führungskraft des hegemonialen Blocks sozialer Kräfte behauptet, dass ihre Reformen nicht etwa ökonomisch kontraproduktiv und zerstörerisch sind, sondern den Sozialstaat für das 21. Jahrhundert fit machen. Der Sozialstaat müsse so umgestaltet werden, dass er wirtschaftliche Dynamik nicht erschwert und den Zugang möglichst vieler zu Bildung und Arbeit nicht behindert. Der generelle Ansatz des Ab- oder Rückbaus des Sozialstaates heißt: Die Funktion einer sozialstaatlichen Kompensation von Ergebnissen der Marktsteuerung oder der Kapitallogik wird beseitigt. Diese im Kern reaktionäre und selbst im Sinne der Kapitalakkumulation kontraproduktive Politik denunziert alle Ansätze der Verteidigung von geschichtlich erworbenen Rechten und Ansprüchen als korporatistischen Verteidigung von Sonderinteressen, als historisch überholte Verteidigung von Privilegien. Der politische Absturz der Sozialdemokratie und die Selbstzerstörung dieser Partei kristallisieren sich um den Übergang auf diese Linie der Gegen-Reform, deren konsequenter Ausdruck die Agenda 2010 ist. "Ihre Agenda 2010 bedeutet im Kern schließlich die Generalrevision ihres vorausgegangenen großen Reformprojekts aus den 1970er Jahren. Das Reformmodell in der Ära Brandt setzte auf den kräftigen Ausbau des Sozialstaates als grundlegende Voraussetzung für Freiheit, Partizipation, Gerechtigkeit und Emanzipation. In der Logik der Agendareformer von heute aber ist dieser Sozialstaat, den man selbst vor 30 Jahren etablierte, mittlerweile zu teuer, zu parasitär, zu leistungshemmend, zu wachstumsfeindlich zu paternalistisch. Er ist die Quelle des Übels, das man gegenwärtig bekämpft." (Walter 2004)

Wahl- und Parteienforscher weisen zu Recht daraufhin , dass die SPD-Führung einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel politisch begleitet, der sich auf alle wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Felder erstreckt. "Die SPD-Elite rutscht auf der Konfliktachse nach rechts und nähert sich dem marktliberalen Pol an. Demgegenüber verharren große Teile der Mitgliedschaft und wichtige Wählersegmente auf der ideologischen Position einer wohlfahrtstaatlichen Sozialdemokratie." (Mielke 2004) Die sozialdemokratische Programmatik ist unter dem Druck der Agenda 2010 weit in die bürgerliche Mitte verschoben worden, so dass auch nach einem politischen Machtverlust eine anhaltende Krise der sozialdemokratischen Partei zu erwarten ist.

Der Kurswechsel zur Politik der Agenda 2010 erfolgte unter dem Druck der anhaltenden ökonomischen Stagnation und der durch das gesamtwirtschaftliche Nullwachstum aufgedeckten Finanzierungsnöte in allen sozialen Sicherungssystemen. Dass diese Verschiebung der Programmatik einer Massenpartei relativ einfach durch eine kleine Parteielite erfolgen konnte, verweist auf einen tieferliegenden Strukturwandel.

Die SPD hat sich in den letzten Jahrzehnten von den mittleren und unteren sozialen Schichten der Lohnabhängigen abgekoppelt. Im eindeutigen Bruch zu zentralen Festlegungen des Wahlprogramms manövrierte der damalige SPD-Vorsitzende Schröder seine Partei auf einen entschiedenen Kurs der neoliberalen Strukturreformen. Der politische Schaden dieses Kurswechsels ist beträchtlich: Große Teile der SPD-Wählerschichten sind vom Sinn der Politik der "Agenda 2010" nicht überzeugt, weil bislang nur sie die Mehrbelastungen aus dieser großflächigen Umverteilung ohne Wirtschaftswachstum tragen sollen. Die Sozialdemokratie rangiert bundesweit in den Meinungsumfragen bei einem Stimmanteil von rund 25%, was bezogen auf die Wahlergebnisse im Herbst 2002 einem politischen Erdrutsch in den Kräfteverhältnissen gleichkommt. Seit 1990 hat die SPD rund ein Drittel ihres Mitgliederbestandes verloren. Allein im Jahr 2003 haben 40.000 Mitglieder der Partei den Rücken gekehrt. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften und den Sozialverbänden ist gründlich zerrüttet. Die SPD ist auf dem Weg von einer Mitgliederpartei zum Typus einer bürgerlichen Honoratiorenpartei. Der Verlust des klassischen Subjekts, der Mitgliedermassen und der Organisationskader - das ist ein markanter Traditionsbruch, der sich in der SPD seit Jahrzehnten vollzieht.

