Plädoyer für politische Utopien

"Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn ihr fehlt das Land, das die Menschheit seit jeher ansteuert." - Oscar Wilde

Bereits kurz nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa überschlug sich die Prognosefähigkeit der westlichen Wissenschaften und des Boulevard. Fukuyama verkündete angesichts dieses Scheiterns das Ende der Geschichte. Die liberalen und demokratischen Systeme blieben nach ihm als Sieger der Geschichte übrig, weitere Experimente seien ausgeschlossen oder ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Neben Fukuyama verkündete Huntington den Kampf der Kulturen, der zwar kein solcher sei, aber darauf hinauslaufe, dass Stück für Stück die westliche Welt die anderen Kulturen einerseits absorbieren werde und andererseits genau dadurch aber die Eigenständigkeit und das Widerstandspotenzial dieser Kulturen stärke. Beide bauen damit auf jene These auf, die Popper bereits in den 50er Jahren vorgetragen hatte: Utopien und Gewalt gehören kausal zusammen. Wer Utopien umsetze, der müsse diese totalitären Systeme zwangsläufig durch Gewalt aufrechterhalten. Die einzige Alternative seien die demokratischen und liberalen Systeme des Westens. Vergessen ist in dieser Analyse, darauf haben Johanno Strasser und Hermann Klenner in aller Deutlichkeit hingewiesen, vor allem eines: Dass die liberalen Systeme nämlich auch kapitalistisch organisiert sind und dass das notwendige Gleichgewicht zwischen Politik und Markt auf Dauer auch nicht funktioniert, da der Markt immer versuchen wird, die Sphäre des Politischen zu absorbieren.

Mit Fukuyama und Huntington sind die zwei bekanntesten Prognostiker der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die liberalen Demokratien, die nun nicht mehr dem staatlichen Sozialismus gegenüberstanden, wurden anderen Prozessen ausgesetzt. Hinter Stichworten, wie Globalisierung, europäische Integration oder Standort, wurden die verschiedensten Konzepte gehandelt. Die Nationalstaaten seien abzuschaffen, sagten die einen, sie seien zu stärken, die anderen, der Kapitalismus sei schlecht (aber trotzdem alternativlos), sagte Forrester, er sei zu zivilisieren, behauptete Dönhoff. Vieles ist mittlerweile in Vergessenheit geraten, die Empirie hat an verschiedenen Orten in der Welt sich gegen die Erfassung durch diese und andere Theorien entschieden.

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme ist auch die Fähigkeit der liberalen Staaten gesunken, sich selbst zu hinterfragen und zu kritisieren. Gerade aus dieser Zeitdiagnose heraus ist es zu erklären, dass aus den verschiedensten politischen Positionen heraus ab 1990 vor allem eines verkündet wurde: Das Ende der Utopie als konsequenter Ausdruck des Endes der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. Francois Furet hat den Prozess des Entstehens und des Scheiterns des Sozialismus auf die Formel vom Ende der Illusion gebracht. Michael Winter sprach vom Ende eines Traumes, Orlando Figes von der Tragödie des russischen Volkes, Hans Magnus Enzensberger verabschiedete das utopische Denken und Ralf Dahrendorf blickte emphatisch in die Zukunft angesichts der Möglichkeiten des sich ausdehnenden liberalen Kapitalismus. Was blieb, ist die oftmals intendierte grundsätzliche These, dass die politische Utopie für den Sozialismus verantwortlich sei und dass man nun mit dem Sozialismus auch auf die Utopien verzichten könne. Auf den Punkt gebracht wurden all diese Entwicklungen und Ansätze von Joachim Fest, der in seinem Essay "Der zerstörte Traum" das Ende des utopischen Zeitalters propagierte und forderte, dass man sich nun endlich wieder, wie dereinst im italienischen Faschismus, der Tagespolitik zuwende und aufhöre, den Schreckgespenstern der Geschichte hinterherzulaufen. 1

Was bei solchen Thesen allerdings verkannt wird, ist die Tatsache, dass gerade die politische Utopie das oben kurz beschriebene intellektuelle Vakuum des kritischen Umgangs mit der eigenen Zeit und der eigenen Gesellschaft zu füllen vermag. Wer die politische Utopie verabschiedet, der trennt sich gleichzeitig von einem zentralen Strang des abendländischen Denkens. Denn gerade die Utopien waren es, in denen seit der Antike und dann wieder seit dem 16. Jahrhundert die Kritik an der eigenen Zeit formuliert und mit alternativen Gegenbildern konfrontiert wurde. Die politische Utopie ist einer der Rahmen (oder moderner ausgedrückt Diskussionsforen), innerhalb derer die intellektuelle Selbstvergewisserung über Fehler und Möglichkeiten der Gesellschaft erfolgen kann und muss.

