Nachhaltiger Konsum und Ernährung

Private KonsumentInnen zwischen Abhängigkeit und Empowerment

in (25.03.2005)

....insbesondere durch die Veränderung von Konsummustern mit der Entscheidung für fair produzierte Produkte. Zum Auftakt der Kampagne unterstrich die Ministerin Renate Künast die hohe Relevanz der Entscheidungsmacht von VerbraucherInnen im Nachhaltigkeitsprozess mit den Worten: "Mit unseren Kaufentscheidungen beeinflussen wir jeden Tag aktiv nicht nur unser eigenes Leben, sondern das vieler anderer in anderen Teilen der Erde und das Leben nachfolgender Generationen" (BMVEL 2004). Damit wird den KonsumentInnen ein hohes Maß an Gestaltungsmacht zugesprochen: Sie sind es, die über die Zukunft der Ernährung und über den Grad der Nachhaltigkeit in Landwirtschaft und Ernährung entscheiden. Im Kontext der Politik für eine Agrarwende waren KonsumentInnen immer wieder gefordert, mehr Geld für Nahrungsmittel auszugeben, bei deren Kauf Nachhaltigkeitskriterien zu berücksichtigen und den Anteil der Ausgaben für Lebensmittel im Haushaltsbudget zu erhöhen. Dabei hängt die Zukunft der Agrarwende zum einen sicher davon ab, ob "eine ökologische Wende in der Landwirtschaft auf die KonsumentInnen zählen" (Brunner 2004) kann. Zum anderen wird in der Nachhaltigkeitsdebatte vor einer Überhöhung der Gestaltungsmacht privater KonsumentInnen gewarnt. Um mit Anforderungen an ökologisch und politisch korrekten Einkauf und gesunde Ernährung nicht einer "Privatisierung und Feminisierung der Umweltverantwortung" (Weller 2004) Vorschub zu leisten, ist es notwendig zu analysieren, wie der Konsum in das gesamte Ernährungssystem eingebettet ist und welche Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten die KonsumentInnen im Vergleich zu den anderen Akteuren auf den verschiedenen Ebenen des Ernährungssystems - Produktion, Verarbeitung, Handel und Konsum - haben.

1. Konsumwandel im Ernährungssystem

Als fordistisch ist das Ernährungssystem1 nach 1945 bezeichnet worden, in welchem die Massenproduktion erfolgreich an den Massenkonsum von Nahrungsmitteln gebunden ist (Goodman/Redclift 1991: 87ff; Fine/Heasman et al. 1996; Friedmann 1999). Dem Ziel verpflichtet, die Bevölkerung mit einer ausreichenden Menge an Lebensmitteln zu niedrigen Preisen zu versorgen, wurde mit einem hohen Zufluss von Energie, Material und Kapital die Mechanisierung der Landwirtschaft, die Intensivierung der Produktion durch den Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und die Vergrößerung und Spezialisierung der landwirtschaftlichen Betriebe durchgesetzt. Damit etablierte sich ein System, das bis heute nur durch hohe Subventionen, Marktabschottung gegenüber Importen und besondere Gesetze existieren kann (Brunner 2001: 210). Im Zusammenhang mit veränderten Beschäftigungs- und Einkommensstrukturen in den privaten Haushalten der nördlichen Industrieländer wiederum, die aus der zunehmenden Beschäftigung im Dienstleistungsbereich und der Herausbildung einer neuen kaufkräftigen Elite resultiert, ist seit den 1970er Jahren eine neue Nachfrage nach handwerklich verarbeiteten oder exotischen Nahrungsmitteln entstanden (Friedland 1994; Friedland 1994a: 213ff; Friedmann 1999). Dementsprechend wird die Massenproduktion für stärker differenzierte Märkte vorangetrieben, und in diesem Zusammenhang kennzeichnet ein paralleler Prozess von Globalisierung und Regionalisierung den Weg in ein globales postfordistisches Ernährungssystem.
Als Voraussetzung für die Koppelung von Massenproduktion und -konsum werden mit zunehmender Verarbeitungstiefe aus verderblichen Nahrungsmitteln dauerhafte Konsumgüter, ebenso wird der massenhafte Vertrieb durch die Ausweitung des Prinzips der Selbstbedienung in modernen Supermärkten revolutioniert. Im Rahmen dieser Entwicklung gewinnen Lebensmittelindustrie und Einzelhandel nicht nur gegenüber der Landwirtschaft an Relevanz und Marktmacht. Auch die Rolle privater Haushalte verändert sich tiefgreifend im Zuge der zunehmenden Verlagerung von Arbeiten aus den Haushalten an den Markt und durch die räumliche und zeitliche Entkoppelung von Produktion und Konsum im Kontext von Globalisierungsprozessen. Produktion und Konsum sind dabei in komplexer Weise verflochten, so dass keine Ebene des Ernährungssystems als dominant oder determinierend zu gelten kann.

