Sicherheitspolitische Herausforderungen und Aufgabenprofil der Bundeswehr im 21. Jahrhundert

Beitrag zur Fachtagung des SPD-Parteivorstandes Zukunft der Wehrverfassung vom 13. November 2004

Das Beispiel Kosovo-Einsatz

Am 27. Oktober diesen Jahres erschienen in dem zerstörten Kloster Zociste bei Prizren drei serbisch-orthodoxe Mönche, die dort den Wiederaufbau des niedergebrannten Gebäudekomplexes überwachen wollen. Sie wandten sich wegen ihres Schutzes an den deutschen Oberst, der die für diese Region zuständige "Multinationale Brigade Südwest" als Stellvertretender Kommandeur leitet. Vorerst musste er die Mönche in einem Wohnwagen auf dem Klostergelände unterbringen. Später sollen Wohncontainer aus Mitrovica für die Mönche herbeigeschafft werden. Einen Tag später entführten Unbekannte mitten in Kabul drei internationale Wahlhelfer. Kurz darauf bekennt sich eine Taliban-Gruppe zu der Entführung. In einer Videobotschaft stellt sie unerfüllbare Forderungen nach Truppenabzug und Gefangenenfreilassung, andernfalls wolle man die Wahlhelfer töten. Zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften nimmt die internationale Schutztruppe ISAF, an der die Bundeswehr sich maßgeblich beteiligt, die Ermittlungen auf und kann alsbald das Fahrzeug der Entführer identifizieren. Das sind zwei typische Episoden aus dem Bundeswehralltag heute. Wenden wir uns zunächst dem Bericht aus dem Kosovo zu. Wir erfahren dort, dass Bundeswehrsoldaten sich um die Unterbringung und Sicherheit von serbischen Mönchen kümmern müssen, die dort den Wiederaufbau eines zerstörten Klosters überwachen sollen. Diese Aufgabe erinnert uns an die tragischen Ereignisse vom 17. und 18. März dieses Jahres in Prizren. Demonstrationen, Unruhen und Brandanschläge führten damals zu einer erschreckenden Bilanz: - 19 Tote, 962 Verletzte - 4000 vertriebene serbische Bewohner - 570 zerstörte Häuser und 27 niedergebrannte Kirchen und Klosteranlagen, darunter eben auch das genannte Kloster Zociste Der Aufruhr kam in diesem Ausmaß unerwartet und überraschte all diejenigen, die im Kosovo für Ordnung und Frieden sorgen sollen, also die KFOR mit ihren damals 17.500 Soldaten, die Verwaltungs- und Polizeikräfte der Vereinten Nationen (UNMIC) und die kosovarische Polizei (KPS). Dieser Vorgang, dessen Folgen sich noch im Oktober 2004 in dem erwähnten Vorkommnis spiegeln, macht deutlich, welche neuen und komplexen Aufgaben die Bundeswehr auf dem Balkan erfüllen muss. Die folgende unvollständige Liste beschreibt das Ausmaß der Herausforderung: Die Bundeswehr beteiligt sich im Kosovo an einer Mission der "Friedenskonsolidierung", die 1999 nach Ende des Kosovo-Krieges unter inzwischen völlig veränderten Bedingungen begann. Der Auftrag lautete ursprünglich, den Kosovo und seine Bewohner vor erneuten serbischen Übergriffen zu schützen. Längst besteht die Hauptaufgabe der KFOR darin, die im Kosovo verbliebenen Serben und die anderen Minderheiten vor Ort zu schützen. Die Aufgaben und Prinzipien einer solchen "Friedenskonsolidierung" mussten erst entwickelt werden. Vorbilder und Erfahrungen, die auf diese Region hätten angewandt werden können, gab es nicht. Die Bundeswehr ist bei dieser Aufgabe extrem hohen Anforderungen an multinationaler Kooperationsfähigkeit ausgesetzt. Die 17.500 Soldaten der KFOR kommen aus 34 verschiedenen Nationen. In der vor Ort in Prizren zuständigen "Multinationalen Brigade Südwest" gab es zur Zeit der März-Unruhen einen italienischen Kommandeur und unter anderem eine georgische Sicherungs- und eine türkische Einsatzkompanie. Neben der KFOR tragen im Kosovo die UNMIK, die EU, die Organe der kosovarischen Selbstverwaltung einschließlich des Kosovo Police Service und zahlreiche weitere internationale Organisationen eigene Verantwortung. Die notwendige Zusammenarbeit all dieser Verantwortungsträger erfordert einen enormen Aufwand. Diese Situation ist typisch für alle internationalen Friedensmissionen. Die Bundeswehr muss im Kosovo in einem Umfeld äußerst komplizierter, historisch gewachsener ethnischer und sozialer Konflikte agieren. Adäquate Reaktionen auf Krisensituationen oder gar vorausschauende Lagebeurteilungen können nur auf der Grundlage besonderer Kenntnisse und Erfahrungen mit den landesgeschichtlichen, politischen und kulturellen Hintergründen erfolgen. Ohne solche Kenntnisse ist das Vertrauen im Umfeld und die Balance zwischen Autorität und vertrauensvoller Zusammenarbeit sehr rasch verspielt. Der Auftrag der Bundeswehr im Kosovo ist eingebettet in eine politische Strategie der Weltgemeinschaft und der EU in dieser Region. Von der Erfüllung dieses Auftrages hängen die Erfolgschancen dieser politischen Konzepte ab. Die im März von KFOR und UNMIK nicht verhinderte Gewalt gegen die serbische Minderheit hat zu weit reichenden politischen Folgen geführt. So haben die Serben im Kosovo wegen dieser Gewaltakte die Parlamentswahlen im Kosovo am 23. Oktober boykottiert, und bei der Diskussion um den künftigen Status des Kosovo lässt sich eine neue politische Dynamik feststellen. Das sind Belege für eine neue Form von Interdependenz von sicherheitspolitischen Aufgaben und politischen Zielsetzungen, aber auch für die Notwendigkeit einer komplexen Koordinierung von sicherheitspolitischen, politischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Strategien und Ansätzen bei Projekten der "Friedenskonsolidierung".

