Bis 2050 wird Ostdeutschland auf das Niveau der 1990er Jahre zurückfallen

Bilanz der Entwicklungspotenziale und Hemmfaktoren

in (02.03.2005)

Immer wieder sind Ostdeutschland Hoffnungen gemacht worden. Sie waren nie durch eine wirkliche Bestandsaufnahme begründet. Man wand sich in "Einerseits-andererseits-Sätzen".

Man wand sich in "Einerseits-andererseits-Sätzen". Das hat zu Enttäuschungen ohne Ende geführt. Das sei der Nährboden, befürchten Sozialwissenschaftler, für eine "regressive Vorstellung von einem Nationalstaat". Karl Mai stellt sich dieser mentalen und materiellen Abwärtsspirale. Er fragt: Was ist wirklich noch drin? Sein Maßstab lautet: Unsere Aussichten stehen und fallen mit der Investitionsneigung.

Auf der raumwirtschaftlichen Regionalkonferenz des Stolpe-Ministeriums für Ostdeutschland wurde vom Staatssekretär Tilo Braune (SPD) die Ansicht geäußert, dass häufig der Fehler gemacht werde, "die Diagnose der Schwächen zu verwechseln mit der Bewertung der Potenziale. Daraus erwachse dann Pessimismus, der gar nicht gerechtfertigt sei." (Pressemitteilung vom 3.2.2005) Ostdeutschland verfüge durchaus über erhebliche Entwicklungspotenziale.

Sowohl ost- als auch westdeutsche Bürger werden sich hiernach fragen, was die Ausschöpfung dieser Potenziale bisher gebremst hat und welche Chancen bestehen, die Potenziale zu entwickeln. Außerdem ergibt sich die Frage nach ihrem Wirkungseffekt. Schließlich ist zu erläutern, welcher mögliche Entwicklungspfad sich hiernach einstellen würde, wenn diese Potenziale realisiert werden.

All diese miteinander verknüpften Aspekte des ostdeutschen Dilemmas sind gegenwärtig umstritten. Nachstehend wird dieses weit gespannte Thema knapp diskutiert.

Worin besteht die "Entwicklungsbremse Ost"?

Die ostdeutsche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt hartnäckig unterhalb der westdeutschen, und zwar kumulativ für die zurückliegenden Jahre ab der staatlichen Vereinigung insgesamt, besonders ab 1996/1997 und in der gegenwärtigen Stagnationsphase. Die regionale Differenz in der absoluten BIP-Leistung je Einwohner vermindert sich nicht und droht wieder zu steigen.

Als Hemmfaktoren werden einerseits die schon oft genannten politisch herbeigeführten "Fehler der Vereinigungsökonomie" mit ihren Nachwirkungen bezeichnet, anderseits die unzureichende Ausrichtung der West-Ost-Transfers für die regionalen Investitionen in die Wertschöpfungspotenziale Ost. Oft wird übergangen, wie stark sich die derzeitigen industriellen Strukturen Ost von West im Grunde unterscheiden und welche fortwirkenden Konsequenzen dies hat. Auch unterschätzt man den Abwanderungsverlust Ost nach West mit seinen schon dramatischen potenziellen Folgen.

Dabei gibt die Bundesregierung vor, die ostdeutsche BIP-Leistung pro Kopf könne sich der westdeutschen Schritt für Schritt annähern, wenn nur genügend Zeit eingeräumt werde ("das Glas ist halb voll") und wenn nunmehr eine Konzentration der jährlichen vereinbarten Wirtschaftsförderung (u.a. Solidarpakt II) auf die vorhandenen, allerdings zu wenigen "Entwicklungskerne Ost" erfolgen werde.