Transformation in der wirtschaftlichen Elite

Der Übergang der Mehrheit von Grünen und Sozialdemokratie auf die neoliberale Gesellschaftskonzeption zwingt zu der Schlussfolgerung: "Einen solchen Elitenkonsens hat es in diesem Land noch nie gegeben... Eine solche politische Einstimmigkeit hat man in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus allein am 4. August 1914 erlebt. Im Übrigen gab es davor und danach..., ausreichend politische Differenz, genügend elementaren Streit über verschiedene politische Lösungswege, auch über grundlegende gesellschaftliche Alternativen." (Walter 2004)

Die Mehrheit der politischen Klasse ist in den letzten Jahren - trotz offenkundiger Erfolglosigkeit der Konzeption - auf die neoliberale Philosophie übergegangen. Hinter diesem Konzept steht die ökonomische Elite, die sich schrittweise und immer radikaler von der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet. "Hinter dem Drängen auf Strukturreformen stecken massive Interessen. Wenn zum Beispiel die gesetzliche Rentenversicherung ergänzt und Schritt für Schritt ersetzt wird durch private Lebensversicherungen und Pensionsfonds, dann können Versicherungswirtschaft und Banken ihr Geschäft beträchtlich ausdehnen... Hinter den Attacken auf den Sozialstaat, auf die Tarifautonomie und die angeblich zu hohen Löhne stecken Meinungsführer aus der Wirtschaft. Sie haben Interesse an einem schwachen Kündigungsschutz, an Niedriglöhnen und geringeren Sozialleistungen. Nicht alle Unternehmer sehen das so. Aber die einflussreiche Mehrheit wohl schon." (Müller 2004: 67) Bekanntlich stellt sich unter normalen Akkumulations- und Konjunkturbedingungen die Kapitalseite als gesellschaftlich-politische Formation dar, die von gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen zu Kompromissen gezwungen werden können. Bei Veränderung dieser Konstellation löst sich diese Klassenformation auf; es setzt sich eine Konzeption durch, die in der Tat als destruktiv bestimmt werden kann, weil eine regulierten Verteilung und ein politisch gewollt Ausbau des Binnenmarktes eben auch eine Stabilisierung der ökonomischen Lage eines Großteil der kleineren und mittleren Unternehmen bewirkte. "Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz ... als Praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse"; unter Bedingungen der chronischen Überakkumulation und einer Zersetzung der gesellschaftlichen Betriebsweise verwandelt sich die "Konkurrenz ... in einen Kampf der feindlichen Brüder" (Marx 1964: 263); unter solchen Bedingungen ist eine kollektive Identität des Kapitals mit gesamtgesellschaftlichen Zielvorstellungen nicht zu erreichen. Entscheidend werden die konkreten Machtverhältnisse.

Die Macht- und Entscheidungsverhältnisse in den großen Kapitalgesellschaften haben sich gegenüber früheren Phasen des Kapitalismus grundlegend geändert. Der Aktionärs- oder Vermögenskapitalismus offenbart sich im Shareholder value-Konzept. Sein Grundgedanke ist einfach und eindeutig: den Unternehmenserfolg nur am ökonomischen Wert zu messen, der für die Eigentümer geschaffen wird. Gewinne für die Anteilseigener - steigende Aktienkurse und hohe Dividenden - haben eindeutig Vorrang vor den Interessen der Beschäftigten, der Sicherung von Arbeitsplätzen, dem Schutz der Umwelt und Belangen der Gesamtgesellschaft. Für eine kurzfristige Renditesteigerung werden Unternehmen ausgeschlachtet und ausgebeutet, demontiert und verscherbelt. Die Aktionäre und ihre Vermögensverwaltungs- und Investmentgesellschaften (Fonds) pochen auf die rigorose Steigerung der Eigenkapitalrendite, weil dies die entscheidende Bezugsgröße für den Börsenkurs ist. Diese Eigentümer sind im praktischen Wertschöpfungs- und Verwertungsprozess nicht präsent, insofern sind sie auf eine Allianz mit dem Management angewiesen, das über entsprechende Bezüge und Prämien an der Bereicherungslogik beteiligt wird.

Im Prinzip sind Kapitalunternehmen und damit Aktionäre und Investoren keine neuen Phänomene. Wenn wir gleichwohl eine Machtverschiebung zugunsten der Vermögensbesitzes in der modernen Unternehmenslandschaft konstatieren, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass die Vermögensbesitzer neuerdings organisiert auf den Unternehmensprozess einwirken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzen sich die Kapitalgesellschaften in der bürgerlichen Gesellschaft und innerhalb des Wirtschaftsbürgertums durch. Ausgangspunkt dieser Transformation ist der Hegemoniewechsel vom fungierenden Einzelkapitalisten zu Kapital- und Aktiengesellschaften. Diese Veränderung ist letztlich mit einer relativen Verselbständigung des Managements verbunden.

