Mauerfall-Kinder.

Wie orientieren sich junge Ostdeutsche 15 Jahre nach der Wende?

Mauerfall-Kinder auf unsicherem TerrainNach dem Anschluß der östlichen Mauerfall-Kinder an die westdeutsche Demokratie stellte sich bald heraus, daß der Generationenvertrag, der hier all die ...

... guten Wirtschaftswunder-Jahrzehnte lang als Aufstiegsvertrag verstanden worden war, nun nicht mehr gelten sollte. Statt dessen, so wurde verkündet, könne es sich fortan nur noch um einen Vertrag der Schuldenübertragung und des Abstieges handeln. Zeitgleich begann auch die soziale Marktwirtschaft wieder Ausgrenzungen und Marginalisierungen in einem Ausmaß zu produzieren, das zuvor kaum noch vorstellbar gewesen war. Doch immer noch galt ein Universitätsstudium als der sicherste Weg für einen erfolgreichen Berufseinstieg und die Karriere wurde als wesentliches Feld der Lebensplanung verstanden. So stürmten seit 1990 viele der in den freiheitlichen Dschungel entlassenen östlichen Mauerfall-Kinder die ohnehin verstopften Hörsäle an westlichen Universitäten. Doch auch hier vernebelten sich die Zukunftsaussichten. Je mehr Absolventen auf den überlasteten Arbeitsmarkt strömten, desto deutlicher gerieten die Bildungszertifikate in einen Strudel der Entwertung. Für diejenigen, die kein Abitur nachweisen können, tendieren die Chancen auf einen attraktiven Ausbildungsplatz inzwischen gegen Null. Auf der Suche nach Ausbildung und Arbeit trieb es viele jungen Ostdeutsche bislang in den Westen, doch ist abzusehen, daß auch hier die Chancen schwinden. Das vielfach beschworene Ende der Arbeitsgesellschaft könnte die in den 80er Jahren geborenen Ost- und Westdeutschen schon in ähnlichem Maße treffen, doch ist davon auszugehen, daß die im Osten Geborenen aufgrund ihrer Umbruchserfahrungen über ein ausgeprägteres Sensorium der Krisenwahrnehmung verfügen.1 Die existentiellen Verunsicherungen hinsichtlich der Zukunftsaussichten treffen die heute 20-jährigen DDR-Geborenen noch immer eher und härter als ihre westlichen Altersgefährten. In weitaus geringerem Maße als die Wohlstandskinder im Westen können sie darauf zählen, daß Besitzstände ihrer Vorfahren sie über längere krisenbedingte Durststrecken hinweg retten werden. Dies betrifft nicht allein die materiellen Aspekte existentieller Absicherung, sondern in gleicher Weise jene Sicherheiten, die historische und kulturelle Verwurzelungen zu bieten vermögen. Das Land, in dem die jüngsten erwachsenen Ostdeutschen ihre ersten wesentlichen Prägungen erfuhren, entschwand um 1990 und hinterließ kaum Erinnerungsstücke. Die vergessene, von Eltern und Lehrern vielfach beschwiegene Kindheitswelt DDR, so erfuhren sie, war eine erstarrte, dem Untergang geweihte Diktatur, die mit einem friedlichen Aufstand des Volkes endete. Abgesehen von dieser gewaltlosen Revolution am Ende, bei der es sich unter Umständen auch nur um den unvermeidlichen Zusammenbruch einer zukunftslosen Staats- und Wirtschaftsform gehandelt haben mag, gibt es für die heute 20- bis 30jährigen Ostdeutschen kaum Ansatzpunkte, von denen aus sie eigene kulturelle Wurzeln positiv deuten könnten. Mehrheitlich fehlte ihnen infolge des Atheismus in der DDR auch die Gelegenheit, Beziehung zur christlichen oder einer anderen Religion auszubilden. Und schließlich wissen sie auch kaum noch etwas von den Utopien eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, von Hoffnungen und Träumen des Prager Frühlings, die viele ihrer Eltern und Lehrer nachhaltig geprägt und bewegt haben. Die kulturellen Verbindungen zu den eigenen Wurzeln, zu der versunkenen Welt ihrer Kindheit wurden gekappt. Erinnerungen an diese Welt erscheinen ihnen heute nicht selten so unwirklich wie ein absurder Traum. Könnte es sein, daß sich unter diesen Bedingungen infolge des 89er Umbruchs nochmals politisch markante, vielleicht sogar radikalisierte Formationen einer Jugendgeneration ausbilden werden, wie sie im 20. Jahrhundert wiederholt nach schwerwiegenden historischen Zäsuren (und zuletzt 1968) auftraten?2 Obwohl wir uns darüber im klaren waren, daß wir mit einer solchen Hypothese eher auf Skepsis als auf zustimmendes Interesse stoßen werden, entschlossen wir uns, unsere gewagte Vorannahme zumindest in Form einer offenen und vorsichtigen Frage aufrechtzuerhalten. Wir setzten voraus, daß sich der nächste Generationswechsel in Ostdeutschland vermutlich zwischen der um 1950 geborenen Nachkriegsgeneration und ihren im Umkreis der 1970er Jahre geborenen Kindern vollziehen wird, und rückten die Erfahrungen dieser beiden Alterskohorten sowohl retrospektiv fundierend als auch perspektivisch in den Fokus unseres Interesses. Fragen nach Spannungsfeldern und möglichen Eruptionsherden zwischen diesen Generationen schienen uns auch deshalb beachtenswert, weil den östlichen "Mauerfall-Kindern" der 1970er Geburtsjahrgänge, wenn man so will, gleich zwei unterschiedlich geprägte Elterngenerationen zur Verfügung standen, von denen sie sich bei Bedarf abstoßen oder an deren Erfahrungen sie anknüpfen könnten. Die leiblichen östlichen Eltern, deren intellektuelle und politische Protagonisten um 1989 häufig mit dem Selbstverständnis einer "89er-", im Sinne einer verzögerten 68er-Generation des Ostens, an