Das stagnierende BIP-Wachstum in Ostdeutschland wird derzeit ursächlich der rückläufigen Bauindustrie zugerechnet, die immer noch in einer starken Schrumpfungsphase steckt. Insbesondere der Trend zur Reduzierung der mittels Krediten finanzierten öffentlichen Bauinvestitionen drückt die Bauleistungen deutlich herab. Diese echte Rückentwicklung des Bausektors basiert auf der generell abfallenden Tendenz der öffentlichen und privaten Bauinvestitionen und könnte sich weitere Jahre hinziehen. Dabei werden negative Impulse (aus rückläufigen Multiplikator- und Akzeleratoreffekten) mit Wachstumseinbußen sowie Freisetzungen von Beschäftigten erzeugt. Das verhältnismäßig höhere Gewicht der ostdeutschen Bauwirtschaft an der regionalen Wertschöpfung (im Vergleich mit Westdeutschland) lässt vorerst keine günstigeren Auswirkungen hierbei zu.

Die Wachstumshoffnungen der Politik ruhen nach der Einschätzung der Forschungsinstitute auf der günstigeren Chance in der Verarbeitenden Industrie, speziell auf dem Exportsektor mit seiner zuletzt anhaltenden Expansion. Wenn hier die sektoralen Wachstumsraten auch derzeit noch höher sind als im Westen, bildet das niedrigere Gewicht des Exportsektors an der ostdeutschen Wertschöpfung ein erhebliches Hemmnis für eine Erhöhung der BIP-Wachstumsrate. Diese negative Wirkung kann sich nur langsam verändern, solange man die starken Rückwirkungen aus der regionalen Bauwirtschaft hinnehmen muss.

Auf dem Hintergrund einer sich mehrjährig abschwächenden Tendenz der externen Ausrüstungsinvestitionen in der Verarbeitenden Industrie sowie einer rückläufigen Kapitalproduktivität in der Industrie der neuen Bundesländern, ist ein Vorlauf im Sachkapital für eine rasche Erhöhung des Produktionspotenzials nicht in Sicht. Solange die Kapazitäten nicht überdurchschnittlich ausgelastet werden können, wird sich das industrielle Wachstum Ost mittels Ausrüstungsinvestitionen nicht dauerhaft beschleunigen. Die Investitionsneigung im Bereich der Verarbeitenden Industrie wird durch Erwartungen hoher Kapitalrenditen (bis zu 15%) gedämpft, die zu erreichen als zwingendes Motiv fungiert. Nach wie vor hält die Renditehöhe auf dem globalen Finanzmarkt die realwirtschaftliche Gewinnverwendung unter Druck.

Seit der Ära der Treuhand zeichnet sich der ostdeutsche Arbeitsmarkt durch eine außerordentliche hohe Unterbeschäftigung aus. Dabei hält der Verlust an Arbeitsplätzen in Industrie und öffentlicher Verwaltung unvermindert an. Diese Verluste an Beschäftigung werden seit Jahren durch Abwanderungen und Pendler entlastet. Aber oft wird verschwiegen, dass sich bereits jetzt der ostdeutsche Verlust an Humanpotenzial durch die fortgesetzte Abwanderung Arbeitsfähiger als ein ambivalenter Faktor erweist, der einerseits die Möglichkeiten zur Expansion der Regionalwirtschaft Ost laufend einschränkt, andrerseits als Ausdruck "passiver Sanierung" die statistische BIP-Leistung pro Kopf der zurückbleibenden Wohnbevölkerung angehoben hat. Wird diese verhängnisvolle Abwanderung von Humanpotenzial nicht gestoppt, dann kumuliert sich in einem längeren Zeitraum (bis 2010) ein enormer Potenzialverlust im Osten, der nicht ausgleichbar ist. Gleichzeitig sinkt das ostdeutsche Leistungsniveau verhältnismäßig. Damit gerät es auch bei der Produktivität in Hintertreffen.