1.1 Massenproduktion und -konsum

Grundlegend für die zuvor nicht gekannte Entwicklung des Massenkonsums seit den 1950er Jahren ist der starke Anstieg der Produktivität nicht nur im Bereich der industriellen Produktion, sondern auch in der Landwirtschaft. Dabei werden in der Massentierhaltung oder beim Gemüseanbau in Gewächshäusern arbeitsorganisatorische Ansätze industrieller Massenproduktion auf die Bauernhöfe übertragen. Im Bereich der intensiven Tierzucht basiert die Massenproduktion auf einer beispiellosen Produktivitätssteigerung durch die Beschleunigung und Kontrolle der tier- und pflanzeneigenen Rhythmen mit Hormonspritzen, durch die Fütterung mit Kraftfutter oder die Behandlung mit Antibiotika (Schneider 1999). Die intensive Tierzucht in spezialisierten Betrieben ermöglicht dank gesunkener Fleischpreise dessen Massenkonsum und hat so die tradierten Wertigkeiten der Nahrungsmittel auf den Kopf gestellt: "Infolge der gleichzeitigen Entwicklung des Automobilismus wurde das Fleisch des traditionellen Resteverwertungstiers ärmerer Leute, des Pferds, teurer als Rindfleisch. Da das Schwein sich leichter in Massen produzieren lässt als das Rind, verkehrte sich auch deren Preisverhältnis (...) Schließlich sank der Hühnerpreis ins Bodenlose, während vordem das Huhn ein relativ teures Tier war" (Schwendter 1995: 235).
Auch Fische und Schalentiere sind zu Produkten aus der Massentierhaltung geworden: Waren Lachs und Shrimps noch vor wenigen Jahren kostspielige Spezialitäten, die sich nur eine Minderheit leisten konnte, so sind sie heute zu günstigen Preisen im Tiefkühlregal erhältlich und "in aller Munde" (Kaller-Dietrich 2004). Ihr Preisverfall resultiert daraus, dass mit der Verbreitung von Aquakulturen die Prinzipien der Massenproduktion vom Land aufs Wasser übertragen werden (Prahl/Setzwein 1999: 251ff). Zwar werden die norwegischen Zuchtlachse nie nach Alaska schwimmen und dort ablaichen, dafür werden sie mit Fischmehl, das aus Peru stammen kann, gemästet und unter dem Label "Wildlachs" für eine breite Schicht von KonsumentInnen erschwinglich (Kaller-Dietrich 2004). Massenproduktion von Nahrungsmitteln ist daher mit einer sinkenden sozialen Differenzierung des Konsums und einer Homogenisierung der Ernährungsgewohnheiten verknüpft. Dabei folgt der erhöhte Fleischkonsum nicht rein reaktiv auf die veränderten Angebote der Massenproduktion, sondern geht auf eine europäische Esstradition zurück, in welcher der Fleischverzehr mit Wohlstand assoziiert wird und besonders in der Esskultur der Nachkriegszeit als essentieller Bestandteil einer "richtigen Mahlzeit" galt. Wenn der Konsum von Lachs und Schalentieren hingegen seit Mitte der 1980er Jahre ausgeweitet wurde, so passt dies zur stärkeren Orientierung an gesundheits- und kalorienbewussten Ernährungsleitbildern und der entsprechenden Vermarktung dieser Produkte als fettarm bzw. reich an sog. "guten" Omega-3-Fettsäuren. Die Ausweitung der Nachfrage hat wiederum Anreize für die Ausweitung von intensiver Tierzucht und den dafür notwendigen Futtermittelanbau bzw. für die Vermehrung von Aquakulturen bewirkt - mit den bekannten negativen Folgewirkungen für die Nachhaltigkeit des Ernährungssystems.2