die Öffentlichkeit traten, wurden von den sozialen Risiken, partiell aber auch noch von den Chancen des gesellschaftlichen Umbruchs, von Abwicklungen, Arbeitslosigkeit und beruflichen Neuanfängen in besonderem Maße getroffen.3 Das Entschwinden der DDR traf sie in der Mitte ihres Lebens, ihre Lebenserfahrungen und -leistungen schienen vielfach entwertet; und doch eröffneten sich für viele von ihnen auch nochmals zumindest scheinbar ungeahnte Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung. Auch die originalen, die westlichen 68er und die Post-68er der Nachkriegsgeneration zwang die Implosion des sowjetischen Imperiums zur Überprüfung ihrer Weltsichten. Von einer intellektuellen Linken war in der Folge kaum noch zu hören. Die Traditionslinien linker oder gar marxistisch orientierter Gesellschaftskritik, auf die sich viele ursprünglich berufen hatten, brachen gänzlich ab oder galten als nicht mehr vermittelbar. Ihre Kultur- und Karrieremuster hingegen, führende Positionen in der Gesellschaft blieben im Unterschied zu den ostdeutschen Nachkriegsgeborenen vom beschleunigten Wandel der Weltordnung seit 1989 weitgehend unberührt. Für die uns interessierenden Nachfahren der nach Kriegsende Geborenen, die wir die ostdeutschen Mauerfall-Kinder nennen, fiel der Sturz der bipolaren Weltordnung und das Ende der DDR mit den Turbulenzen ihres individuellen Erwachsenwerdens zusammen. Im Unterschied zu ihren Altersgefährten im Westen wurden sie von der anschließenden Umbruchskrise, von der kurzfristigen Umstürzung des gesamten Schulsystems ebenso wie von plötzlichen Abstürzen der Eltern in Arbeitslosigkeit oder aber auch von deren anstrengenden Aufbrüchen in berufliche Neuanfänge in besonderem Maße getroffen.4 Ihr holpriger Bildungsweg führte sie zunächst durch ein zusammenbrechendes diktatorisches und danach in ein kurzerhand über die Trümmer gestülptes demokratisches Bildungssystem, das aber ebenfalls schon unter den Lasten eines Reformstaus zu ersticken drohte.5

Louisa, Lena, Maxim - die Differenz der Generationen

Angesichts dieser Indizienlage spricht einiges dafür, bevorzugt unter den östlichen Kindern des 89er Umbruchs zumindest hypothetisch eine im doppelten Sinne verunsicherte und gestaute Generation zu vermuten. Während sie erwachsen wurden, verzog sich zunächst die gesellschaftliche Vergangenheit ins Dunkel des Vergessens, und wenig später breitete sich auch vor ihren Zukunftsaussichten eine Nebelwand aus. Offen bleibt die Frage, ob und in welcher Weise sich ein solcher Stau auflösen und dabei unter Umständen eine eruptive Mobilisierung hervortreiben könnte. Literarische Selbstporträts und Labels (wie Zonenkinder von Jana Hensel oder Generation Null von Jana Simon6), die der jungen Generation im Osten einen Namen zu geben versuchten, lassen sich als erste Selbstverständigungsversuche ohne klare Orientierung auf die Zukunft verstehen. Der Begriff der Generation steht zumindest in öffentlichen wie sozialwissenschaftlichen Debatten nach wie vor hoch im Kurs. Wenn es darum geht, individuelle Erfahrungen zum Gegenstand kollektiver Selbstverständigung zu machen, scheint der Terminus auch jüngeren Alterskohorten noch immer nützliche Dienste zu leisten. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach der Konstituierung sozialer "Wir-Gefühle" also, wie es in den Debatten über eigene und die Abgrenzung von anderen Generationserfahrungen zum Ausdruck kommt, ist in der Geschichte der Ostdeutschen zudem stark verwurzelt und wird offensichtlich auch von den Jüngeren nicht so schnell aufgegeben werden. Andererseits scheinen die heute 20- bis 30-jährigen Ostdeutschen aber auch weit davon entfernt zu sein, sich als eine politische Generation zu begreifen. Das Gerangel der Politiker, ihre Debatten und Wahlkämpfe betrachten sie aus größter Distanz. Allenfalls zeigen sie sich bereit, konkrete soziale oder ökologische Projekte zu unterstützen. Darin, wie auch in der Ablehnung rechts- oder linksradikaler Gewalt, scheinen sich zumindest die in Jugendstudien befragten Ost- und Westdeutschen mehrheitlich seit langem einig zu sein. Verfolgt man die Ergebnisse der Studien, die uns turnusmäßig über den Zustand "der Jugend" auf dem Laufenden halten, so scheinen sich die unter 30-Jährigen in Ost wie West standhaft unbeeindruckt zu zeigen von der Zuspitzung ihrer sozialen Lage. Eher sind es Vertreter der älteren Kohorten, Sozialforscher oder Politiker, die "die Jugend" als schwindende Minderheit in der deutschen Gesellschaft unter sorgenvolle Dauerbeobachtung stellen und düster in deren Zukunft blicken. Wann, so fragen sich Ältere, wird diese Jugend zurückschlagen, und sich weigern, immer mehr Alte und Altlasten zu tragen? Auf der Basis dieses insgesamt widersprüchlichen Argumentationsfeldes entschlossen wir uns, zunächst von der Wahrscheinlichkeit eines nahenden Generationswechsels nach traditionellen Mustern auszugehen, zugleich aber die Möglichkeit einzukalkulieren, daß unsere Vorannahmen durch unser erfahrungsgeschichtliches Material widerlegt werden könnten. Unsere Recherchen7 zielten auf Befunde zu Differenzen, Spannungsfeldern und möglichen Eruptionsherden im Verhältnis zwischen den von uns fokussierten Alterskohorten. Wir