Hinzu kommt die Schwäche des Binnenmarkts: Die seit langem bestehende hohe Unterbeschäftigung und Dauerarbeitslosigkeit, der Anstieg der Freisetzungen in der Beschäftigung im privaten und im öffentlichen Sektor, das sinkende reale Netto-Einkommen der Wohnbevölkerung, verstärkte Marginalisierung im Armutsbereich und Abwanderungsverluste sowie die "Sparmaßnahmen" der öffentlichen Haushalte bilden einen Komplex von Faktoren, die die regionale Massenkaufkraft stark schmälern und somit einer konjunkturellen Erholung der regionalen Binnenwirtschaft im Wege stehen. Auch die komplexen Auswirkungen der bekannten "demographischen Falle Ost" seit dem scharfen Geburtenknick ab 1991 sind im kommunalen Bereich unübersehbar. Eine belastende Altersstruktur wird daher in den neuen Bundesländern früher als in Westdeutschland eintreten.

Auch wenn die Politik es nicht hören will, die EU-Osterweiterung wird sich nicht als Boom-Auslöser für die ostdeutsche Kleinindustrie erweisen. Auch in diesem Falle werden die Zuwächse am Markt den dominierenden Großkonzernen und Großlieferanten westdeutscher Provenienz zugute kommen. Die noch zu erwartenden negativen Rückwirkungen der EU-Osterweiterung auf dem Arbeitsmarkt Ost sind somit potenziell nicht kompensierbar.

Schließlich übersteigt der regionale Endverbrauch immer noch die Eigenleistungen. Diese Lücke hat sich verfestigt. Sie ist zu einem strukturellem Problem geworden. Die "Produktionslücke" muss durch Lieferungen aus regional-externer Produktion, finanziert durch staatliche und private Transfers in der Größenordnung von ca. 115 Mrd. Euro, jährlich geschlossen werden. Das hat eine Verfestigung der westdeutschen Lieferdominanz auf dem ostdeutschen Markt bewirkt, deren Vorteile von der Seite der externen Großkonzerne und Großlieferanten nicht freiwillig aufgegeben werden, während originär aus Ostdeutschland stammende Unternehmen im harten, oft noch ungleichen Wettbewerb stehen.

Daraus folgt die ökonomische Ambivalenz der finanziellen Transferleistungen West-Ost. Sie unterstützen Ostdeutschland und sie schwächen auch seine wirtschaftliche Struktur. Die kleinbetriebliche Struktur der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in der Industrie bringt nicht selbst die ökonomische Kraft auf, den eigenen Binnenmarkt wettbewerbsmäßig zurückzuerobern und wird hierin auch nicht durch Bankkredite gefördert. Diese im Vergleich zu Westdeutschland abweichende, deformierte Industriestruktur läuft auf eine Dependenzökonomie hinaus, deren sich die westdeutschen Konzerne bedienen können.

Ist die "Entwicklungsbremse Ost" zu lösen?

Das wirft die Frage nach einer Wende auf: Wie kann es bei weiter erschwerten Marktzugangs- und Wettbewerbsbedingungen Ost, bei schrumpfender Wohnbevölkerung und schrumpfender realer Massenkaufkraft, bei Fortgang der hohen Unterbeschäftigung Ost und der dramatischen Folgen der öffentlichen "Sparmaßnahmen" zu einer Wende kommen? Wie ist regional mehr Wachstum zu erzielen? Im zunehmenden Maße wird dies durch den brutalen Preiskampf der großen westdeutschen Handelskonzerne und -ketten auf dem ostdeutschen Verbrauchermarkt erschwert, der sich im Gefolge der Stagnation der gesamtdeutschen Wirtschaft verfestigt.

Es wäre eine "Quadratur des Kreises" in der Ökonomie, eine solche Situation zu überwinden. Eine Erweiterung des ostdeutschen Binnenmarktes durch verbrauchswirksame Mehreinkommen ist nicht in Sicht, da weder die Lohnentwicklung noch die Sozialeinkommen künftig auf einen hinreichenden oder garantierten Inflationsausgleich und auf "sozialgerechte" Teilhabe am erreichbaren Produktivitätsfortschritt ausgerichtet sind. Die ostdeutschen Landesregierungen stehen in einem verlustreichen Wettbewerb um den radikalen Abbau von Tausenden ihrer Beschäftigten. Auch die wenigen ostdeutschen Großunternehmen fahren fort, ihren Renditeerfolg aus Zahlen des Personalabbaus abzuleiten. Im staatsabhängigen Sektor der Regionalwirtschaft tritt die rigorose "Sparpolitik" hinzu, die sich insbesondere auf ostdeutscher Landesebene durch Verringerung von öffentlichen Aufträgen an die privaten Unternehmen empfindlich auswirkt.