1.2 Konsumwandel und Lebensmittelverarbeitung

Für die Koppelung von Massenfertigung und -konsum ist die Verarbeitung von schnell verderblichen und wenig haltbaren Nahrungsmitteln zu dauerhaften Konsumgütern eine elementare Voraussetzung. Der Verfall der Nahrungsmittel wird nicht nur herausgezögert, damit sie Transportwege unbeschadet überstehen, sondern auch, damit ihre Lebensdauer im Regal verlängert wird und das Produkt nach seinem Kauf nicht zu schnell verdirbt. Im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft sind zeitaufwendige Methoden wie das Lufttrocknen, Räuchern, Salzen, Säuern oder in Honig Einlegen von energetisch aufwendigen industriellen Verfahren wie der Tiefkühlung, der Aufbewahrung in Konserven oder der Beigabe chemischer Konservierungsstoffe verdrängt worden (König 1998). Im Sog der zunehmenden Verarbeitungstiefe verändern sich Ausgangsprodukte "vom lebenden zum gerupften, zerteilten, bis zum in Dosen erhältlichen vorgekochten Huhn und schließlich zu portionsfertig aufbereiteten, fertig panierten tiefgekühlten Hähnchenteilen" (Leicht-Eckardt 1999: 196). Neue Fertiggerichte werden erfunden und durchgesetzt und in den Küchen der Food-Designer auf Lyfe-Style und Lebensgewohnheit hin angepasst. Mit ihrem Vertrieb gewinnen transnationale Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé, Unilever oder Cargill an Marktmacht. Menge und Vielfalt der vertriebenen Waren unterliegen dabei einer rasanten Ausweitung und einer permanenten Innovation: So hat zwischen 1960 und 1999 die Zahl der angebotenen Lebensmittel extrem zugenommen. Allein in Deutschland kommen dank eines wettbewerbsbedingt hohen Innovationstempos jedes Jahr etwa 10.000 Lebensmittel neu auf den Markt, von denen viele (60% aller Backwaren, 40% der Süßwaren, 38% der Molkereiprodukte) bereits nach einem Jahr wieder vom Markt verschwunden sind (Tappeser/Baier et al. 1999: 57f). Die Vielfalt der verschiedenen Produkte geht jedoch auf eine relativ kleine Anzahl von Grundprodukten zurück. Durch Standardisierung (Fordismus) und Spezialisierung (Taylorismus) basiert die "Vielfalt" auf einer "Einfalt" von wenigen "Monokulturen" (Weizen, Rind, Schwein etc.) und auf einem Verlust von Agrobiodiversität (Petschow/Idel 2004). Im Zuge der Kombination aus Convenience Food, Functional Food3 und Bio-Produkten sind auch Lebensmittel, die in s.g. Naturkostläden angeboten werden, immer mehr zu "Dienstleistungsprodukten" geworden, die einen Mehrfachnutzen in Hinblick auf die schnelle und bequeme Zubereitung, die geschmackliche Qualität und den gesundheitlichen Nutzen versprechen (Mertz 2003).
Mit der industriellen Verarbeitung von Lebensmitteln wird es jedoch nicht nur möglich, den Verderb von Nahrungsmitteln vergleichsweise lange hinauszuzögern, sondern ebenso, den Zubereitungsprozess extrem zu beschleunigen und zu vereinfachen. Aufgrund der Erosion des fordistischen Geschlechtermodells (Männer als "bread winner" und Frauen als "food server"), der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen und der steigenden Zahl von Single-Haushalten erhöht sich die Nachfrage nach Tiefkühl- oder Fertiggerichten. Von der Konsumseite her wird die Erhöhung der Verarbeitungstiefe aber auch durch einen zunehmenden Verlust an Ernährungswissen und -kompetenz verstärkt: Convenience Produkte werden aus Bequemlichkeit und Zeitgründen gekauft, darüber hinaus, weil vielen KonsumentInnen heute schlicht die Zubereitungskompetenzen fehlen. Nichtregierungsorganisationen wie z.B. Slowfood befürchten, dass