Mit dem Auftreten der organisierten Vermögensverwaltung kann die Kontrolle der Aktionäre über die Kapitalgesellschaften zurückgewonnen werden. Die Akkumulation der Kapitalgesellschaften geht einher mit einer entsprechenden Dynamik der privaten Vermögensbesitzer. Die Vermögensbesitzer bedienen sich mehr und mehr der professionellen Anlageberatung oder delegieren Teile oder ihr Vermögen insgesamt an Vermögensverwalter. Diese Professionalisierung gewinnt an Gewicht mit der Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen und der Internationalisierung der Vermögensanlage. Entfällt der Zwang, das Vermögen in heimischen Unternehmen oder entsprechenden Unternehmenspapieren anzulegen, ist die Anlageentscheidung auch für ausländische Immobilienmärkte, festverzinsliche Staatspapiere und die neuen Finanzinstrumente (Derivative) offen, gewinnt die Professionalisierung weiteren Einfluss. Über den verschärften Wettbewerb der professionalisierten Vermögensbesitzer wird zugleich der Druck auf die Wertschöpfung der Unternehmen größer. Die Ausrichtung an das Shareholder-Prinzip führt über die Veränderung des Wertschöpfung- und Verwertungsprozesses zur Gewinnsteigerung und vergrößerten Eigenkapitalbildung. Der internationale Wettbewerb verändert also sowohl die nationalen Vermögensmärkte als auch die Investitions- und Wertschöpfungspolitik der Kapitalgesellschaften. Zugleich werden damit aber auch erneut die Widersprüche entwickelt, was sich in den gravierenden Finanzkrisen und dem geplatzten Börsenboom niederschlägt.

Die Dominanz der Finanzmärkte und die Verschiebung der Machtverhältnisse in Richtung des Aktionärs, bzw. seiner Vertreter (Fonds) erfordert eine Ausrichtung an dem Typus des Shareholder value-Kapitalismus. Die Konsequenz dieser Entwicklung: Die bisherigen Maßverhältnisse für die Verteilungsauseinandersetzungen sind überholt. Die Gehälter und Prämien werden gleichermaßen gesteigert wie die Dividenden und Ausschüttungen an die Aktionäre. Fakt ist auch: In der Zeit von 2000 bis 2003 ist das Volkseinkommen sowie das Unternehmens- und Vermögenseinkommen nominal gestiegen; dies gilt insbesondere für die Unternehmensgewinne der Kapitalgesellschaften. Im Vergleich dazu ist jedoch das Aufkommen der Steuern auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 30% zurückgegangen, bei den Kapitalgesellschaften sank die Steuerbelastung sogar um die Hälfte. Der wesentliche Grund: Das Steuersystem ist grundsätzlich bis heute so geblieben wie es vor Jahrzehnten für eine noch weitgehend nationale Ökonomie zugeschnitten war. Die rotgrüne Regierung hat zwar die "größte Reform der sozialen Sicherungssysteme" auf den Weg gebracht, aber eine moderne Besteuerung für den Shareholder-Kapitalismus, geschweige denn eine Kontrolle der großen Kapitalunternehmen, haben sie nicht angepackt.

Sicherlich ist ein entschiedener Kurswechsel der Politik nicht einfach zu erreichen. Immerhin zeigen die Proteste und der Widerstand größerer Teile der Bevölkerung, dass die Stimmung zum Positiven gewandt werden kann. Über eine Stärkung der Konjunktur kann ein neues Verhältnis von Export- und Binnenwirtschaft auf den Weg gebracht werden. Damit würden die finanziellen Grundlagen der sozialen Sicherungssystem so konsolidiert, dass solidarische Reformkonzeptionen verwirklicht werden könnten. Damit dieser radikale Kurswechsel eingeleitet werden kann, müssen politische Voraussetzungen innerhalb der gesellschaftlichen Protestbewegungen geschaffen werden: "Die eigentliche deutsche Krankheit ist, dass keine Partei im Bundestag mehr diese genuine, geradezu klassische Erwartung in die Politik in sich trägt." (Walter 2004)

Literatur
Braun, Ludwig Georg (2004): Wer 35 Stunden arbeitet, ist nicht fleissig" in: Süddeutsche Zeitung 23. Juli 2004
Flassbeck, Heiner (1999): Markt und Gerechtigkeit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12-99, S.1455f
Flassbeck, Heiner (2004): Ökonomische Einfalt, in: ver.di-publik 8.9.2004
Flassbeck, Heiner / Müller, Albrecht (2002): Ein babylonisches Mißverständnis, in: FAZ vom 23.2.2002
Keynes, John Maynard (1997): Das langfristige Problem der Vollbeschäftigung, in: K.G. Zinn, Jenseits der Marktmythen, Hamburg, S. 153 (13)
Karl Marx (1964): Das Kapital, Band 3, MEW 25, Berlin
Mielke (2004): "Das bedrohte Sein prägt das Bewusstsein", in: Frankfurter Rundschau vom 19.7.2004
Müller, Albrecht (2004): Die Reformlüge, München
Müller, Albrecht (2004a): Die Reformlüge, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9-2004
Walter, Franz (2004): Einheitsfront der Reformer, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.9.2004

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.

[1] Dieses Buch kann gerade wegen der Daten und Analysen, mit denen die gängigsten Argumente der Neoliberalen enttarnt werden, zur Lektüre empfohlen werden.
[2] In einigen Punkten können die von Müller angeführten Analysen kritisch hinterfragt oder ergänzt werden. Dies ist allerdings nebensächlich für die Hauptrichtung der vorgetragenen Argumentation.