suchten Antworten auf die Fragen, wie sich ein Generationswechsel zwischen ihnen gestalten könnte, ob er lautlos friedlich verlaufen oder durch die spontane Mobilisierung von Generationseinheiten beschleunigt werden könnte, und mit welchen Orientierungen und Forderungen die Jüngeren den Älteren dabei entgegentreten könnten. Wir baten unsere Interviewpartner, ihre eigenen Erfahrungen und Positionen mit denen ihrer Vor- oder Nachfahren zu vergleichen und dabei zu versuchen, die eigenen Kinder bzw. Eltern, Studenten oder Lehrer nicht mehr als das "Eigene" (die "eigenen"), sondern eher als das "Fremde", als eine aus dem Eigenerleben heraus unbekannte oder unverständliche Erfahrungswelt zu beschreiben. Darüber hinaus forderten wir sie auf, ihre derzeitigen Weltsichten und Zukunftserwartungen von denen der jeweils anderen Generation und der herrschenden Eliten in der Gesellschaft abzugrenzen. Das Verfahren8 zielt auf möglichst präzise Aussagen über die Differenzen und Spannungen zwischen den Generationen. Unsere Auswahl setzte zunächst für die Eltern Kriterien. Wir suchten in Berlin, Leipzig und Jena - in Städten also, in denen Kulturszenen und Oppositionsgruppen der späten DDR bis in die Wendezeit hinein besonders lebendig gewirkt hatten - Interviewpartner, die zwischen 1945 und 1955 geboren und in der Umbruchphase um 1989 politisch, sozial oder kulturell aktiv geworden waren. Unsere Auswahl vereinigt Akteure unterschiedlicher politische Positionen und weltanschauliche Orientierungen. Wir interviewten ehemalige Sozialismus-Reformer, Bürgerbewegte, Vertreter der Bohème und kirchlicher Gruppen, aber auch Einzelgänger, die 1989 zu engagierten Demonstranten geworden waren. In der Mehrzahl handelt es sich um akademisch gebildete "Wendeakteure", die sich heute nur noch in Ausnahmefällen politisch aktiv betätigen. Insgesamt demonstriert unsere Auswahl, daß die Umstürze der gesellschaftlichen Verhältnisse die von uns untersuchte Elterngeneration der 1950er Geburtsjahrgänge tatsächlich mit besonderer Härte traf. Die Mehrzahl von ihnen durchlebte die Nachwendekrise der frühen 1990er Jahre als intensive und nachhaltig prägende Zäsur in ihrem Leben. In manchen Fällen folgten dem Umbruch schwere Krisen, körperliche oder seelische Zusammenbrüche, nicht selten auch die mehr oder weniger dauerhafte Erwerbslosigkeit. In anderen Lebensgeschichten, wie denen von Luisa und ihren beiden Kindern Lena und Maxim, führte die Zäsur zunächst zum Engagement und zur politischen Profilierung der Mutter in der Wendezeit und später zu einem Neubeginn in der beruflichen Selbständigkeit. Louisa wurde in den frühen 1950er Jahren in der DDR geboren. Die spätere intellektuelle Prominenz ihrer Eltern stattete Louisas Kindheit mit Privilegien aus, die ihr eher lästig waren. Erst nach dem Mauerfall fühlte sie sich auch in dieser Hinsicht befreit. Keiner mußte sie mehr um die "West-Bücher" beneiden, die sie ihr eigen nannte, und nur wenige nahmen sie noch als "Tochter von ..." wahr. Ansonsten aber erinnert sich Louisa an eine Kindheit voller Zuversicht. Erst 1968 mit den Panzern in Prag beginnt ihr Weltbild brüchig zu werden. Für Louisas Eltern wird der Einmarsch der Panzer in Prag 1968 zu einem der traumatischsten Ereignisse in ihrem Leben. Es bedeutet das Ende der Hoffnungen auf eine sozialistische Zukunft, an die sie ihr Leben gebunden hatten. Dennoch glauben sie, und mit ihnen die heranwachsende Tochter, noch lange, auf der richtigen Seite der Mauer zu leben. Als Garant dieser Überzeugung gilt Louisa, wie ihren Eltern, der Antifaschismus, den die Gründungsväter der DDR für sie durchgesetzt hatten. Louisa heiratet früh und wird bald selbst Mutter. Doch auch nachdem Tochter Lena 1972 zur Welt gekommen ist, fällt es ihr lange schwer, dem moralischen Schwergewicht der Mutter ein selbstbewußt unabhängiges Leben entgegenzusetzen. Die Last der Tragödien vorangegangener Jahrzehnte scheint Louisas Mutter mit Verantwortung und Leistung abzuarbeiten. Eine offene Rebellion gegen die Mutter wagte sie nicht, weil ihr Schicksal der Schonung bedurfte und ihre Leistungen Respekt einforderten. Für ihre eigene Familie wünscht sich die junge Louisa jedoch ein unbelasteteres, optimistischeres und glücklicheres Leben. Sie liest die Bücher über antiautoritäre Erziehung, die bei ihren Altersgenossen jenseits der Mauer Konjunktur hatten. Sie beginnt, Psychologie zu studieren. Mit ihren neuen Ideen zum Umgang zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen vermag sie endlich auch ihre Mutter zu beeindrucken. Frisch informiert über die freiere Kindererziehung schreibt die Mutter damals an eine Freundin: "Meine Güte, wie verklemmt waren wir doch in den fünfziger Jahren! Und wie schwer fällt es uns, schreibend damit fertig zu werden." Nach dem erfolgreichen Abschluß ihres Studiums arbeitet Louisa dann 16 Jahre lang (bis zum Ende der DDR also) in einer Klinik. Während sie beobachten muß, wie ihre Mutter mehr und mehr zu einer Zweiflerin und Pessimistin wird, baut sie selbst ihre Nischenräume eines selbstbestimmten, optimistisch gesinnten Lebens aus. Sie liebt ihren Beruf, pflegt den Kreis der Freunde und genießt 1979 die Ankunft eines zweiten Kindes. Die folgenden Jahre