Einflussreiche Experten versteigen sich zu völlig einseitigen Maßnahmen der "angebotsseitigen" Strategie: generelle Deckelung des Lohnanstiegs unter die Inflations- und Produktivitätsrate, Ausweitung des Niedriglohnbereiches, Senkung der Stundenlöhne bei Auflösung der Tarifbindungen ("Flexibilisierung"), Abbau der Sonderzahlungen (Weihnachts- und Urlaubsgeld), Druck auf die Verlängerung der Wochenarbeitszeit sowie Senkung der direkten Steuern und Sozialabgaben. Den ostdeutschen Bundesländern wird nahegelegt, die faktische Lohndifferenz zu Westdeutschland im Interesse der höheren Wettbewerbsfähigkeit zu konservieren. Dies endet bei der extremen Forderung von Prof. Hans-Werner Sinn, dem "Rammbock" der Neoliberalen, auch die ALG-II-Zahlungen noch weiter um ca. ein Drittel (gegenüber dem derzeitigen Stand) zu reduzieren.

Zu den zählebigen Vorschlägen für eine Belebung der ostdeutschen Investitionslandschaft zählt zweifellos das Fixieren der Lohndifferenz Ost zu West, was sich längst zum absoluten Schwerpunkt "Niedriglöhne Ost" gemausert hat. Obgleich bislang die Lohndrift nicht zu einem durchgreifenden Erfolg für die externe Investitionsneigung im Osten geführt hat, kann es nur verwundern, wie unverdrossen die ideologisch motivierte Lohnkostensenkung trotzdem verfochten wird. Wenngleich für die Exportwirtschaft jede weitere Aufwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar die Preiskämpfe auf dem globalen Markt neu anheizen muss, wird versucht, diese Gewinneinbußen durch verstärkte Lohndrückerei auszugleichen.

Die Kehrseite der brüchigen Binnenmarktschwäche bilden die hohen und wieder steigenden Exportüberschüsse sowie die rapide zunehmenden jährlichen Netto-Geldvermögen der Großkapitalbesitzer, die auf den globalen Markt fließen. Die Expansion des deutschen Finanzkapitals steht im Mittelpunkt der tatsächlichen Interessen der Bundesregierung, selbst wenn dies offiziell bestritten würde. Dementsprechend gibt es keinen gesamtwirtschaftlichen Impuls dafür, die Kapitalüberschüsse stärker in die ostdeutsche Wertschöpfung zu lenken und die Ost-West-Angleichungsdifferenz forciert zu vermindern.

Die Nutzung ostdeutscher Potenziale wird derzeit vorrangig als "Innovationsoffensive" der Bundesregierung vorangetrieben. Nach der Dezimierung der ostdeutschen F-& E-Basis in der Treuhand-Ära wurde zuletzt im universitären und staatlichen Bereich angestrebt, eine leistungsfähigere F-& E-Struktur wieder aufzubauen und mit der privaten KMU-Industriebasis zu vernetzen. Jedoch sind die F-& E-Kapazitäten in den ostdeutschen KMU-Unternehmen zahlenmäßig immer noch zu schwach und sogar wieder rückläufig. Die eingesetzten Mittel je Mitarbeiter im F-& E-Bereich sind hier halb so hoch wie in Westdeutschland und der finanzielle Unternehmensaufwand im F-& E-Bereich erreicht gerade ca. 3% des westlichen Aufwands. Die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen F-& E-Landschaft liegt daher insgesamt absehbar weit unter der westdeutschen, die sich zudem überwiegend in den Großunternehmen und Konzernzentralen konzentriert.