Gerade mit Blick auf das letzte Jahrzehnt bleibt festzustellen, dass den liberalen Demokratien in immer stärkerem Maße eine gewisse Skepsis entgegengebracht wird. Politikverdrossenheit ist eines der Stichwörter, die einmal fassen sollten, was heute kaum noch erklärbar ist. Denn mittlerweile ist diese angebliche Verdrossenheit an der Politik zum Beispiel ersetzt durch einen gut organisierten und geplanten Kampf von Globalisierungsgegnern und anderen Gruppen gegen die Nationalstaaten der westlichen Welt und gegen ihre übernationalen Organisationen. Der Liberalismus hat, allen Prognosen und Abwehrversuchen zum Trotz, dennoch wieder eine neue (alte) Alternative erhalten. Es ist die maßgeblich auf Gustav Landauer und Martin Buber zurückgehende Gegenüberstellung von zentralistischem und demokratischem Sozialismus. Der Zusammenbruch des Ostblocks bedeutet eben nicht das Ende der Utopien oder das Ende des Sozialismus, er verdeutlicht vielmehr das Scheitern zentralistischer Planung. Die weiter zu revitalisierende Alternative kann auch jetzt ein demokratischer Sozialismus sein, ist doch in ihm das Potenzial der Kritik an den Verirrungen des Sozialismus bereits enthalten, aber ins Positive gewendet und emanzipatorisch nach vorn gerichtet.

Es ist vor allem Richard Saage zu danken, dass die politische Utopie im wissenschaftlichen Raum und über diesen hinaus noch Beachtung findet. Gegen Ernst Bloch genauso wie gegen Karl Mannheim, Hans Freyer, Karl Raimund Popper oder Joachim Fest hat er den neuzeitlichen Diskurs der politischen Utopie neu bestimmt und dadurch, dass er ihn analytisch fokussiert hat, auch ein Stück weit wieder belebt.

Gerade die Vita von Thomas Morus evidiert die These des hohen Stellenwertes der politischen Utopie als Mittel der Selbstvergewisserung und Selbstverortung. Morus war durch seine staatlichen Ämter im England des 16. Jahrhunderts und durch seine guten Beziehungen zu Heinrich VIII. durchaus in der Lage, ordnend und regulierend in die Verhältnisse seiner Zeit einzugreifen. Seine Stimme hätte in der Diskussion um die Probleme der Zeit ein Gewicht gehabt. Doch genau dieses Engagement sucht er nicht. Er handelt nicht in der Gegenwart, sondern stellt der Kritik an der eigenen Zeit ein imaginiertes Gegenbild eines besten Gemeinwesens gegenüber: Im Jahr 1516 erscheint die "Utopia". Nach dem Staatsroman von Morus, wie Robert von Mohl das Werk bezeichnete, leitet die Gattung der Utopie ihren Namen ab. Und ein Weiteres ist entscheidend. Nicht wegen "Utopia" wurde Morus hingerichtet, sondern weil er die Heiratspolitik von Heinrich VIII. und die damit verbundene Abspaltung Englands von der katholischen Kirche in Rom nicht mittragen wollte. Die "Utopia" aber wurde über die Humanistenkreise hinaus ein europäischer Bestseller und sie war geachtet sowohl wegen der Kritik als auch wegen des alternativen Gegenbildes. Die Mächte des 16. Jahrhunderts hatten im Falle von Morus dem Intellektuellen das Recht zur Kritik eingeräumt.