dann schreiben sich in Louisas Gedächtnis jedoch als eine "bleierne Zeit" ein, in der sich der selbst verordnete Optimismus immer schwerer aufrechterhalten läßt. Sie erinnert die 1980er Jahre als eine Lebensphase wachsender Entfremdung von der Gesellschaft und als eine Zeit, "die sich die Geschichte hätte sparen können". Louisa ahnt, daß die wachsende Müdigkeit, die sie verspürt, gesellschaftliche Ursachen haben könnte. Ein Essay von Vaclav Havel vermittelt ihr Einsichten in den Zustand einer Diktatur, die in ihr "post-totalitäres" Stadium eingetreten ist. Man leide nicht mehr an Mord und Totschlag wie in den Hochphasen des Stalinismus, sondern am "Asthma", einer alles durchdringenden Atemnot. Um sich Luft zu verschaffen, stellt Louisa gegen Ende der 1980er Jahre Kontakte zu oppositionellen kirchlichen Gruppen her. Doch auch hier löst sich der Druck auf ihr Gemüt nicht auf. Jeder Widerstand erscheint zwecklos, und so entschließt sie sich 1989, wie viele ihrer Freunde zuvor, die Ausreise aus der DDR zu beantragen. Genau in diesem Moment gerät die erstarrte Welt, der Louisa gerade entfliehen will, ins Schleudern. Nun entschließt sie sich, dem Neuen Forum beizutreten, und engagiert sich als "Bürgerbewegte". Plötzlich und nur einen kurzen historischen Moment lang fallen alle Fremdheitsgefühle gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt von ihr ab. Mit Zuversicht stürzt sie in das aufregende Abenteuer, "sich einer eigenen gesellschaftlichen Realität und Öffentlichkeit zu bemächtigen". Mit ihr scheint ein ganzes Volk dabei zu sein, sich aus der Entfremdung von sich selbst durch eine herrschende Kaste zu befreien. Das Glück dieser Monate entschädigt für all die zuvor erlittenen Depressionen. 1991 kündigt Louisa ihre Stelle im Krankenhaus und bildet sich auf dem Gebiet der Psychoanalyse weiter. Als Analytikerin gründet sie eine eigene Praxis, fährt zu internationalen Kongressen, schreibt Artikel für Zeitungen und beteiligt sich an deutsch-deutschen Buchprojekten. Freiheit und Demokratie sind wichtige und sichere Wertbegriffe in ihrem Denken geworden, sie ist zufrieden, nur manchmal würde sie sich gerne etwas mehr einbringen können in die Gesellschaft. Gelegentlich fühlt sie sich gegenüber ihren westlichen Kollegen noch immer als eine "Nachholende". In ihren Publikationen schreibt sie über eine Generation, für die die friedliche Selbstbefreiung aus der DDR 1989 zur wichtigsten Zäsur und zum beglückendsten Ereignis wurde. Es ist ihre eigene Generation, und sie nennt sie die "Achtundsechziger der DDR". Im Unterschied zu ihrer Mutter betrachtet die 1972 geborene Tochter Lena die Umbruchsereignisse um 1990 und das Verschwinden der DDR nicht als Bruch in ihrer Lebensgeschichte, sondern als deren eigentlichen Beginn. Das Land, in dem sie geboren wurde, ging unter und hinterließ kaum Spuren; rückblickend kommt es ihr gelegentlich so unwirklich vor, als hätte sie nur davon geträumt. Nicht sie, so stellt sie klar, sondern ihre Eltern hätten 1989 einen Bruch in ihrer Geschichte vollzogen. Auch in diesem Sinne fühlt sich Lena einer ostdeutschen Alterskohorte zugehörig, die sie "Generation Null" nennt. Als die Mauer fiel, entfernte sich Lena schnell aus ihrem östlichen Herkunftsmilieu. Lange zuvor schon waren ihre Lebenswünsche und Hoffnungen in den Westen ausgewandert. Sie stürzt befreit in einen Konsum- und Reiserausch, studiert in London und Moskau und arbeitet als Reporterin. Anders als Mutter Louisa, in deren Leben Arbeit und Beruf stets ernste und wichtige Angelegenheiten waren, achtet die Tochter dabei peinlich auf ein ausgewogenes Verhältnis von Anstrengung und Vergnügen. Die sozialen Erfahrungen, die Lena wichtig erscheinen, entstammen überwiegend der Nachwende-Ära. Ost-West-Differenzen im Prozeß deutsch-deutscher Annäherungen gehören zu den von ihr bevorzugten Themen. In ihrem Lebensstil, ihrem freudig bekennenden Hedonismus und dem Interesse am beruflichen Erfolg unterscheidet sie sich kaum von den im Westen geborenen Altersgenossen. Dennoch spürte Lena schon früh, daß sie von anderen Positionen aus auf die Welt blickt. Wenn der junge westdeutsche Star-Autor Florian Illies etwa den 11. September zum ersten gemeinsamen Schlüsselerlebnis der Nachwendejugend erklärt, kann sie dem nicht folgen. Sie selbst nahm das Ereignis als ein Medienspektakel wahr, das auf eine Katastrophe folgte. Lena leitet die Grunderfahrungen ihrer Generation aus anderen Problem-Komplexen ab; der Arbeitslosigkeit etwa, der Umweltproblematik oder dem drohenden Kollaps des Sozialstaates. Während sie sich in früher Jugend davon angetrieben fühlte, die Mauern ihres Herkunftslandes rasch hinter sich zu lassen, um möglichst schnell und spurlos im Westen anzukommen, besteht sie nun als junge Erwachsene auf der Besonderheit ihrer Herkunft. Im Unterschied zu seiner älteren Schwester beschränken sich die DDR-Erfahrungen von Louisas Sohn Maxim (Jahrgang 1979, Student der Musikwissenschaft) auf das Ende der "bleiernen" Zeit in den 1980er Jahren. Mangel an Konsumgütern, vorenthaltene Reisefreiheiten und brennende Sehnsüchte, die aschgrauen DDR-Mauern zu überwinden, kommen in seinen Erinnerungen nicht mehr vor. Wenn er auf den DDR-Teil seiner kurzen