Lebensmittelkonzerne und Global Player der Life Style Unternehmen mit ihren Fertiggerichten und Aromastoffen zunehmend Geschmackserwartungen und Ernährungsgewohnheiten definieren und den Trend verstärken, dass im Zeitalter der Mikrowelle, des Convenience Food und der Fast Food Ketten das Wissen über die Zubereitung von Mahlzeiten als kollektives Kulturerbe verloren geht. In welchem Umfang die Nutzung von Convenience Produkten zu einem selbstverständlichen Bestandteil der heutigen Esskultur geworden ist, drückt sich in einem Wahrnehmungswandel aus: Demzufolge wird heute auch das Backen mit Fertigmischungen oder die Zubereitung einer Suppe mit Maggi-Fix überwiegend als eigene Kochleistung definiert (IGLO-Forum-Studie 1995) und nicht mehr als Verlust eigener Kompetenzen verstanden.4
Warum ist diese Konstellation aus Massenproduktion, industrieller Verarbeitung und der rapiden Erosion des Wissens über Ernährung problematisch und eine Barriere für Nachhaltigkeitsziele? Da nur ein geringer Prozentsatz der Lebensmittel direkt vom Bauernhof zu den KonsumentInnen gelangt und heute mehr als 95% der Lebensmittel industriell verarbeitet werden, geraten Landwirte zunehmend in die Funktion des Rohstofflieferanten für die Lebensmittelindustrie. Somit verlieren sie ihre alte agrarische Funktion als direkter Bereitsteller von "Mitteln zum Leben": Sie produzieren Gemüse für Tiefkühlkost, Tomaten für Ketchup und Tomatenmark, Kartoffeln für tiefgefrorene Pommes Frites und Kartoffelbreipulver, Hähnchen für Chicken McNuggets - Nahrungsmittel, die von den großen Nahrungsmittelkonzernen weiter verarbeitet und beispielsweise als Grundbausteine für die Hamburger, Pizzas und Pastas der großen Fast Food Ketten dienen (Friedmann 1999; Brunner 2002). In der Regel ist die industriell-massenhafte Produktion des Essens mit einem hohen Preisdruck auf die Landwirte verbunden. Abhängig geworden von den Großabnehmern in Lebensmittelindustrie und Einzelhandel können die landwirtschaftlichen Erzeuger die Produktion großer Mengen nur gewährleisten, wenn sie alle Rationalisierungsreserven ausschöpfen, Kunstdünger, Pestizide, Herbizide und Fungizide einsetzen, Flächen zusammenlegen und zum Anbau in Monokulturen übergehen (Hutter 2004). Der Preisdruck zwingt zu Produktionsbedingungen, die einer Orientierung an den Zielen der Nachhaltigkeit durch Umweltschonung und artgerechte Tierhaltung entgegen stehen.5 Obwohl generell bei wachsender Kontrolle der natürlichen Wachstums- und Reifezeiten und bei zunehmender Verarbeitungstiefe der Stoff- und Energieumsatz steigt, gibt es im Bereich der Convenience Produkte erhebliche Unterschiede in bezug auf die Umweltbelastung, die Qualität der verwendeten Nahrungsmittel und ihren gesundheitlichen Nutzen. Der Preisdruck des Einzelhandels auf die Lebensmittelkonzerne und die Erzeuger zwingt diese jedoch fast immer, möglichst billig zu produzieren und daher z.B. anstelle teurer Rohstoffe den Geschmack durch den Zusatz von Glutamat zu intensivieren und so zu ungewolltem Mehrverzehr zu verführen. Mangelnde Kochkenntnisse und fehlendes Ernährungswissen der KonsumentInnen begünstigen wiederum Fehlernährung und Übergewicht, bestärken eine unkritische Haltung gegenüber Geschmacksverstärkern und Konservierungsstoffen6 und fördern die Gleichgültigkeit gegenüber sozialen und ökologischen Standards in der Nahrungsmittelproduktion. An die Stelle von Qualitätsmerkmalen tritt die Ausrichtung von Konsumentscheidungen am Preis sowie an der Bequemlichkeit und Schnelligkeit der Zubereitung.