Dies überrascht um so mehr, als die kritische Zeitdiagnose von Morus in ihrer Radikalität im 16. Jahrhundert kaum übertroffen wurde. Erst Winstanley wird mit seinen Schriften, darauf hat Hermann Klenner hingewiesen, an diese sozialkritischen Tendenzen von Morus anknüpfen. Morus kritisiert mit der Einhegungsbewegung den beginnenden Prozess der Akkumulation von Kapital, der allerdings noch an den Besitz von Land gekoppelt ist. Das Weideland war es, das von den englischen Grundbesitzern (Gentry) zur Ausweitung der Wollproduktion für die Schafzucht benötigt wurde. Daher wurden Bauern enteignet, vertrieben und das Gemeindeland in immer stärkerem Maße annektiert. Solchermaßen entstand eine verarmte Unterschicht, die zwangsläufig mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Morus hat diese Entwicklung auf die klassische Formel gebracht, dass nun die Schafe schon die Menschen fressen.2

Wie bereits angesprochen, versucht Morus aber nicht, diese Konflikte im Rahmen seiner Ämter im englischen Staat zu lösen, sondern er schildert vielmehr einen Ort, an dem diese Probleme nicht vorhanden sind. Die alternative Gesellschaft auf der Insel Utopia erscheint im Licht der Kritik an der eigenen Zeit als idealer Raum, die für dieses Ideal allerdings einen hohen Preis zahlt.

Der Ort Utopia ist von der Außenwelt völlig abgeschieden. In einem gigantischen Projekt haben die Bewohner Utopias aus der ehemaligen Halbinsel eine Insel gemacht, indem sie den Weg zum Festland abgegraben haben. Nötig ist diese Abgeschiedenheit vor allem durch die zentrale Prämisse gesellschaftlichen Zusammenlebens: das Gemeineigentum. In Utopia ist das Privateigentum aufgehoben und damit nach Morus das Konfliktpotenzial der europäischen Herkunftsgesellschaft. An dieser Stelle setzt zumeist die konservative Utopiekritik ein. Denn dem Gemeineigentum entspricht weitergehend eine relative Gleichheit in den verschiedensten Lebensbereichen; vom Essen über die Kleidung bis hin zur Bildung. Während die Kritiker der "Utopia" immer die Determination des Individuums durch den Staat und die Abschaffung des Eigentums kritisierten, gerieten die positiven und emanzipatorisch nach vorn gerichteten Implikationen der Gleichheit zumeist in den Hintergrund. Denn alle Utopier haben die gleichen Rechte und Pflichten, die Differenz zwischen arm und reich ist aufgehoben, alle haben das Anrecht auf Bildung und Kultur.

Diese mögliche Kritik an "Utopia" ist von Morus aber gerade dadurch aufgehoben, dass er das imaginierte Gegenbild eben nicht zur Umsetzung empfiehlt. Die Gleichschaltung von Utopie, Kommunismus und Faschismus, wie sie Fest, Nolte, Popper, Dahrendorf und etwa auch Enzensberger behauptet haben, wurde damit bereits vom ersten Klassiker des Genres verneint. Es geht Morus vor allem um den Konflikt von Privat- und Gemeineigentum und damit um den Nachweis, dass viele der menschlichen Verbrechen und Laster aus der europäischen Eigentumsstruktur resultieren. Würde man Utopia verwirklichen, so erhielte man in der Tat einen totalitären Staat mit einer auf einen Zweck festgelegten Beglückungsstrategie. Nutzt man Utopia aber als kritische Folie für die eigene Herkunftsgesellschaft und damit vor allem als intellektuelles Gedankenexperiment, dann erkennt man den Wert der politischen Utopie. Und Morus hat genau diese Grenze eingezogen, indem er die Verwirklichung der Gesellschaft Utopias in Europa mehrfach verneinte. Dass die liberale Gesellschaft vermeint, auf diese Ideen verzichten zu können, das normative und regulierende Prinzip der Gleichheit außer Kraft setzen zu können, spricht nicht gegen die Utopien, sondern gegen den Liberalismus.

Die Utopie wird so zum prinzipiellen Recht auf Kritik. Mit dem Sozialismus ist nicht die Utopie verlorengegangen, sondern eine spezielle Form totalitärer und zentralistischer Herrschaft (Kropotkin, Landauer, Buber). Neu ist dies nicht. Die Liste der gescheiterten quasi-utopischen Projekte ist lang. Zu nennen sind vor allem Platons Rolle in Syrakus, die Jesuitenmissionen in Paraguay, die errichteten Idealstädte, denen eine lange europäische Tradition zukommt, zu nennen sind aber auch die zahlreichen Versuche des 19. Jahrhunderts, vor allem in Amerika utopische Projektionen in die Wirklichkeit zu setzen. Es kommt nicht darauf an, die Gemeinsamkeiten zwischen den Utopien der frühen Neuzeit und den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts aufzuzählen und zu wiegen, sondern diesen einen Unterschied zu erkennen. Wer Utopien verwirklichen will, der entutopisiert sie.

