Auch eine Art von Straßenstrich

TagelöhnerInnen in San Francisco

"Am öffentlichen Interesse für ihre Probleme gemessen, könnten die meisten Einwanderer aus Mexiko oder Zentralamerika genauso gut auf dem Mond leben."

Heißt es lakonisch in Mike Davis' Los-Angeles-Buch "City of Quartz". Viel hat sich daran bis heute nicht geändert, auch nicht ein paar hundert Meilen weiter nördlich an der Golden Gate Bridge. "Ich bekomme 50 Dollar für die ersten drei Stunden. 15 Dollar für jede weitere. Draußen auf der Straße kriegst Du vielleicht sieben oder acht Dollar pro Stunde. Und du weißt nie, ob dein Patron dich auch tatsächlich bezahlt." Miguel arbeitet als Tagelöhner in San Francisco. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen bietet er seine Arbeitskraft nicht auf der Straße an. Miguel ist Mitglied des Day Labor Program (DLP), einer Non-Profit-Organisation, die migrantische Tagelöhner betreut. (1) Sie kümmert sich um die Job-Vermittlung, es gibt eine Rechtsberatung und einen festen Stundenlohn. Jeden Freitag treffen sich alle ArbeiterInnen zu einem gemeinsamen Plenum. Sie finden hier ein Mindestmaß an Sicherheit in einer ansonsten total prekären Situation. Der Haken an der Sache: Zur Zeit wartet Miguel etwa zehn Tage, um für einen Tag Arbeit zu bekommen. Danach geht das Warten von vorne los. Miguel kommt aus Peru. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, ein drahtiges Männchen mit einer viel zu großen Sonnenbrille. "Ich bin ganz legal als Tourist eingereist, um meinen Sohn hier zu besuchen," erzählt er. "Die haben mir ein Visum für drei Monate gegeben. Danach bin ich einfach geblieben", illegal, "indocumentado". Seitdem arbeitet Miguel als Tagelöhner, als "Jornalero": im Straßenbau, als Tischler, als Gärtner und als Küchenhilfe, was immer auch gerade kommt. Das wenige Geld, das er zur Seite legen kann, schickt er seiner Familie in Peru, genauso wie zehntausende andere migrantische TagelöhnerInnen in San Francisco und im ganzen Land.

Für eine Hand voll Dollar

Die Anzahl der illegalisierten MigrantInnen in den USA ist schwer zu schätzen. Die US-amerikanischen Einwanderungsbehörden gehen davon aus, dass gegenwärtig etwa acht bis zehn Millionen Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in den USA leben. Längst nicht alle nehmen das Risiko auf sich, ohne Papiere - "mojado" - in die USA einzureisen. Bei dem Versuch, die streng bewachte Grenze zwischen den USA und Mexiko illegal zu überqueren, kamen allein im Jahr 2003 über 300 Menschen ums Leben. Sie erstickten in Containern, verdursteten in abgelegenen Wüstengebieten oder wurden Opfer von Überfällen. Mehr als die Hälfte der illegalisierten MigrantInnen reisen mit einem gültigen Visum in die USA ein und entscheiden sich erst dann zu bleiben. Weit über 100.000 sind es pro Jahr, die die Einwanderungsbehörden so an der Nase herumführen. Einmal in den USA angekommen, ist der informelle Arbeitsmarkt für viele der erste und vorerst einzige Weg, das teure Leben zu finanzieren und vielleicht auch noch etwas für die Familie zu Hause wegzulegen. Fehlende