Entscheidend für Impulse in das ostdeutsche Wertschöpfungspotenzial könnte sein, ob die hier entwickelten Innovationen auch durch hiesige KMU über eigene Marktproduktionen realisiert werden. Absehbar wird die ostdeutsche Innovationsleistung oftmals den hier agierenden und dominierenden westdeutschen Konzernen zufließen, die über eine viel stärkere Eigenkapital- und Kreditbasis für ihre Dispositionen verfügen. Obendrein gelangen die hierdurch erzielten Gewinn- und Steuereinkommen nicht in ostdeutsche Kanäle, sondern in die externen Konzernzentralen und an deren Steuersitze.

Die widersprüchlichen Bedingungen für eine Lösung der ostdeutschen Entwicklungsbremse ist offensichtlich: Während westdeutsche Kapitalüberschüsse ins Ausland abfließen, besteht in der ostdeutschen Unterentwicklungsregion ein rückläufiges Niveau der regional externen Ausrüstungsinvestitionen; während ostdeutsche Arbeitskräfte nach Westdeutschland abwandern und dort das BIP-Wachstum erhöhen, wird in Ostdeutschland ein Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und eine ansteigende Arbeitslosigkeit mit hohen Ausfällen an Wertschöpfung "marktgerecht" zugelassen. Die ostdeutsche Kapitalproduktivität ist im Industriebereich rückläufig. Im Ergebnis ist ein weiteres Auseinanderklaffen der Entwicklungsschere abzusehen, selbst wenn es zu einer leichten Zunahme des absoluten Ost-BIP je Kopf weiterhin kommt.

Ein gravierender Faktor ist der ungünstige Verstärkereffekt ("Multiplikatorwirkung") durch rückläufige Bauvorhaben der ostdeutschen Verwaltungen, die ihre Haushalte um jeden Preis konsolidieren wollen. Diese Folgen werden noch weiter zunehmen. In dieser Entwicklung, in der allein auf den Abbau der Staatsverschuldung geschaut wird, ist ein nicht zu unterschätzender Verlust an Wachstumsmöglichkeiten enthalten. Statt weiterem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur ist mit zunehmendem Rückbau derselben in den abwanderungsbetroffenen Wohngebieten zu rechnen, der die zu geringen Finanzmittel im Infrastrukturbereich zusätzlich binden wird.

Unter diesen Voraussetzungen tritt die Politikberatung "die Flucht nach vorn an". Sie plädiert für eine Konzentration der staatlichen Fördermittelvergabe auf die "Wachstumskerne Ost". Dabei ist stillschweigend entschieden, dass die bisherigen Mittel für die "Flächenförderung" entsprechend zusammengestrichen werden. Das wird insgesamt zu ganz unterschiedlichen Auswirkungen führen und dazu beitragen, die bevölkerungsmäßige "Entleerung" der wirtschaftlichen Verödungszonen zu beschleunigen. Ist erst einmal eine Subregion an den Rand der Verödung gedrückt, kann eine graduelle Verschärfung der Lage sehr schnell in eine neue Qualität der Verschlechterung ("Depravatation") umschlagen: Schulen, öffentliche Dienstleistungen, Verkehrsanbindungen und Versorgungsbetriebe verkümmern oder ziehen sich zurück, die Kosten von Wasser- und Abwasserbereitung, Müllabfuhr usw. steigen bedrückend. Die Altenbetreuung wird zunehmend schwieriger. Das Absinken der Lebensqualität besiegelt das Schicksal ländlicher Verödungszonen, weil und insofern auch der Tourismus keinen Ausgleich bieten kann.

Die Konzentration auf ostdeutsche "Kernzonen" wird zwar auch von der regierungsamtlichen "Raumordnungsplanung" propagiert, aber es kann nicht verschwiegen werden, dass die hier aufgezeigten, vergleichsweise wenigen Cluster noch recht kümmerlich sind. Es wird im günstigsten Fall noch viele Jahre dauern, bis man die westdeutsche Größenordnung und damit deren effektiven Wirkungsgrad erreicht, auf die ganze Region "auszustrahlen". Derartigen Erwartungen steht aber zunehmend der Rückgang der ostdeutschen Wohnbevölkerung entgegen. Es ist durch nichts bewiesen, dass sich starke wirtschaftlich miteinander verflochtene Ansammlungen ("Agglomerationen") in einer umgebenden Großregion mit sich permanent "verdünnender" Wohnbevölkerung überhaupt bilden könnten.