1.3 Konsum im Lebensmitteleinzelhandel

Eine unübersehbare Umwälzung hat nicht nur bei der Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln stattgefunden, sondern auch bei ihrer Distribution und beim täglichen Einkauf: War das Einkaufen in der Nachkriegszeit durch den fast täglichen Besuch vieler kleiner Läden in Wohnungsnähe, den Einkauf im Fachgeschäft des Bäckers, Milchmanns, Gemüsehändlers und Kaufmanns geprägt, so ist es seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in Westdeutschland zu einer rasanten Verbreitung von "Selbstbedienungsläden" gekommen. Die Rationalisierung des Einzelhandels durch das Prinzip der Selbstbedienung ist eingebettet in die Verallgemeinerung von Massenfertigung und Massenkonsum im Ernährungsbereich und notwendig, um die Massenkonsumgüter, die nun in der Industrie seriell hergestellt werden, auch massenhaft absetzen zu können. Im fordistischen Wirkungszusammenhang der Produktion von Massenkonsumgütern, der Steigerung der Realeinkommen, der Ausbreitung der Selbstbedienung als Ver- und Einkaufsform und des Massenkonsums (Wildt 1994: 151) werden Vertrieb und Konsum von Lebensmitteln revolutioniert. Parallel zur Ausweitung des Sortiments und zur Diversifizierung der Produkte kommt es durch den Aufbau eines überregionalen Lebensmittelhandels und dem Sterben der "Tante-Emma-Läden" zu einer Vereinheitlichung der Anbieter. Inzwischen hat sich ein dramatischer Konzentrationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel vollzogen, der heute fast ausschließlich von großen Handelsketten dominiert wird, die in einer Marktsituation mit hoher Wettbewerbsintensität und geringen Gewinnmargen agieren. Im Kampf um Anteile auf einem Markt, auf dem KundInnen vor allem durch Niedrigpreisstrategien geworben werden, verlangt der Handel nach Produkten, die preisgünstig sind, sich gut transportieren und lagern lassen und in großer Menge geliefert werden können. Durch diese Art der Nachfrage fördert er mit seiner starken Marktmacht als Großabnehmer gegenüber der Lebensmittelindustrie und gegenüber den landwirtschaftlichen Erzeugern letztlich Produktionsstrukturen, die immer wieder Lebensmittelskandale verursacht haben (z.B. durch Fütterung der Tiere mit billigen Importen).
Die Verallgemeinerung der Selbstbedienung als Form der Massendistribution macht es erforderlich, dass die Produkte den KundInnen vorverpackt in Regalen angeboten werden (Wiegemann 1993). In Selbstbedienungsläden ist es kaum denkbar, die Ware, wie in den alten Fachgeschäften, lose verpackt in Kisten, Säcken, Fässern, Paketen oder Korbflaschen anzubieten. Dabei dient die Verpackung im Zusammenhang mit der Renaissance von Markenartikeln, die in den Westdeutschland nach dem Ende der Lebensmittelrationierungen einsetzte, nicht nur als Schutz der Ware, sondern auch als Werbeträger. Die Aufgabe der Verpackung als Erkennungszeichen werbestrategisch etablierter Marken wird immer wichtiger, nicht nur, um als "Vertrauensscharnier" (Barlösius 1999) Orientierung angesichts eines immer unübersichtlicheren Angebots zu bieten. Noch entscheidender wird für die neuen Selbstbedienungsläden und Supermärkte die Funktion der Verpackung, die Ästhetik der Warenhülle zu einer Projektionsfläche für Wünsche der KäuferInnen zu machen. Wie Waren durch ihre Verpackung mit einem "Gebrauchswertversprechen" versehen werden, das mit der eigentlichen Beschaffenheit der Ware nichts mehr zu tun hat, und wie Waren mit allen verfügbaren Mitteln zu Marken aufgebaut werden, analysierte W.F.Haug bereits 1973 in seiner Kritik der Warenästhetik. Im Nahrungs- und Genussmittelsektor, der spätestens seit Mitte der 1960er Jahre hochgradig durch Name, Form und Bild des Markenartikels geprägt ist, erhält demnach die Ästhetisierung der Ware eine qualitativ neue Bedeutung und macht den "Schein" der Ware für den Kaufakt letztlich wichtiger als ihr "Sein":
"Zunächst bleibt die funktionell bereits abgelöste Gestaltung und Oberfläche, der bereits eigene Produktionsgänge gewidmet werden, mit der Ware verwachsen wie eine Haut. Doch bereitet die funktionelle Differenzierung die wirkliche Ablösung vor, und die schön präparierte Oberfläche der Ware wird zu ihrer Verpackung, die aber nicht wie das bloße Einwickeln als Schutz vor den Gefahren des Transports gedacht ist, sondern als das eigentliche Gesicht, welchselbes statt des Warenleibs der potentielle Käufer zunächst zu sehen bekommt. (...) Nachdem ihre Oberfläche sich von ihr abgelöst hat und zu ihrer zweiten Oberfläche geworden ist, die in der Regel unvergleichlich perfekter als die erste ist, löst sie sich vollends los, entleibt sich und fliegt als bunter Geist der Ware in alle Welt" (Haug 1973: 60f.).
Nicht nur die farbliche Gestaltung der Verpackungen nach den Vorgaben der Farbenlehre spielt eine strategische Rolle in den Absatzüberlegungen der Lebensmittelindustrie. Auch der Aufdruck von Bildern unberührter Natur (z.B. alte Bauernhöfe oder Tiere auf grünen Wiesen) verleiht den Verpackungen häufig ihr charakteristisches Gesicht und soll der kollektiven Utopie Raum geben, durch den Genuss dieser Lebensmittel mit einem natürlichen Raum und seinen Rhythmen verbunden zu sein - einer unberührten Natur, die nicht von der industrialisierten Welt kontaminiert ist.7 Das Spektakuläre an dieser Form der Warenästhetisierung ist, dass die affektive Distanz der KonsumentInnen von der Herstellung und Verarbeitung der Lebensmittel im globalen Ernährungssystem auf der Ebene des Konsums durch die Beschwörung eines idealen Naturraums und durch die semiotische Kraft der Warenästhetik wieder aufgehoben wird, indem die tatsächliche industriell geprägte Herkunft der Nahrungsmittel verleugnet wird. Wenn also in Produktion, Verarbeitung und Transport der Lebensmittel alle Abläufe mit dem Ziel ihrer ökonomischen Optimierung kontrolliert und Wachstums- und Reifezeiten in Lebensmittelproduktion und -verarbeitung fast beliebig beschleunigt oder verlangsamt werden, folgt am Ende der Wertschöpfungskette - auf der Ebene des Konsums nämlich - die "Rückkehr zur Natur": zumindest auf der Warenhülle. Wie erfolgreich die Ästhetik der Warenhülle als Projektionsfläche einer "natürlichen" Herkunft von Nahrungsmitteln dient, zeigt beispielsweise eine Studie zu "Produktassoziationen beim Kauf von Lebensmitteln" (IFAV, Köln 2001), die vom Bundesverband der Verbraucherzentralen in Auftrag gegeben wurde (Tschöke 2002). Demzufolge verknüpfen viele VerbraucherInnen mit den Bildern ländlicher Idylle auf Lebensmittelverpackungen Vorstellungen, die mit der Realität der landwirtschaftlichen Massenproduktion nicht oder nur wenig übereinstimmen. Beispielsweise wurden Eier aus Batteriehaltung, die in Kartons mit Abbildungen von Bauernhöfen oder Hühnern angeboten werden, von 17% der Befragten für Eier aus Freilandhaltung gehalten.