Biographie zurückblickt, fällt ihm zunächst kaum Nennenswertes ein. "Vielleicht", resümiert er schulterzuckend, "war es so etwas wie ... ein Überleben in feindlicher Außenwelt". Als Beleg führt er ein Beispiel für den "Kindergarten-" und "Volksbildungshaß" der erwachsenen DDR-Bürger an. Wenn man im Kindergarten etwas verbockt hatte, erinnert er sich, mußte man raus, vor die Tür und hielt das für normal. Wenn man davon zu Hause erzählte, war es eine Katastrophe, die die Eltern dem feindlich autoritären Regime anlasteten. Familie und Freunde galten den Erwachsenen als Schutzraum gegen diese feindlichen Mächte, die Maxim selbst allerdings nie so recht zu verorten mochte. Für ihn gehörten Fahnenappelle und Pioniernachmittage zu den Selbstverständlichkeiten seiner Kindertage. Als Maxim zehn Jahre alt wurde, ereignete sich dann eine große Wende, die solchen alltäglichen Gewohnheiten bald ein jähes Ende bereiten sollte. Zunächst aber kündigten sich die Veränderungen dadurch an, daß die Eltern plötzlich auflebten und das häusliche Klima mit euphorisierenden Glanz umhüllten. Am Küchentisch versammelten sich Abend für Abend erregte Menschen und versetzten auch Maxim allmählich in einen Zustand freudiger Aufregung. Als die Mauer gefallen war, besuchte er dann exotisch duftende Konsumpaläste, die vor Buntheit und Fülle überquollen. Aus dieser ungeahnten Pracht heraus klaute ihm sein Vater ein kleines begehrtes Spielzeug; einen "Batman-Anstecker". In Maxims Erinnerung wird diese heldenhafte Geste des Vaters wohl das berührendste Ereignis der Wendezeit bleiben. Wenig später schon retteten die Eltern Maxim vor dem Nachwende-Chaos und schickten ihn auf eine Schule im Westen. Hier erfuhr er schnell, mit welch gravierenden Unterschieden zwischen Menschen östlicher und westlicher Herkunft man von nun an zu rechnen hatte. Die Schüler aus West und Ost lebten in streng getrennten Gruppierungen. Das schweißte einen Freundeskreis von Ostgeborenen zusammen, dem er noch heute die Treue hält. Seit Maxim studiert, lebt er mit Freunden in einer WG und engagiert sich bei attac. Obwohl er seine ältere Schwester Lena bewundert, kommt deren Lebensstil für Maxim nicht in Frage. Lebenswünsche, die auf Karriere oder Konsum zielen, sind ihm fremd. Sein Leben, darin ist er sich sicher, wird sich jenseits des verbreiteten "Erfolgs- und Konsumwahns" abspielen. Wie die Schwester schätzt und liebt Maxim seine Eltern, fühlt sich aber auch von ihnen oft unverstanden. So bleibt ihm unverständlich, warum sie nicht begreifen, daß Demokratie und Marktwirtschaft ebenso dringend einer radikalen Kritik bedürfen wie einst das von ihnen verabscheute DDR-Regime. Auch über die Vergangenheit kann er sich mit ihnen kaum verständigen, weil sie sich schlicht weigern, mit ihm über solche Themen zu diskutieren. Dabei müßte es in seinen Augen doch auch für sie bedeutsam sein, Unbewältigtes zu verarbeiten, wo doch gerade ihre DDR-Generation durch den friedlichen "Aufbruch in den Kapitalismus" mindestens ebensoviel verloren wie gewonnen hat. So gab es, wie Maxim sich erinnert, in seiner frühen Kindheit viel mehr Aufmerksamkeit und Zeit zwischen den Menschen. Heute dagegen verschlingen Ängste um den Arbeitsplatz und die Sorgen ums Geld so viele menschliche Energien, daß kaum etwas übrigbleibt für Wesentlicheres. Doch mit solchen "kapitalismuskritischen" Agitationsversuchen stößt Maxim im Elternhaus beständig auf taube Ohren. Mein Thema, hält Mutter Louisa hartnäckig dagegen, ist nicht die Kritik am Kapitalismus, mein Thema war das Ende der DDR. Die positiven Wertbegriffe der Mutter hingegen, Freiheit und Demokratie, werden von Maxim eher skeptisch betrachtet. Sie erscheinen ihm als leere Floskeln und als schöner Schein, hinter dem die Wirklichkeit versteckt wird. Die Menschen werden, wie er meint, beruhigt durch solche Inszenierungen der Politik. Auch er wünscht sich Beruhigung, vor allem in einer Familie mit Kindern und mit seinen Freunden. Doch gelingt es ihm kaum, sich der zudringlichen Welt des Kapitalismus zu entziehen, die er für bekämpfenswert hält. Dies, so scheint ihm, unterscheidet ihn von den Älteren ebenso wie von den westgeborenen Altersgefährten. Wenn schon Demokratie, dann müßte es, stellt sich Maxim vor, eine "radikale Demokratie" sein, eine, die wirklich ,von unten‘ ausgeht. Eine kluge Frau, die er bei attac kennen und schätzen lernte, hat ihm erklärte, daß so etwas schon fast ein "besserer Sozialismus" wäre, aber vom Sozialismus versteht Maxim nichts. Von Radikalität allerdings, vor allem dann, wenn sie sich auf die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart bezieht, hat er genauere Vorstellungen. Deshalb wohl gehört ,radikal‘ zu den positiv besetzten Lieblingswörtern in seinem Erzähltext. Auf der Suche nach konkreterer Orientierung spürt Maxim den Wurzeln seiner Geschichte nach. Erst langsam begreift er, wie "kraß" die Lebensgeschichten seiner Vorfahren verlaufen sind. Daß ihm dies so spät bewußt wird, verbucht er auf das eigene Konto. Seine ganze Familie hat Bücher geschrieben, er selbst hat kaum eins davon gelesen. Wie viele seiner Freunde liest er generell "extrem wenig". Maxims väterliche Oma in Prag, die er die "Kümmer-Oma" nennt, war als