Die politisch formulierte Wegweisung zur "Entfesselung" von endogenen Potenzialen Ost wird in fundamentaler Weise durch die verordnete Fiskalpolitik zur öffentlichen Haushaltssanierung konterkariert. Inzwischen trifft für die Mehrzahl der ostdeutschen Länder (mit Ausnahme von Sachsen) die Kritik ins Schwarze, die für investive Zwecke angebotenen staatlichen Transfers sinnwidrig zu verwenden. Dies ist jedoch nur der Ausdruck der katastrophalen Haushaltslage, die keine vollständige oder ausreichende Ko-Finanzierung der Transfers durch landeseigene Mittel ermöglicht.

Berücksichtigt man die zu erwartende Absenkung der investiven Transferzahlungen ab 2008 (Regression der Mittel im Solidarpakt II, Korb 1) und die zu erwartenden Einbußen aus den EU-Fördertöpfen für Ostdeutschland, dann zeigt sich der nicht gerechtfertigte Optimismus für eine "Entfesselung" endogener regionaler Wachstumspotenziale unverkennbar. Vorliegende Experten-Projektionen zur künftigen Entwicklung der Haushaltseinnahmen z.B. in Mecklenburg-Vorpommern erfordern bis zum Jahre 2020 zwingend weitere Personalreduzierungen und effektive Verminderungen bei Investitionen. (Siehe: "IWH-Benchmarkstudie" vom 31.1.2005)

Zum ostdeutschen Entwicklungsweg in die Zukunft

Es wird nicht bestritten, dass sich (am Ende der bauwirtschaftlichen Schrumpfung) auch künftig ein mehr oder weniger geringes BIP-Wachstum Ost einstellen kann. Jedoch selbst die marktgerechten Anstrengungen zur Erhöhung des innovativen Exports im Verarbeitenden Gewerbe Ost werden sicherlich nicht durchschlagende Effekte erzielen. Die eigentliche Frage ist, ob der Osten mit dem Westen mithalten kann, oder ob er aufholen könnte?

Für einen echten Aufholprozess wäre eine langjährig alles überragende Wachstumsrate die zwingende Voraussetzung. Das ist in dieser Lage nicht zu erwarten. Selbst ein bloßes "Mithalten" würde nicht nur von der Konjunktur abhängen, sondern hätte es auch mit strukturellen Hindernissen (Haushalt, Bevölkerung etc.) zu tun. Die Innovationsoffensive Ost wird allein bestenfalls ein noch schnelleres Auseinanderklaffen der Ost- zu den West-BIP-Leistungen begrenzen können.

Damit ist selbst bei Eintritt einer günstigeren Binnenkonjunktur das westdeutsche Niveau kaum zu erreichen, geschweige etwa zu überflügeln. Vielmehr ist mit einem Entwicklungspfad zu rechnen, der unterdurchschnittlich verlaufen wird. Die politisch beschworene Konvergenz ist damit erledigt. Und die aktuelle Politik ist auch schon mit der Feststellung umgeschwenkt, "dass es immer Entwicklungsunterschiede in Deutschland gab"! Damit scheint nur noch zu diskutieren sein, wie groß denn die Kluft werden darf?

Die wirtschaftliche Entwicklung der ostdeutschen Region steht und fällt mit der Investitionsneigung. Ist sie nachdrücklich zu erhöhen? Können dafür Investoren gewonnen werden, mit deren Hilfe Wertschöpfung und Export zu erweitern wären? Ihr aktuelles Engagement müsste mindestens verdreifacht werden. Findet sich dieser Lösungsansatz nicht durch enge Kooperation von Wirtschaft und Strukturpolitik, können die hohen Transfers West-Ost später nicht durch eine regionale Finanzierung abgelöst werden. Im Endeffekt: Ostdeutschland bleibt "am Tropf".