Das eigentlich Entscheidende ist nun aber, dass dem Diskurs der neuzeitlichen politischen Utopie diese Problemlage sehr wohl bekannt war. Daraus resultiert unter anderem die Grenze, die Morus der Verwirklichung seines Gemeinwesens entgegensetzte, daraus resultiert aber auch die Entwicklung des utopischen Genres überhaupt.

Es sind die Utopisten des 18. Jahrhunderts, die dem der Utopie inhärenten archistischen Potenzial des Kollektivgeistes das Ideal der unberührten Natur konfrontieren und damit das Ideal des gedrosselten Fortschritts. Gegen die entstehende bürgerliche Gesellschaft entwerfen Autoren wie La Hontan oder Diderot die Fiktion des Einklangs von Mensch und Natur in den Frühzeiten der geschichtsphilosophisch gedeuteten Menschheitsgeschichte. Die anarchistische Utopie ergänzt die archistische Linie alternativen Denkens. Und auch an dieser Stelle wehren sich die Utopisten gegen eine Verwirklichung dieses Ideals, das erneut vor allem als Möglichkeit der Kritik der Herkunftsgesellschaft gedeutet wird. Es ist die Entdeckung Tahitis um 1770, die in Europa eine Euphorie auslöst, die so bisher kaum existent war. Die entdeckte Insel Tahiti wird zum Inbegriff des Einklangs von Mensch und Natur und damit in der Wahrnehmung Europas zum tatsächlich vorhandenen utopischen Raum. Doch genau an dieser Stelle interveniert Diderot, der mit dem "Nachtrag zu Bougainvilles Reise" die bekannteste Tahiti-Utopie schrieb. In dem Moment, so Diderot, an dem Utopia und Europa miteinander konfrontiert werden, etwa durch die Entdeckung Tahitis, ist der utopische Ort zerstört. Was bleibt ist der Fortschritt, der auf wissenschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Gebieten zumindest eine bessere Zukunft zu verwirklichen vermag. Genau hierfür aber brauche die Gesellschaft Visionen und handlungsanleitende Ideen, also die Fiktion staatsfreier Gesellschaften.

Die Utopie darf nicht umgesetzt werden, auf diese Formel lassen sich die Aussagen von Autoren wie Rousseau, Diderot, Voltaire oder dÂ’Alembert zurückführen. Die Utopisten des 19. Jahrhunderts werden genau diese Position, die seit Morus den meisten Utopien beigegeben ist, verneinen. Es ist der einsetzende Industrialisierungsprozess, der mit seinem durch die Maschine abgesicherten Entwicklungspotenzial dazu führt, dass die Utopisten diese Warnung aufgeben. Nach Owen, Saint-Simon, Fourier, Cabet und anderen ist ein solch ungedrosselter industrieller Fortschritt vorstellbar, dass nur noch die Verteilung der Gewinne und damit die Teilhabe am produzierten Reichtum verändert werden müsse, um innerhalb einer ziemlich kurzen Zeitspanne Utopia im Jetzt zu verwirklichen.

Den Utopien des 19. Jahrhunderts sind oftmals dezidierte Vermittlungs- und Transformationsstrategien beigegeben, wie innerhalb weniger Generation die Fehler der europäischen Gesellschaft, vor allem die Ausdifferenzierung in Arm und Reich, behoben werden können. Es ist die Französische Revolution, die durch ihr enormes Krisenpotenzial die Utopisten davor zurückschrecken ließ, eine solche Verwirklichung Utopias durch Revolution herbeizuführen. Vielmehr geht es darum, auf dem Boden der Industriegesellschaft und mit den erlaubten Mitteln den Umschwung herbeizuführen. Hinzu trat als Weiteres, dass man das, was für Europa geplant war, in mikrokosmischen Gemeinwesen in Amerika ausprobierte. Doch die idealen Siedlungen in Amerika (wie Owens "New Harmony") scheitern, und zwar oftmals an der Struktur menschlichen Handelns, die sich ganz im Sinne der Warnungen des 18. Jahrhunderts gerade nicht planen lässt.