2. Die Rolle privater Haushalte im Ernährungssystem

Das heutige Ernährungsangebot ist mit Annehmlichkeiten und Vorzügen für die VerbraucherInnen im Norden verbunden, wird doch saison- und ortsunabhängig ein bezahlbares und ausdifferenziertes Angebot an Nahrungsmitteln aus aller Welt zum Kauf angeboten. Mit der Beschleunigung pflanzlicher und tierischer Wachstumsprozesse wird durch Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft der Massenkonsum von Fleisch, Eiern, Getreide, exotischen Früchten und anderen Nahrungsmitteln möglich. VerbraucherInnen profitieren von der Beherrschung der Zukunft, die mit Methoden der Lebensmittelverarbeitung durch Verlängerung der Haltbarkeit oder durch recht exakte Angaben über Verfall und Verderb von Nahrungsmitteln ermöglicht wird. Sie genießen die Vorteile, mit Tiefkühlkost, Konserven oder Importfrüchten den Vorgaben jahreszeitlicher Rhythmen zu entgehen und sparen Zeit, wenn industriell verarbeitete Fertiggerichte nur noch erwärmt werden müssen. Die Rolle der privaten Haushalte im Ernährungssystem verändert sich im Zuge dieser zunehmenden Ubiquität und Omnitemporalität des Ernährungssystems und ist durch eine umfassende Verlagerung von Arbeiten aus den Haushalten hin zum Markt charakterisiert. War das Einkochen von Obst und Gemüse zu Beginn der 1950er Jahre in Deutschland noch eine sehr weit verbreitete Praxis, geht der Zeitaufwand für diese Tätigkeit im Zuge fallender Preise für Konserven in den 1960er und 1970er Jahren drastisch zurück:
"Arbeiten, die ehemals manuell im eigenen Haushalt erledigt wurden, übernahm nun zunehmend die Lebensmittelindustrie. Gemüse musste nicht mehr selbst geputzt werden, sondern war in Dosen kochfertig verfügbar. Geschälte Kartoffeln gab es im Glas, Obstkonserven enthoben die Hausfrau des mühseligen Entsteinens. Die Verwendung von Konserven bedeutete aber zugleich eine wesentliche Veränderung der Konsumpraxis. Die Selbstversorgung verlor ihren Stellenwert für das tägliche Essen, stattdessen nahm die Monetarisierung des Konsums zu" (Wildt 1994: 131).
Bei der Monetarisierung und Kommodifizierung der Ernährung handelt sich um einen ambivalenten Prozess, der auf der einen Seite Arbeitserleichterungen durch den Konsum von vorgefertigten Nahrungsmitteln in den privaten Haushalten mit sich bringt und Frauen die Vereinbarung von Berufs- und Versorgungsarbeit erleichtert.8 Gleichermaßen wird aber die Marktabhängigkeit gesteigert. Die KonsumentInnen verlieren in dieser Struktur direkte Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten auf die Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln. Durch die räumliche und zeitliche Trennung von Produktion und Konsum und eine zunehmende Verarbeitungstiefe erleben VerbraucherInnen aber auch eine "affektive Distanz" von den "Mitteln zum Leben", die sie essen: Am Ende der globalen Ernährungsketten situiert, ist die Erfahrungswelt der VerbraucherInnen von den Produktionsorten und Reifezeiten der Nahrungsmittel abgeschnitten und durch ein zunehmendes Nicht-Wissen über Herkunftsort und Saisonalität, über die Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft oder die Zusammensetzung veredelter Produkte geprägt. Eine Vielzahl von Lebensmittelskandalen wie die BSE-Krise oder der Nitrofenskandal haben in den letzten Jahren die Risiken des Ernährungssystems verdeutlicht. Dabei handelt es sich um industriell erzeugte Risiken, die vom Typ her unsichtbar sind, lange unbemerkt wirken und erst dann als Folgen menschlichen Handels sichtbar werden, wenn sie sich in Form von Symptomen materialisieren (Adam 1998). In der Regel ist es nur durch wissenschaftliche Expertenanalysen möglich, eine gesundheitsgefährdende Belastung von Nahrungsmitteln festzustellen. VerbraucherInnen können die Qualität und Sicherheit der Lebensmittel nicht auf der Basis ihres Erfahrungswissens einschätzen.