blutjunges jüdisches Mädchen in Auschwitz und entkam dem Holocaust nur knapp. Nach Maxims 18. Geburtstag wollte sie mit ihm in die Staaten fliegen, dafür gab sie ihm selbst Englisch-Unterricht. Als die Erfüllung dieses amerikanischen Traumes unvermutet leicht möglich wurde, ging Maxim allein für ein Schuljahr in die USA, erlebte diese Zeit aber eher als Alptraum. Seine Großmutter mütterlicherseits, die er "Geschenke-Oma" nennt, war im BDM und ließ sich später, wie er sagt, bald "von der SED vereinnahmen". Beide Großmütter waren eng befreundet. Maxim glaubt, daß aus solchen dramatischen Vorgeschichten vieles auf ihn übertragen worden ist, was er noch lange nicht zu durchschauen vermag. Während seine Schwester nach 1989 die Vergangenheit befreit hinter sich ließ und sich dem Westen als Herausforderung und Zukunft mit ungeahnten Perspektiven zuwandte, funktioniert dieselbe Himmelsrichtung für Maxim nicht mehr als Wegweiser. Offensichtlich benötigt er im Unterschied zu Lena neue, noch unbekannte Gewißheiten über Vorgeschichten und Zukunftsaussichten, um den eigenen Weg zu finden. Besser als mit den Eltern kann er mit der Großmutter mütterlicherseits über die Ungeklärtheiten seiner Lage kommunizieren. Sie betrachtet die Zukunft "globaler und pessimistischer" als die Eltern, wie er selber auch. Seine Oma versteht ihn offensichtlich so gut, daß sie selbst Veränderungen seiner Körperhaltung zu deuten versteht. Anhaltende Verkrampfungen im Schulterbereich kommentierte sie etwa mit dem Satz: "Das geht zur Zeit vielen so, die Menschen haben zu viel Unruhe in sich und können nicht mehr tief durchatmen." Daß sie das bemerkte, ohne daß etwas erklärt werden mußte, hat Maxim tief beeindruckt.

Neue kritische Weltsichten - Wohin treiben die Differenzen zwischen den Generationen?

Für eine Analyse der Differenzen zwischen den von uns untersuchten Generationen erscheint unser Fallbeispiel - vor dem Hintergrund anderer Gespräche in vergleichbaren Familienkonstellationen - nahezu idealtypisch. Die Positionen zwischen Mutter und Kindern, aber auch die zwischen den Geschwistern heben sich fast prototypisch voneinander ab. Besonders deutlich zeichnen sich die Unterschiede zwischen den Geschwistern ab, wenn über das Verhältnis zu den Eltern und über die eigenen (oder andere) Erfahrungen und Orientierungen gesprochen wird. Die unterschiedlichen Erfahrungen in den Lebensverläufen von Lena und Maxim erscheinen auch deshalb beachtenswert, weil sie sich in Geschwister-Konstellationen unseres empirischen Materials wiederholt in ähnlicher Weise abzeichnen. Solche Befunde verweisen darauf, daß zwischen den um 1970 und den um 1980 geborenen Ostdeutschen ein Schnitt zu vermuten ist, der unterschiedliche Prägungsereignisse und soziale Erfahrungen voneinander trennt. Die Befreiung aus der Diktatur und der Systemumbruch um 1990 traf die zu Beginn der 1970er Jahre Geborenen in einer Lebensphase, in der sie schon auf Erfahrungen mit dem Mangel und den Beschränkungen ihrer gesellschaftlichen Lebenssituation im Vergleich mit der reicheren und reisefreien westlichen Gesellschaft zurückblicken konnten. Unbelasteter als die Älteren, entflohen sie einer abgeschlossenen Vergangenheit und machten das Konzept der nachholenden Modernisierung nach westlichem Vorbild zu ihrem individuellen Lebensprogramm. Bevorzugt studierten sie im westlichen Ausland und reisten um die Welt, solange es sich nur irgendwie finanzieren ließ. Die Lebenswege der heute 30jährigen Ostdeutschen zeichnen sich damit häufig durch eine Dynamik aus, die durch die Energien eines entschiedenen Anpassungswillens an westliche Lebensformen gespeist wurde. Dabei entfernten sie sich früh und schnell von den Eltern, deren Erfahrungen und Ansichten ihnen überholt und wertlos geworden schienen. Mit dem Selbstverständnis und dem Elan sozialer Aufsteiger eigneten sie sich die westliche Lebensform gründlich an. Begünstigt vom Wirtschaftsboom der 1990er Jahre schienen ihnen dabei soziale und professionelle Aufstiegskanäle unbegrenzt offenzustehen. Als junge Erwachsene verstehen sie sich im Unterschied zu älteren DDR-Geborenen als die erste östliche Generation, der es gelang, in der westlichen Kultur anzukommen. Die so gewonnene Souveränität ermutigt sie nun als junge Erwachsene auch zur Distinktion im Vergleich mit westlichen Altergefährten. Sie entdecken Unterschiede in den Prägungen, die durch die Aneignung der westlichen Lebensweise offensichtlich nicht auszugleichen waren. Erst im Rückblick wird ihnen langsam bewußt, daß sie ihre Vergangenheit in der Turbulenz der neuen Herausforderungen abgestreift haben wie zu eng gewordene Kinderschuhe. Dort, wo ihre westgeborenen Freunde eine Welt der Kindheitserinnerungen vorzuweisen haben, klafft in ihrem Fall häufig ein dunkles Loch des Vergessens. Im Unterschied dazu zeichnen sich unter den jüngeren, um 1980 Geborenen häufig lange pubertäre Latenzphasen und fortwährende Anhänglichkeiten an ihre Herkunftsmilieus ab. Mangel, gesellschaftliche Erstarrung und Ummauerung kommen in ihren Erinnerungen an die DDR kaum mehr vor. Statt dessen schrieb sich das frühe und plötzliche Verschwinden ihrer Kindheitswelt als Prägungserlebnis in ihr Gedächtnis ein. Als Pubertierende