Bereits im 19. Jahrhundert wurden die verschiedenen utopischen Projekte der genannten Autoren einer scharfen Kritik unterzogen. Zu nennen ist neben den bekannten Schriften von Marx und Engels vor allem die ästhetische Konzeption, wie sie unter anderem Wilde vertrat. Er rekurrierte auf den ebenfalls im 18. Jahrhundert thematisierten Konflikt zwischen Leidenschaften und utopisch begründeter Herrschaft. Da er aber trotzdem Mitglied der Industriegesellschaft war und den maschinellen Fortschritt bejahte, verkündete er nicht die Rückkehr zur Natur. Vielmehr wird bei ihm nun die Maschine herangezogen, um den Menschen von der erniedrigenden Fron der Arbeit zu befreien. Die Maschine verbürgt den ständigen Fortschritt und die Menschen können so ihre Zeit für die Ästhetik nutzen, also lesen, spielen, ins Theater gehen etc. Bei Wilde wird in aller Intensität deutlich, dass es ihm dem Selbstanspruch nach darum ging, den Menschen auf das durch ihn repräsentierte ästhetische Niveau zu heben. In seinem Essay "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus " ist erkennbar, dass sein Ziel ein ästhetisch begründeter Sozialismus war, der sich vom deutschen Kulturpessimismus um 1900 vor allem durch seine Stoßrichtung in eine emanzipierte Zukunft unterschied. Ruskins, Morris und Wilde vertraten damit im Unterschied zu Owen, Fourier und Saint-Simon die Individualität, während die Letztgenannten kollektive Lösungen präferierten.

An diesem Punkt setzten dann die Autoren des 20. Jahrhunderts an. Wer Samjatins "Wir" und die dortige radikale Zukunftsprognose gelesen hat, der erkennt, dass der utopische Diskurs in der Lage ist, seine eigenen Positionen kritisch zu hinterfragen. Bei Samjatin und später dann auch bei Orwell und Huxley ist in der Kritik, was bei Owen und anderen noch positiv gezeichnet war. Die anonyme Herrschaft über den Menschen, ermöglicht durch Technik, Uniformität und Überwachung. Und dennoch, Samjatin kritisiert nicht die Utopien an sich, er kritisiert den Versuch der Umsetzung der Utopien im Allgemeinen und Bogdanows utopische Entwürfe im Besonderen.3

Denn bei Bogdanow kulminiert die Technikfaszination der politischen Utopien und vor allem des 19. Jahrhunderts. Die Erde wird gesprengt, damit eine Gruppe Auserwählter auf einem anderen Planeten mit der Errichtung eines neuen Gemeinwesens beginnen kann. Samjatins Utopie und auch seine weiteren Werke sind zentral für die notwendige Unterscheidung zwischen politischen Utopien und den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. In seinem "Brief an Stalin" beschreibt Samjatin detailliert das Innenleben des Schriftstellers. Wer einem Schriftsteller den freien und ungebundenen Schöpfungsprozess verbietet, der tötet ihn. Samjatin verteidigt das prinzipielle Recht des Intellektuellen auf Kritik. Er klagt, gerade auch als Utopist, das ein, was Morus noch voraussetzen konnte: Dass der Staat, die Gesellschaft und ihre Repräsentanten ein Interesse an einer kritischen Begleitung ihrer Politik und Entscheidungen haben sollten.4

Parallel zu den dystopischen Romanen erreichte eine zweite kritische Linie zu den archistischen Utopien ihren Höhepunkt. Es ist die bereits kurz angesprochene Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Marxismus durch Proudhon, Kropotkin und Landauer. Gerade die Werke von Landauer ("Aufruf zum Sozialismus", "Die Revolution ") verdeutlichen, dass für viele Denker die Möglichkeit existierte, Sozialismus auch gegen den Dogmatismus von Marx und Engels zu verwirklichen. Sozialismus statt Marxismus, auf diese prägnante Formel ließe sich das Denken Kropotkins und Landauers bringen. Martin Buber hat in den 40er Jahren mit seiner Schrift "Pfade in Utopia" und zeitgleich mit Popper diese Linie des sozialistischen und utopischen Denkens revitalisiert und neu belebt. Zugleich hat er die Konzeption eines demokratischen und individualistischen Sozialismus als Alternative den staatssozialistischen Staaten ebenso gegenübergestellt wie den liberalen und kapitalistischen Systemen der westlichen Welt.