3. Wege für einen nachhaltigen Konsum im Ernährungsbereich

In der Nachhaltigkeitsdebatte bewegt sich der Blick auf die privaten KonsumentInnen zwischen kontrastierenden Polen: Einer Betonung der Abhängigkeit von den vorgekochten Fertiggerichten und den Geschmacksvorgaben der Ernährungsindustrie steht die Einschätzung gegenüber, dass VerbraucherInnen mit ihren Konsumentscheidungen ein hohes Maß an Gestaltungsmacht haben und Umweltbelastungen bereits mit der Nachfrage beginnen. Wahlweise werden KonsumentInnen aufgrund mangelnden Ernährungswissens und fehlender Kochkenntnisse entweder als Unterdrückte einer bevorstehen "Diktatur der Tüte" (Hutter 2004) angesehen oder als "König Kunde" für den nachhaltigen Wandel des Ernährungssystems verantwortlich gemacht. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Skizze des Ernährungssystems wird erstens deutlich, dass alle Akteure des Ernährungssystems in Nachhaltigkeitsstrategien einbezogen werden müssen. Dabei gilt es z.B. anzuerkennen, dass es Lebensmittelindustrie und Handelsunternehmen sind, die über Produktinnovationen und Nahrungsmittelzusätze entscheiden und ein dementsprechend hohes Maß an Gestaltungsmacht in diesem Bereich haben. Zweitens ist es notwendig zu fragen, welche Handlungsrestriktionen und -möglichkeiten für private KonsumentInnen in ihren täglichen Konsum- und Ernährungsentscheidungen bestehen, um geeignete Wege für einen nachhaltigen Konsum im Bedürfnisfeld Ernährung zu entwerfen.9 Dabei sollen drei Ansätze diskutiert werden, welche die Veränderung individueller Ernährungspraxen mit grundsätzlichen Umgestaltungen im Verhältnis von Produktion und Konsum resp. der Rolle privater Haushalte im Ernährungssystem verkoppeln. Sie beziehen sich:
- auf die Transformation von strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen Kaufentscheidungen getroffen werden,
- auf die Entlastung privater Haushalte durch veränderte Angebotsstrukturen,
- auf das "Empowerment" privater KonsumentInnen.