Unter diesen Umständen ist an folgender Prognose nicht zu deuteln. Die aktuelle Studie von Deutsche Bank Research (vom 10.11.2004) besagt: "Die divergierenden Entwicklungen des Wachstumspotenzials führen in unserem Basisszenarium, das konstante Erwerbspersonenquoten für die Bundesländer unterstellt, dazu, dass das BIP pro Kopf in Ostdeutschland bis 2020 von derzeit 64,5% auf 60% des Westniveaus sinkt (unter der Annahme gleicher Wachstumsbeiträge von Kapital und technischem Fortschritt in Ost und West)... Damit würde Ostdeutschland bis 2050 wieder auf das Niveau von Mitte der 90er Jahre zurückfallen." (S. 44)

Ist damit Ostdeutschlands Schicksal besiegelt? Im Rückblick haben sich die mittel- und langfristigen Prognosen als unzutreffend erwiesen. Was kann noch für 2010 erwartet werden? Die Wirtschaftsforscher sind sich einig: es gibt keinen "Königsweg" aus dem ostdeutschen Dilemma.

Das verbleibende Ziel bis 2008 kann nur noch darin bestehen, den künftigen ostdeutschen Wachstumsverlauf möglichst dicht an den westdeutschen heranzuführen sowie die Abwanderung von Humanpotenzial vom ostdeutschen Arbeitsmarkt zu drosseln und die akute Haushaltsmisere der ostdeutschen Länder zu verringern. Anspruchsvollere Ziele lassen die derzeitigen Rahmenbedingungen kaum zu. Die investiven Transfers West-Ost müssen für diesen Zeitraum stabilisiert werden, einschließlich des föderalen Finanzausgleichs. Die regionale Strukturpolitik der Länder wird ein Maximum leisten müssen, um durch externe und interne Investitionen auch im Wertschöpfungsbereich die letzten Potenziale zu mobilisieren. Hierfür gibt es aber weder neuartige noch geheime "Rezepte", die nicht schon längst genutzt sind - jedoch mit unzureichendem Erfolg.

In der Zeit nach dem Jahre 2008 treten massiv negative Faktoren auf, wie z.B. zunehmend rückläufige Haushaltseinnahmen der ostdeutschen Länder und Gemeinden, sprunghafte Nachwuchsengpässe auf dem Arbeitsmarkt bei jungem Fachpersonal, dramatische Folgen der "demografischen Falle Ost" bei der Überalterung, sich kumulierende Effekte beim Rückgang der Massenkaufkraft infolge Verschiebungen in der Altersstruktur.

Die Politiker und ihre Experten sind ratlos, wie diese negativen Auswirkungen bzw. Aussichten noch vorher abgefangen oder minimiert werden könnten. Dies sind die fatalen Folgen einer langen Politikperiode mit zu knappem Sichthorizont, die sich in kurzen und häufigen Wahlkämpfen durch die Tagesaufgaben kämpft und dabei nur die eigenen Parteipfründe verteidigt und die Konkurrenzparteien im Visier behält.

Die fernere Zukunft bleibt nebulös. Aber über die nächste Zukunft wird heute von den Zeitgenossen immer auch mitentschieden. Daher bleibt den Bürgern der ostdeutschen Unterentwicklungsregion gar keine andere Wahl, als den Kampf gegen das weitere innerdeutsche Zurückbleiben aus Gründen wirtschaftlichen Überlebens weiter zu führen und die Politiker in diese nationale Pflicht gemeinsamer Verantwortung einzubinden.

Karl Mai, geboren 1932, ist Ökonom und lebt in Halle/Saale, Mitglied der AG Alternative Wirtschaftspolitik und der AG Perspektiven für Ostdeutschland.

in: Sozialismus Heft Nr. 3 (März 2005), 32. Jahrgang, Heft Nr. 286, S. 17-21.

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Supplement: Michel Aglietta/Antoine Rebérioux, Vom Finanzkapitalismus zur Wiederbelebung der sozialen Demokratie