beobachteten sie die Traumata einer überstürzten gesellschaftlichen Transformation, erlebten die Orientierungskrisen ihrer Eltern und Lehrer, das strukturelle Umbau-Chaos in den Schulen und den Zerfall der schützenden sozialen Netzwerke. Die Zeit der Nachwende-Krise, so scheint es, wurde zum Prägungsereignis dieser ostdeutschen Altergruppe. In einer Gefühls-Melange aus Verunsicherung und Genuß erinnern sie sich an eine, wie sie es nennen, "anarchistische Phase", die die Geschichte ihrer späten Kindheit vergönnte, ihnen aber den frühen Verlust sozialer und kultureller Verwurzelung einbrachte. Als Heranwachsende sahen oder sehen sie sich mit einer Welt konfrontiert, in der sich die Ungewißheiten verdichten. Im Unterschied zu den älteren Geschwistern, für die überzeugende Orientierungen auf eine abgeschlossene Vergangenheit und eine Beteiligung an der gesellschaftlichen Zukunft noch bereitzustehen schienen, verorten sie sich selbst in einem Zustand metaphysischer Obdachlosigkeit, der sie zur Suche nach neuen Selbst- und Weltdeutungen antreibt. Im Unterschied zu westlichen Altersgefährten und zu ihren älteren Geschwistern, deren Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der vorgefundenen Institutionen ihnen ungebrochen erscheint, nehmen sie an sich selbst eine stärkere Distanzierung von der Gesellschaft wahr. Eine solche Distanz wird bewußt angestrebt, weil sie Perspektiven auf Welt- und Selbstorientierungen außerhalb etablierter Wertsysteme und Kulturmuster zu eröffnen verspricht. Im Gegensatz zu ihren Eltern und Lehrern, deren Selbstvertrauen im Umbruch häufig beschädigt wurde, verweisen sie mit Stolz darauf, beim Untergang einer Welt schon einmal dabeigewesen zu sein. Im Sinne eines solchen Erfahrungsvorsprungs bestehen diese jungen Ostdeutschen auf einer Ost-West-Differenz, fühlen sich zugleich aber in ihrem Drang zur Neuorientierung von Eltern wie westlichen Altersgefährten unverstanden. Auf ihren Suchwegen nach neuen Ansätzen schlagen diese jungen Ostdeutschen unterschiedliche Richtungen ein. Während die einen das eigene Orientierungsvakuum in festgefügten Strukturen der Bundeswehr oder studentischen Verbindungen zu überwinden suchen ("Ordnungssucher"), wenden sich andere östlichen Reisezielen und Religionen zu oder suchen Sinn in sozialen Projekten ("Sinnsucher"). In vielen Positionen zeichnet sich ein ausgeprägtes Interesse an selbstbestimmten Gemeinschaftsformen ab, die im Umkreis privater Clubs und Freundeskreise erschaffen werden ("Gemeinschaftsstifter"). Dabei sind die Rückbezüge auf eine institutionell gesicherte Ordnung oder die aufgeladenen Sinn-Botschaften aus ihrer Kindheit in der DDR (Familie, Freunde, Verläßlichkeit, Alltagssicherheit) ebenso unübersehbar wie die verlorenen Gemeinschaftsgefühle in der staatlich bedrängten Nahwelt. In ihren Deutungen der jüngsten Geschichte, mit der sie sich intensiver beschäftigen als die Älteren, zeichnen sich überraschende neue Zugriffe ab. Ein Perspektivwechsel deutet sich an, wenn östlich geprägten Eltern und westlichen Eliten dieselben Prägungen zugesprochen werden. Die wissenschaftlich-technische Revolutions- und Technikgläubigkeit der 1960er Jahre, so eines der Urteile, machte aus ihren Vorfahren eine Generation der Utopisten und "Illusionisten", die 1968 im Westen ebenso am Start waren wie 1989 im Osten. Der Glaube an die Gestaltbarkeit der Welt und die Hoffnung auf eine Zukunft in Wohlstand und Freiheit (für alle), die ihre Eltern noch beseelten, erscheint östlichen Nachfahren als Leitfaden und Ziel der Geschichte offensichtlich kaum mehr vermittelbar. Tendenziell richten sich ihre Ablehnung und ihr verbaler Protest in erster Linie gegen die Führungseliten westlicher Prägung, während sie die Verständigung mit ihren östlichen Eltern, vor allem über die dunklen Sphären beschwiegener Vergangenheiten, eher suchen. Angezogen fühlen sie sich aber vor allem von den prägenden Erfahrungen ihrer Großeltern. Hier, in den Erinnerungen an Krieg, Flucht und Vertreibung, finden sie jene Ereignisse, die ihnen bedeutsam erscheinen. Dabei rücken immer wieder Situationen ins Zentrum des Interesses, die ihnen mit eigenen Erfahrungen kompatibel zu sein scheinen: In eine Welt geworfen zu sein, in der man sich nicht mehr orientieren kann, ziellos umherirrt und darauf angewiesen ist, den Weg selbst zu finden. Befunde wie diese erscheinen uns wichtig, verweisen sie doch auf jene neuralgischen Punkte, an denen die Kluft in den Welt- und Selbstdeutungen der Generationen aufbrechen könnte. Ging unser Forschungskonzept, inspiriert vom Generationenverständnis Diltheys und Mannheims, ursprünglich davon aus, daß sich (wenn überhaupt) eine zu erwartende neue Deutungsmacht zuerst unter den am Beginn der 1970er Jahre Geborenen abzeichnen würde, so wendet sich unser Interesse nun den häufig noch diffusen kulturellen Ausprägungen einer jüngeren Alterskohorte zu, bei der die Erfahrungsdifferenzen zwischen Ost und West, wie auch die zwischen den Generationen, deutlichere Konturen anzunehmen versprechen. In einzelnen Fällen jüngster ostdeutscher Mauerfall-Kinder, in denen eine ausgeprägtere politische Positionierung und eigenständige Interpretationen sichtbar werden, deuten