Der Schwerpunkt Friedenskonsolidierung

Wir haben also aus einem lapidaren Alltagsereignis aus dem Kosovo eine ganze Reihe neuer Aufgaben und Herausforderungen für die Bundeswehr exemplarisch ableiten können. Dasselbe können wir durchführen anhand der anderen Nachricht über die Entführung von drei internationalen Wahlhelfern in Kabul am 28. Oktober und über die Bemühungen von ISAF zur Aufspürung und Befreiung der Wahlhelfer. Im Ergebnis stoßen wir auf dieselbe Komplexität neuer Aufgaben: Auch in Afghanistan beteiligt sich die Bundeswehr maßgeblich an einer Mission zur "Friedenskonsolidierung", in diesem Fall nach dem Afghanistan-Krieg von 2001/2002. Hier gelten dieselben hohen Anforderungen an die multinationale Kooperationsfähigkeit, dieselben hohen Erwartungen, was den Erwerb von Landeskenntnissen und das Verständnis für die örtlichen Konflikthintergründe angeht, und auch die strikte Notwendigkeit, jeden Schritt auf die politischen Ziele der Weltgemeinschaft für die Zukunft Afghanistans abzustimmen. Einige Sonderbedingungen kommen bei diesem Einsatzort noch hinzu: Die Bundeswehr schützt im Rahmen von Enduring Freedom und ISAF einen umfassenden "Nationbuilding-Prozess", für den es nach 20 jährigem Bürgerkrieg, nach Unterdrückung durch die Taliban und nach der westlichen militärischen Intervention keine akzeptable Alternative gibt. Ein solcher von außen eingeleiteter und schrittweise in die Eigenverantwortung des Landes zu übergebender nationaler Werdungsprozess stellt ebenfalls politisches Neuland dar. Aus mehreren Gründen lastet auf dem deutschen Einsatzkontingent ein noch größerer Erfolgsdruck als bei anderen Beteiligten: Die Bundesregierung hat sich mit hohem Profil an dem Fahrplan des "Nationbuilding" (Petersberger und Berliner Konferenzen) beteiligt und vertritt die Auffassung, dass Afghanistan der Testfall für die westliche Glaubwürdigkeit im Kampf mit dem Terrorismus der internationalen Netzwerke darstellt. Ein Scheitern, etwa mit der Rückkehr der Taliban als Folge, hätte unabsehbare politische Folgen. Das bedeutet, dass die Fortsetzung des deutschen Afghanistaneinsatzes bis zum Erfolg des Nationbuilding keiner Opportunitätsabwägung unterliegt, sondern eine strategische Notwendigkeit darstellt. Die Bundeswehr erfüllt ihren Auftrag in Afghanistan unter den Bedingungen einer internationalen Knappheit an Ressourcen, die sich durch den Krieg im Irak noch dramatisiert hat. Diese erschwerenden Umstände machen die an sich notwendige landesweite sicherheitspolitische Absicherung der Transformations- und Übergangsprozesse unmöglich und zwingen zu dem risikoreichen Verfahren der Bildung von "Sicherheitsinseln" (Provincial Reconstruction Teams, PRT), erneut eine Einsatzform, deren Erfolg sich erst aus einem praktischen Lernprozess vor Ort ergeben muss. Die Bundeswehreinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan bilden den Kern des neuen Aufgabenprofils deutscher Sicherheitspolitik. Das lässt sich bereits an den Zahlen belegen. Am 11. November 