Papiere und mangelnde Englischkenntnisse sind die zentralen Ausschlusskriterien für reguläre Jobs. Die eigene Arbeitskraft auf der Straße anzubieten, steht dagegen allen offen, zumindest allen Männern. In Südkalifornien sind 99% der Jornaler@s männlich (2), 98% haben einen Migrationshintergrund, 84% befinden sich illegal in den USA. Die überwiegende Mehrheit kommt aus Mexiko. Eine Studie der Universität von Los Angeles recherchierte allein in Südkalifornien über 100 öffentliche Plätze, an denen TagelöhnerInnen ihre Arbeitskraft regelmäßig anbieten. In den Straßen der migrantisch geprägten Stadtviertel, wie etwa dem Mission District in San Francisco, finden sich Jornaler@s für jede Art von Arbeit. Spezialisierte Arbeitsmärkte etablieren sich oft in der Nähe von Baumärkten, Baustellen oder Gartenanlagen. An einigen wenigen Orten gründen sich sogar Non-Profit- oder auch Profit-Organisationen, die die TagelöhnerInnen systematisch vermitteln. In San Francisco, einer der teuersten Städte in den USA, verdienen diese ArbeiterInnen zwischen sechs und zehn Dollar pro Stunde, manchmal auch mehr. Damit liegen die Jornaler@s deutlich über dem kalifornischen Mindestlohn, der gerade erst im Juli 2004 auf 6,75 Dollar angehoben wurde. Neben dem Problem der Illegalität mag das einer der Hauptgründe sein, weswegen viele MigrantInnen über Jahre hinweg als Jornaler@s arbeiten. Diese Arbeit ist zwar extrem unsicher und saisonabhängig, doch in den USA ist auch der formelle Arbeitsmarkt für niedrig qualifizierte ArbeiterInnen kaum noch existenzsichernd. Das Geschäft auf der Straße ist hart. Bereits früh am Morgen finden sich die Männer an Kreuzungen und Straßenecken ein. Bis in den späten Nachmittag drücken sie sich in kleinen Gruppen an die Häuserwände oder sitzen wartend auf dem Bürgersteig. In Pick Ups und Trucks rollen potenzielle Arbeitgeber durch die Straßen und checken die Männer durch die Autofenster ab, Stunde um Stunde, Tag für Tag. TagelöhnerIn sein, heißt vor allem eines: warten können. Der Umgang unter den Jornaler@s scheint freundlich, aber kaum kameradschaftlich. Die Konkurrenz ist allgegenwärtig: Das Angebot an Arbeitskraft ist groß, der Patron kann wählerisch sein. Der perfekte Tagelöhner ist jung und kräftig, hat bereits Arbeitserfahrung in den USA gesammelt und spricht ein paar Brocken Englisch. So wie Jaime. Er ist etwa 40 Jahre alt und kommt aus dem mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Seit drei Jahren lebt er in San Francisco und arbeitet im Mission District. Meist steht er an der Straßenecke "Cesar Chavez" und "Florida". Ob er nie Ärger mit der Polizei habe, die regelmäßig durch das Viertel patroulliert? "Nein", meint Jaime. Vor einiger Zeit hätten die Nachbarn hier öfter mal die Polizei gerufen, weil sie sich über das Herumlungern vor ihren Häusern aufgeregt hätten. Aber seit dies nicht mehr der Fall sei, würden sich die Ordnungshüter nicht weiter für sie interessieren. "Das ist wie ein informelles Abkommen. Wir bleiben im Latinoviertel und machen keinen Ärger, und die lassen uns zufrieden."