sich also mögliche Stoßrichtungen gegen die Deutungssysteme der Generationsvorgänger an. Dabei wird die Krise des Wohlfahrtsstaates nicht mehr als eine ökonomische oder soziale, sondern grundsätzlicher als Krise der "Fortschrittsgläubigkeit" verstanden. Der Angriff richtet sich also gegen Verblendungen durch "Utopien der Weltbeglückung" aller Richtungen. Die Vorwürfe gelten zugleich der Verleugnung einer Realität, in der die Zukunft keine Hoffnung mehr ist und die Herrschaft des Geldes die kulturelle Errungenschaften der Moderne zu zerstören droht. In kulturkritischen Reflexionen dieser Art, so vage sie bislang Kontur annehmen, erinnern die um 1980 geborenen jungen Ostdeutschen insgesamt eher an Schelskys "skeptische Generation" als an die rebellierenden 68er. Ob solche grundsätzlich kritischen Positionen emergente Potentiale in sich tragen, die sie zu künftigen Generationspositionen qualifizieren, läßt sich schwer voraussagen. Unsere Untersuchungen deuten bislang auch nicht darauf hin, daß sich hierbei eine eindeutige Polarisierung oder Radikalisierung der Positionen vollzieht. Am ehesten kann zwischen verschiedenen Strategien der Unsicherheitsbewältigung unterschieden werden, wobei der beschriebenen radikal kritischen Ausprägung eine pragmatische gegenübersteht, die auf moderate Verhandlungen mit Eltern und politischen Entscheidungsträgern setzt. Grundsätzlich erscheinen uns die Kritik-ansätze zunächst deshalb bedeutsam, weil sie die Selbst- und Weltinterpretationen der ostdeutschen Eltern, die wir in verschiedenen sozialen Milieus untersuchten, an wunden Stellen treffen. Aus der Perspektive der kritischen Nachkommen wird deutlich, daß die Utopie eines hochmodernen, liberalen und sozial gerechten Sozialismus, die sich im Prager Frühling zur sozialen Bewegung entfaltet hatte und in den Theorien und sozialen Zielvorstellungen vieler ostdeutscher DDR-Nachkriegsgeborener weiterwirkte, nach 1989 nie einer kritischen Überprüfung an der gewandelten sozialen Wirklichkeit unterzogen wurde. Wenn die in den 1950er Jahren geborenen Ostdeutschen ihre Geschichte als die einer politischen Generation deuten, die 1989 die Befreiung aus der Diktatur erkämpfte, dann setzen sie sich damit einerseits von ihren stalinistisch geprägten Vorgängern aus der DDR-Gründergeneration ab, definieren sich andererseits aber als Agenten einer, in der späten DDR vorbereiteten und am Vorbild der westlichen 68er Generation orientierten, kulturellen Modernisierung. Aus dem Blickwinkel der jungen Kritiker kollidieren solche Konstrukte mit einer Realität, in der die sozialen und kulturellen Folgen der Modernisierung kaum noch kalkulierbar erscheinen.

Anmerkungen

1 Die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft wird unter ostdeutschen Sozialwissenschaftlern häufig und vehement vertreten. Zuletzt zeigte sich dies in heftigen Debatten um Wolfgang Englers Buch Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002. 2 Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen, in: Ludwig von Friedenburg (Hg.), Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln 1976, S. 23-48. 3 Zum Selbstverständnis der um 1950 in der DDR geborenen Wendeakteure als "68er des Ostens" vgl. u.a. die Aufsätze der Psychoanalytikerin Annette Simon zum Thema. in: Simon, Annette u. Faktor, Jan: Fremd im eigenen Land, Gießen 2000. 4 Mit einer ähnlichen Einschätzung begründete schon Claus Leggewie seine Erwartung, daß namentlich den in den 70er Jahren geborenen, jüngsten Ex-DDR-Bürgern eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung einer politischen Generation zu Beginn des neuen Jahrtausends zuwachsen könnte; vgl. Leggewie, Claus: die 89er. Porträt einer Generation, Hamburg 1995, S. 27ff. 5 Zur Situation an den deutschen Universitäten der frühen 90er vgl. Beck, Ulrich: Geisterbahnhof Universität, in: Ders. u.a., Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1995, S. 109-113. 6 Dazu: Simon, Jana: Denn wir sind anders, Reinbek 2001; Hensel, Jana: Zonenkinder, Reinbek 2002. 7 Einen Grundpfeiler unseres empirischen Materials bildeten derzeit lebensgeschichtliche Interviews, in deren Mittelpunkt wir zunächst die innerfamiliären Beziehungen zwischen den uns interessierenden ostdeutschen Alterskohorten stellten. Sukzessive erweiterten wir unser Untersuchungsfeld auf die Betrachtung intergenerationeller Verständigungen und Spannungen in den Bildungsinstitutionen Schule und Universität. Zur Zeit liegen uns insgesamt ca. 120 solcher Interviews aus verschiedenen sozialen Milieus vor. 8 Die Oral History erschien uns dabei als ein besonders geeignetes Instrumentarium, hatte sie sich doch ursprünglich an Gegenständen Differenz-Wahrnehmung zwischen Eigenem und Fremdem, also etwa an Untersuchungen fremder Ethnien und Klassen oder sogar oraler Kulturen ausgeprägt. Für mich als Interviewerin und Vertreterin der von uns untersuchten älteren Generation erwies sich das Verfahren als effektiv. Selten habe ich so viel über meine Eigenarten und die meiner Generation erfahren wie in den Fremdwahrnehmungen der jungen Leute, mit denen ich sprach. Dr. Tanja Bürgel, Kulturwissenschaftlerin, Friedrich-Schiller-Universität Jena aus: Berliner Debatte INITIAL 15 (2004) 4, S. 16-25