2004 hatte die Bundesrepublik 7.656 Angehörige der Bundeswehr in Auslandseinsätzen, davon 5.098 in den beiden Friedenskonsolidierungs-Missionen auf dem Balkan (3.980 bei KFOR im Kosovo, 1.118 bei SFOR in Bosnien Herzegowina) und 2.249 bei der Friedenskonsolidierungs-Mission ISAF in Afghanistan. An der im Prinzip auch mit Kampfeinsätzen verbundenen Antiterror-Mission Enduring Freedom nahmen zum selben Zeitpunkt 295 deutsche Soldatinnen und Soldaten teil. Aber auch qualitativ und konzeptionell entspricht diese Konzentration auf Friedenskonsolidierungs-Missionen exakt der Grundausrichtung, der seit 1998 entwickelten Grundprinzipien der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Die rot-grüne Bundesregierung mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler und Joschka Fischer als Außenminister hat seit 1998 zwei Linien zusammengeführt: die Erfahrungen der vier blutigen Balkankriege der 90er Jahre, bei denen vier Mal alle diplomatischen und politisch-präventiven Anstrengungen zur Kriegsvermeidung scheiterten, und die eigenen Grundüberzeugungen von vorausschauender Friedenspolitik und Zurückhaltung bei militärischen Interventionen. Daraus ergab sich eine Politik, die folgende Stichworte kennzeichnen: erstmals spezielle Beauftragte und ein politisches Gesamtkonzept zur "Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung", zuletzt am 12.05.2004 fortgeführt mit dem Aktionsplan gleichen Titels, der 161 Positionen umfasst. erstmals Schaffung eines zivilen Friedensdienstes in Deutschland Aufbau des ZIF (Zentrum für Internationale Friedenseinsätze), das sich innerhalb von zwei Jahren internationales Ansehen verschafft hat. erfolgreiche Bemühungen darum, dass bei der Schaffung europäischer Fähigkeiten (Helsinki Headline Goals von 1999) zivile Fähigkeiten gleichberechtigt neben militärischen entwickelt (und nebenbei im Jahr 2003 schon zweimal mit Erfolg eingesetzt) wurden. Mitgestaltung der Europäischen Sicherheitsstrategie ("Ein sicheres Europa in einer besseren Welt") vom 12.12.2003, die in entscheidenden Passagen den Vorrang präventiver Politik und die Bedeutung von Friedenskonsolidierungs-Aufgaben hervorhebt. Das bedeutet aber, dass die realen Einsätze der Bundeswehr von heute sich absolut passgenau zu dieser seit 1998 entwickelten Grundausrichtung der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik verhalten. Die Absage an den Irak-Krieg war nicht, wie es oft behauptet wird, ein taktisches Wahlkampfmanöver, sondern die Ablehnung einer militärischen Intervention, die vor dem Hintergrund der neuen deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht legitimiert werden kann. Auch in Zukunft werden Bundesregierung und Bundestag dem weiteren Einsatz der Bundeswehr bei den genannten Friedenskonsolidierungs-Missionen aus Überzeugung zustimmen. Andere denkbare militärische Einsätze haben nur dann eine Chance auf Zustimmung, wenn sie alle genannten Voraussetzungen erfüllen und Teil eines politischen Konfliktlösungs-Konzepts sind.