Wer den Job will, muss warten können

In der Regel wird Jaime stundenweise für die Drecksjobs auf Baustellen angeheuert. Das Geld reicht gerade, um sich mit zwei anderen Latinos ein Zimmer zu teilen. 400 bis 600 Dollar im Monat kostet zur Zeit ein Zimmer in San Francisco. Einige seiner Kollegen haben Verwandte in der Stadt, bei denen sie unterkommen können. Andere schlafen unter freiem Himmel. "Das Klima hier ist mild und viele Jornaler@s bleiben lieber draußen als in den Obdachlosenunterkünften," erzählt Jaime. Was von seinem Lohn übrig bleibt, schickt auch er an seine Familie nach Mexiko. Auf die Frage, ob er noch einen anderen Job habe, falls mal niemand kommt, schüttelt Jaime den Kopf. Als Indocumentado würde er eigentlich immer hier an der Straße stehen. Und wenn ihn keiner will, dann geht er eben leer aus. Der Vergleich zum Straßenstrich drängt sich geradezu auf. Hält ein Wagen an, so stürzt sich meist gleich eine ganze Gruppe von Jornaler@s auf den Fahrer. Wer sich nicht schnell genug auf die Rückbank drängelt, hat Pech gehabt. Manchmal vergehen Tage, bevor der nächste Pick Up hält. Allein in Südkalifornien verdienen etwa 15.000 bis 20.000 Menschen so Tag für Tag ihren Lebensunterhalt. Miguel vom Day Labor Program ist froh, dass er nicht auf der Straße steht. Dort gibt es zwar mehr Arbeit, doch der Stundenlohn ist niedriger und die Konkurrenz härter. Außerdem hofft er, so an einen regelmäßigen Job zu kommen. Morgens um halb acht trägt er sich zusammen mit den anderen in eine Liste ein. Dann heißt es warten, genau wie auf der Straße. Die Stadt hat der Organisation ein Grundstück gleich neben einem kleinen Park im Mission District zugewiesen. Hier stehen die Männer in kleinen Gruppen zusammen, unterhalten sich, lesen Zeitung und tauschen Neuigkeiten aus. In zwei Containern haben die MitarbeiterInnen des Programms zusammen mit den Jornaleros ein Büro und einen Aufenthaltsraum eingerichtet, Kaffee gibt es umsonst. Von sieben Uhr morgens bis in den frühen Nachmittag ist Betrieb. Wenn ein Arbeitgeber anruft, werden die vermittelt, die oben auf der Liste stehen, alle anderen rücken auf. Manchmal bekommt Miguel mehrmals in der Woche einen Job, vor allem wenn das Wetter gut ist. Doch zur Zeit regnet es viel. Insbesondere Garten- und Landschaftsarbeiten sind knapp. Die Regeln sind streng. Wer an zwei aufeinander folgenden Tage nicht erscheint, verliert seinen Listenplatz und muss sich neu eintragen. Wer während der Arbeitszeit trinkt oder mit Drogen erwischt wird, stiehlt oder Ärger mit anderen ArbeiterInnen anfängt, wird "suspendiert". Über die Dauer des Ausschlusses entscheiden die Jornaleros auf ihrem Freitagsplenum. "Die Leute können von dem wenigen Geld kaum leben. Also versuchen wir ihnen zu helfen, wo es nur geht," sagt Hector Valdez, der für das Day Labor Program arbeitet. "Wir vermitteln sie an Obdachlosenunterkünfte, wir haben einen ärztlichen Notdienst und auch einen Zahnarzt, der regelmäßig kommt." Doch das DLP versteht sich weder als karitative Einrichtung noch als Jobvermittlung. Es ist ein sozialer Ort, der sowohl einen Beitrag zur unmittelbaren Sicherung der Lebensverhältnisse migrantischer TagelöhnerInnen leistet als auch Raum für längerfristige Politisierungs- und Organisationsprozesse bietet. 13 Jahre ist es jetzt her, dass eine Gruppe von MigrantInnen zusammen mit lokalen PolitaktivistInnen das DLP gegründet hat. Seit 2001 gibt es auch eine Kooperative, die ausschließlich mit migrantischen Frauen arbeitet. Vor vier Jahren haben sich die Jornaler@s La Raza angeschlossen, eine Art Dachverband für migrantische Projekte und Initiativen in San Francisco. (3) Seitdem ist das DLP nicht nur stärker öffentlich wahrnehmbar, sondern vertritt die Jornaler@s auch in juristischen Fragen. Arbeitgeber, die den Lohn vorenthalten, müssen nun mit einer Anzeige durch die Anwälte von La Raza Centro Legal rechnen. Ähnliche Projekte gibt es auch in New York, Oakland, Los Angeles und anderen US-amerikanischen Großstädten. Illegalisierte MigrantInnen und prekär Beschäftigte organisieren sich in Workers Centers, um für Arbeits- und Aufenthaltsrechte zu streiten und die Brücke in die Gewerkschaftslinke zu schlagen.

Das Überleben organisieren

In San Francisco hat das Day Labor Program mittlerweile knapp 200 Mitglieder. Jede Woche finden Seminare zu politischen und sozialen Themen statt, und StudentInnen der San Francisco State University bieten Englisch- und Computerkurse an. Als im Herbst 2004 die Hotelangestellten in San Francisco streikten, versuchten viele Hotels, sich im Mission District mit billigen Streikbrechern zu versorgen. Auf dem Freitagsplenum des DLP wurde beschlossen, keine Jornaler@s an die Hotels zu vermitteln. ArbeiterInnen und Angestellte des DLP zogen tagelang durch das Viertel, um die TagelöhnerInnen auf den Straßen aufzufordern, sich mit dem Streik zu solidarisieren. Doch die politische Arbeit ist mindestens genauso frustrierend wie der Arbeitsalltag auf der Straße. Öffentliches Desinteresse trifft sich hier mit der schwierigen Situation der Jornaler@s. Viele arbeiten als WanderarbeiterInnen je nach Saison in verschiedenen Städten. Ein kontinuierliches politisches Engagement ist unter diesen Umständen schwierig. Die Gewerkschaften interessieren sich kaum für illegalisierte MigrantInnen. Da diese teilweise täglich unterschiedliche Arbeiten verrichten, sind sie auch kaum einer bestimmten Gewerkschaft zuzuordnen. Und gerade für die obdachlosen Jornaler@s dreht sich der Alltag meist ums bloße Überleben. Für Politik bleibt wenig Zeit und Kraft. Miguel hat diese Woche einen Job als Maler bekommen. Für zwei Tage, d.h. 14 Stunden für 195 Dollar. Auf der Straße hätte er vielleicht 110 Dollar bekommen. Oder auch gar nichts. Henrik Lebuhn Anmerkungen: 1) http://www.lrcl.org/DL_home.html 2) Das "@"-Zeichen ist das spanische Pendant zum großen "I" im Deutschen. 3) http://www.lrcl.org/ aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 491/21.1.2005