Körper unterm Messer

Vom Schönheitschirurgen zum Man-Eater

Die Profis der Nation grübeln, was mit freizusetzenden Arbeitskräften der IT-Branche geschehen soll, aber diese Ein-zu-Eins-Umsetzung forderte Kommissionschef Peter Hartz nicht: Daß ein Siemens-Computerspezialist nach Online-Vermittlung in Magen und Kühltruhe einer nordhessischen Ich-AG verschwindet, deren Inhaber als Zeitsoldat der Bundeswehr das Töten lernte, bevor er sich als Computerspezialist selbständig machte. Auch Verbraucherschützerin Künast meinte Anderes, als sie im BSE-Januar 2002 uns zur radikalen Abkehr von alten Eßgewohnheiten aufforderte.

Über Nazi- und andere Haßseiten im Internet hörte man während des Aufstand der Anständigen, aber daß es auch Snuff-Sex-Seiten wie das Cannibal Cafe Forum (seit Wochenende „temporatily closed“) gibt, überraschte diejenigen, die nur die Hänsels Fleisch begehrende Hexe der ebenfalls in Nordhessen beheimateten Brüder Grimm kannten.

Nordrhein-Westfalen bringt gerade mit der Liberalisierung von Beerdigungsvorschriften die Bestattungsindustrie in Aufruhr. Kommunen in Finanznot könnten, statt Krematorien zu betreiben, den Blick in andere Regionen lenken: Yanomani-Indianer in den Amazonas-Wäldern verbrennen ihre Toten und rühren die Asche in Bananensuppe. Wissenschaftler beobachten im Tierreich Partnerschafts-Kannibalismus nicht nur bei der Schwarze-Witwe-Spinne: Ich hab Dich zum Fressen gern - war’s schon Talk-Thema? Gibt es ungeahnte Hintergründe für die Klage des Einzelhandels über dramatische Umsatzeinbußen? Sind trotz Verkaufsrückgang bei Negerküssen die Kannibalen doch nicht auf Nulldiät, wie einst Heidi Peter-Röchers Buch „Mythos Menschenfresser“, das den Zusammenhang von fremdenfeindlicher Verleumdung und Unterdrückung darstellte, zu entnehmen war?

Die Bild-Zeitung als Oberpsychiater der Nation mahnt: Vorsicht vor Alleinerziehenden - Täter war Muttersöhnchen! Vorsicht vorm Infragestellen traditioneller Geschlechterrollen - Opfer verspürte transsexuelle Gelüste!

Die kannibalistische Tat ist so unzeitgemäß nicht. Die Motivsuche begann Götz George, der im Film „Der Totmacher“ (1995) die Protokolle der Vernehmung Fritz Haarmanns nachsprach („Ist nicht viel, so ein Mensch“). 1992 ließ „konkret“-Mitarbeiter Matthias Altenburg seinen Romanerstling „Die Liebe der Menschenfresser“ in hessischer Provinz spielen. In Klaus Kordons Kinderbuch residiert „Der Menschenfresser“ in einem Anwesen ähnlich dem Gutshof in Rotenburg an der Fulda. 1981 wurde Joe d`Amatos Splatterfilm „Man-Eater“ (1979) in bundesdeutschen Kinos beschlagnahmt, 1999 belieferte Andreas Schnaas nach Menschenfleisch lechzende Kundschaft mit dem D’Amato-Remake „Anthropophagous 2000”. Marius Müller-Westernhagens sang 1984 „Menschenfresser“ („Innig süße Triebe, schon bist du verlorn’n“). Daryl Hall und John Oates waren 1982 mit dem Hit „Maneater“ vor Feministinnen auf der Flucht („Watch out boy, she'll chew you up“), hatte doch Valerie Solanas SCUM, die Society for Cutting up Men (deutsch: „Manifest zur Vernichtung der Männer“, Darmstadt 1969), gegründet und versucht, Andy Warhol zu killen.

Die Revolution frißt ihre Kinder. Das Foto eines ukrainischen Bauernpaars, das während der großen Hungersnot der 20er/30er Jahre hinter den Kadavern zweier Kinder sitzt, wurde während der Debatten um das Schwarzbuch des Kommunismus gern veröffentlicht. Ex-Maoist André Glucksmann belehrte 1976 die westdeutsche Linke in „Köchin und Menschenfresser - Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“. Also verdient auch IT-Kannibalismus auf Verlangen als Symptom unserer westlichen Gesellschaft, in der Selbsttötung ebenso bedeutsame Todesursache wie Auto oder Krebs wurde, ernstgenommen zu werden. Die kapitalistische Vertilgung der Individuen besang Rio Reiser 1986 prophetisch in „Menschenfressermenschen“ („essen manchmal vegetarisch, sind nicht immer blond und arisch“).

Noch gibt es Entsetzen über den Tranchiermeister aus Rotenburg bei gleichzeitiger Freude über TV-Soaps, in denen unter dem Messer von Schönheitschirurgen der Umbau des Menschen stattfindet. „Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt, das Gespenst des Älterwerdens und des Nicht-schön-genug-seins“, mit dieser Marx/Engels-Variation eröffnete die Deutsche Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie ihr DGPW-Journal Mai 2002. Verwiesen wurde auf „Botox-Partys“ in den USA, wo in der Mittagspause im Nebenraum geschnippelt wird, auf „verantwortungslose Geldschneiderei“ für lautmalerisch Silikon-„Kissen“ genannte Implantate, auf Harnröhrendefekte nach Penis-Piercing und auf die Amputation gesunder Gliedmaßen bei der Diagnose „Body Dismormpic Disorder“. Gerade wird unter einem Bundeskanzler, der gegen die Behauptung prozessiert, er färbe graue Haare, die Rechtsdefinition aussonderbarer „Älterer“ („Brückengeld“-Empfänger), gemäß Anregung der Hartz-Kommission, auf 52jährige vorverlegt. Neue Kundschaft für die DGPW, die übrigens auch in einer Stadt namens Rotenburg (Wümme) residiert.

  • Rio-Reiser-Text Menschenfresser im Internet:
    http://www.rioreiser.de/musik/songtexte/fresser.html>/li>