Wenn in den letzten zehn Jahren die politische Utopie verabschiedet oder für tot erklärt wurde, so genau gegen diese Kritik Samjatins. Die liberale Gesellschaft vermeint, als "Sieger der Geschichte" ohne Kritik auskommen zu können. Eine so genannte "Neue Mitte" soll in der politischen Sphäre Stück für Stück die beiden Pole links und rechts absorbieren und die nicht absorbierten Reste als extremistisch zur Rechenschaft ziehen. Die liberale Gesellschaft der letzten Jahre war in diesem Sinne vor allem durch eines gekennzeichnet: Sie war auf der Suche nach neuen Feindbildern, um auf diese Weise wieder zur Selbstreflexion zurückzufinden. Dass dies mittelfristig nicht funktionieren kann, muss nicht erwähnt werden.

Es ist die politische Utopie, die als Bestandteil der abendländischen Kultur dieses selbstreflexive Potenzial bereits enthält. Wer sich mit Utopien auseinandersetzt, der betont das prinzipielle Recht auf Kritik (auch der besten Gesellschaft oder mit Leibniz der "besten aller möglichen Welten"), der verankert aber den Intellektuellen in der eigenen Herkunftsgesellschaft. Eine liberale Gesellschaft, die auf Visionen oder Utopien verzichtet, hat tatsächlich mit Fukuyama das Ende der Geschichte erreicht oder den Punkt, den Spengler noch prophetisch-polemischer als den Untergang des Abendlandes bezeichnete. Auch die so genannte Postmoderne ist nur deshalb moderner als die Moderne, weil es eine Vergangenheit gibt.

Doch überlassen wir das Schlusswort Oscar Wilde. Dieser schrieb in seinem Essay "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus": "Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn ihr fehlt das Land, das die Menschheit seit jeher ansteuert."

Andreas Heyer - Jg. 1974, Dr. phil., Politikwissenschaftler am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Politische Utopien der europäischen Neuzeit, Heft 151 (Mai 2003)

1 Die Perfidität der Argumentation von Fest ist in der Tat kaum zu übertreffen. Er setzt Utopien und die totalitären Regime nicht nur gleich, sondern begreift darüber hinaus den Nationalsozialismus als Antwort auf die russische Revolution. Diskreditiert sind damit bei ihm die Utopien, der Sozialismus, der Nationalsozialismus als Spielart des Sozialismus und die liberalen Systeme, da sie alle diese Entwicklungen erst ermöglichten. Nur der italienische Faschismus ist nach ihm keine Verirrung der Moderne. Fest schreibt: "Vielmehr bezog er (der italienische Faschismus, A. H.) aus dem Einst gerade sein Selbstbewusstsein, und hinter dem Pathos der römischen Größe, die Mussolini von den Hügeln der Stadt her beschwor, lag nur ein imperialer, kein auf die Rettung oder gar Erlösung der Welt gerichteter Ehrgeiz." Der italienische Faschismus wird so zur letzten Alternative, weil er angeblich keine Beglückungsstrategie mitliefere, sondern "nur" imperial orientiert gewesen sei. Joachim Fest: Der zerstörte Traum, Berlin 1991, hier S. 42.