Folgerungen für die Wehrverfassung?

Abschließend möchte ich die Frage aufwerfen, ob und welche Schlussfolgerungen aus dem beschriebenen neuen Aufgabenprofil der Bundeswehr mit seiner starken Konzentration auf internationale Friedensmissionen für die Wehrverfassung gezogen werden können. Die Beantwortung soll in Form von drei thesenartigen Punkten erfolgen: Die Bundeswehr, obwohl selbst in einem tiefgreifenden Reform- und Umstrukturierungsprozess begriffen, erfüllt ihre verschiedenen internationalen Missionen verantwortungsvoll und professionell. Sie erfährt dafür hohe Anerkennung zuhause und in der Welt. Die Bundeswehr setzt z. Zt. bei den internationalen Aufgaben 906 freiwillig längerdienende Wehrpflichtige (FWDL) ein, was einem Gesamtanteil von fast 12 % entspricht. Es ist nicht zu erkennen, dass der Rückgriff auf die FWDL zu Einschränkungen bei Qualität und Professionalität führt. Behauptungen, das neue Aufgabenprofil der Bundeswehr lasse nur noch den Einsatz von Berufs- und Zeitsoldaten zu, finden in der Praxis keine Bestätigung. Die Bundeswehr ist auf der anderen Seite in der Lage und darauf vorbereitet, den heutigen Anteil von länger dienenden Wehrpflichtigen bei den internationalen Missionen durch Zeitsoldaten zu ersetzen. Allerdings darf dabei der heutige Beitrag von Wehrpflichtigen für die logistische Absicherung der Auslandseinsätze nicht unerwähnt bleiben. Aber auch bei einer Änderung der Wehrverfassung kann und wird die Bundeswehr ihre internationalen Verpflichtungen im selben Umfang wie bisher wahrnehmen. Die Einsätze der Bundeswehr im Ausland folgen bei jeder Wehrverfassung politischen Entscheidungen und unterliegen dem Parlamentsvorbehalt. Ob es mehr oder weniger Auslandseinsätze gibt und welchen Charakter diese tragen, das entscheidet allein die Politik mit ihren Mehrheiten. Es ist falsch, dass eine Wehrpflichtarmee per se ungeeigneter ist für militärische Interventionen und insofern vor solchen schützt. Genauso wenig richtig ist, dass die bloße Existenz einer reinen Berufs- und Freiwilligenarmee schon zu mehr Militärinterventionen führen oder verführen würde. Nicht die Wehrverfassung entscheidet über Zahl und Art der Auslandseinsätze, sondern eine von einer Mehrheit getragene Außen- und Sicherheitspolitik mit ihren Prinzipien und Prioritätensetzungen. Aus all dem folgt, dass den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit sicherlich nur eine Bundeswehr mit hoher Professionalität, großen Lern- und Anpassungsfähigkeiten sowie maximaler Kooperationsbereitschaft entsprechen kann, wobei ein breiter Grundkonsens über die Ziele und die Gestaltung der Einsätze von großer Wichtigkeit ist. Die Bundeswehr kann diese Aufgaben aber sowohl mit Wehrpflicht als auch ohne Wehrpflicht erfüllen. Aus dem neuen Aufgabenprofil der Bundeswehr lässt sich eine Entscheidung über die Wehrverfassung nicht ableiten.