2 Die Ausführungen von Morus seien an dieser Stelle ausführlich zitiert: "Das sind eure Schafe, sagte ich, die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber, wie man hört, so gefräßig und bösartig werden, dass sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. Denn überall, wo in eurem Reiche feinere und daher bessere Wolle erzeugt wird, da sind hohe und niedere Adlige, ja auch heilige Männer, wie einige Äbte, nicht mehr mit den jährlichen Einkünften und Erträgnissen zufrieden, die ihren Vorgängern aus den Landgütern erwuchsen. Es genügt ihnen nicht, müßig und üppig zu leben, der Allgemeinheit nicht zu nützen, sofern sie ihr nicht sogar schaden; sie lassen kein Stück Land zur Bebauung übrig, sie zäunen alles als Weide ein, reißen die Häuser ab, zerstören die Dörfer und lassen gerade noch die Kirchen als Schafställe stehen, und, als ob die Wildgehege und Tiergärten bei euch noch zu wenig Ackerboden beanspruchten, verwandeln jene edlen Leute alle Ansiedlungen und alles, was es noch an bebautem Land gibt, in Wüsten. Damit also ein einziger Prasser, in seiner Unersättlichkeit eine unheilvolle Pest für sein Vaterland, einige tausend Morgen zusammenhängenden Ackerlandes mit einem einzigen Zaun einfrieden kann, werden die Pächter vertrieben; durch Lug und Trug umgarnt oder mit Gewalt unterdrückt, werden sie enteignet oder, durch Schikanen zermürbt, zum Verkauf gezwungen." Quelle: Thomas Morus: Utopia, abgedruckt bei: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. Morus (Utopia), Campanella (Sonnenstaat), Bacon (Neu-Atlantis), Reinbek bei Hamburg 1993, S. 26.

3 Alexander Bogdanow: Der rote Planet. Ingenieur Menni. Zwei utopische Romane (1907, 1912), hrsg. von P. Rollberg, Berlin 1989. Bogdanow schrieb seinen ersten Roman wahrscheinlich auf Veranlassung Lenins, der durch diese Forderung das von Marx und Engels geforderte Utopieverbot zurückdrängte zu Gunsten von Visionen der Ausgestaltung zukünftiger sozialistischer Gesellschaften. Hinter dem Pseudonym Bogdanow verbarg sich Alexander Malinowski, neben Lenin einer der wichtigsten Führer der bolschewistischen Partei.

4 Jewgenij Samjatin: Brief an Stalin (1931). Hier schreibt er: "Für mich als Schriftsteller kommt der Entzug jeder Möglichkeit zu schreiben einem Todesurteil gleich, und die Umstände haben sich so zugespitzt, daß ich meine Arbeit nicht fortsetzen kann, denn in einer Atmosphäre systematischer, sich von Jahr zu Jahr verstärkender Verfolgung ist jegliche Art von schöpferischer Tätigkeit undenkbar. Ich will keinesfalls die beleidigte Unschuld spielen. Ich weiß, daß in den ersten 3-4 Jahren nach der Revolution unter den von mir verfaßten Sachen auch solche gewesen sind, die Anlaß zu Angriffen boten. Ich weiß, daß ich die unangenehme Eigenschaft besitze, nicht das zu sagen, was im gegebenen Moment genehm ist, sondern das, was ich für die Wahrheit halte." In seinem Essay "Das Ziel" hatte Samjatin bereits 1926 ausgeführt: "Will der Künstler die Leser erreichen, darf er nicht über die Mittel sprechen, sondern über das Ziel - über das große Ziel, dem die Menschheit zustrebt." Beide Zitate nach Jewgenij Samjatin: Werke in 4 Bänden, hrsg. von Karlheinz Kasper, Leipzig, Weimar 1991.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 168 (Oktober 2004), S. 878-884

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay - HELENO SAÑA: Ist der Mensch heute frei?; Utopie & Politik - ANDREAS HEYER: Plädoyer für politische Utopien; KARL-HEINZ GRÄFE: Von der Asternrevolution zur Räterepublik. Ungarn 1918/19; Gesellschaft - Analyse & Alternativen - ANDREAS KELLER: Die Universität als Unternehmen?; RUTH FREY, HELMUT WIESENTHAL: Die politische Partei als lernende Organisation; DDR historisch - WOLFGANG HARTMANN: MfS: Selbstbilder und Fremdbilder; RUDOLF SAUERZAPF: Die Vertreibung des Leo Kofler; Festplatte - WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften - Sahra Wagenknecht (Hg): Aló Presidente, Hugo Chávez und Venezuelas Zukunft (CHRISTIANE SCHULTE); Hannah Lund: "Die ganze Welt auf ihrem Sopha". Frauen in europäischen Salons. Band 16 der Schriftenreihe "Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft", hrsg. von Hanna Behrend (DETLEF KANNAPIN); Manfred Moldaschl und Friedrich Thießen (Hrsg.): Neue Ökonomie der Arbeit (ULRICH BUSCH); Theodor Bergmann: Gegen den Strom (MARIO KESSLER); Michael Mann: Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können (HARALD LANGE); Summaries