3.1 KonsumentInnen als Bündnispartner für Nachhaltigkeit?

Um die Entscheidungs- und Gestaltungsmacht von privaten KonsumentInnen zu erhöhen, hat das BMVEL mit großem Aufwand das bundeseinheitliche Bio-Siegel zur Kennzeichnung von Produkten aus kontrolliert biologischem Anbau (nach EU-Verordnung) eingeführt, eine Kampagne zur Information über fair gehandelte Produkte finanziert und immer wieder an die KonsumentInnen appelliert, Nachhaltigkeitskriterien beim Kauf von Lebensmitteln zu berücksichtigen. Die Strategie, die KonsumentInnen für eine Agrar- und Ernährungswende zu gewinnen, basiert zu Recht auf der Betonung von Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der VerbraucherInnen, läuft aber immer auch Gefahr, individuelle Konsumentscheidungen zu moralisieren und Handlungsmöglichkeiten bzw. -restriktionen der KonsumentInnen und die strukturell angelegten Barrieren für eine Veränderung von Ernährungsmustern im Sinne einer Agrar- und Ernährungswende nicht ausreichend zu berücksichtigen: Dazu gehört, wie seit Beginn der Nachhaltigkeitsdebatte betont wird, dass die Preissignale für den Konsum (langfristige) ökologische Kosten externalisieren und die Ubiquität des Ernährungssystems auf dem Konsum von Waren aus aller Welt basiert, deren Preise nicht "die ökologische Wahrheit" sagen (Spangenberg/Lorek 2001). Denn preislich gesehen spielen die Distanzen keine Rolle und ökonomisch betrachtet sind die größeren Entfernungen, die in den Mahlzeiten automatisch mit gegessen werden, unsichtbar.10 Da der Konsum im Ernährungssystem durch die affektive Distanz und die räumliche und zeitliche Entkoppelung von Produktion und Konsum geprägt ist, werden individuelle Kaufentscheidungen in modernen Supermärkten und Discountern durch Preissignale, aber auch durch die Bilder der Werbewelt beeinflusst, welche die unmittelbare Erfahrungswelt im Konsumgeschehen prägen und das Produktimage geschickt mit unbewussten Wünschen (in Bezug auf Prozesse der Identitätsbildung oder der sozialen Distinktion) verknüpfen. Eine "Renovierung dieser Bilderwelt" fordern Verbraucherorganisationen z.B. im Streit um die Vermarktung von Eiern aus Käfighaltung mit Bildern von frei laufenden Hühnern und alten Bauernhöfen. Sie wollen eine Novellierung des Wettbewerbsrechts, das veraltet und nur anbieterorientiert sei, indem es Abbildungen nicht als "relevante Informationen", sondern auch als "Gestaltungselemente" definiere. In die gleiche Richtung zielt die Forderung, alle Inhaltsstoffe zu deklarieren und Auskunft über die durchgeführten Produktionsprozesse zu geben, um den VerbraucherInnen eine ausreichende Entscheidungsgrundlage zu bieten und eine größere Wahlfreiheit zu gewährleisten.11 Nicht zuletzt ist der Konsum von Nahrungsmitteln von Ernährungsmustern geprägt, die auf sozial unterschiedliche Lebensstile zurückgehen und eine milieuspezifische Verschiedenheit der Geschmäcker spiegeln. Neuere Nachhaltigkeitsansätze zielen darauf ab, in Veränderungsstrategien für einen nachhaltigeren Konsum an sozial differenzierte Ernährungsstile anzuknüpfen, auf Motivlagen der Betroffenen einzugehen (z.B. stärkere Gesundheitsorientierung) und darauf abgestimmte Umstellungsvorschläge zu entwickeln (Empacher 2004):
"Geschmäcker lassen sich aber nicht so leicht verändern. Ernährungsbezogene Nachhaltigkeitsstrategien müssen dies berücksichtigen und in Rechnung stellen, dass (...) eine nachhaltigere Lebens- und Ernährungsweise ohne Überforderung der Individuen nur in vielfältigen Kompromissbildungen vor sich gehen kann" (Brunner 2002: 260)
Zieht man eine Bilanz der Handlungsmöglichkeiten und -restriktionen der KonsumentInnen im Machtgefüge des Ernährungssystems, dann zeigt sich, dass für einen tiefgreifenden Wandel des Konsums im Ernährungsbereich nicht nur eine Veränderung individueller Kaufentscheidungen notwendig ist, sondern auch die Anreizsysteme und Kontexte, in denen Kaufentscheidungen getroffen werden, in die Umgestaltung einbezogen werden müssen. Sonst bleiben KonsumentInnen prekäre Bündnispartner auf dem Weg in ein nachhaltigeres Ernährungssystem und beharren mit ihren Konsumentscheidungen auf einem Ernährungssystem, das - wie im Schlaraffenland - eine breite Palette an Nahrungsmitteln zur Verfügung stellt, in dem aber die sozialen und ökologischen Kosten mit den Bildern der Werbewelt verdeckt sind und Risiken nur in Form kurzfristiger Skandalisierungen aufbereitet werden, um dann wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis der VerbraucherInnen gestrichen zu werden.

3.2 Eine nachhaltige Kantinenkultur

Nicht zuletzt im Kontext der Debatte um Übergewicht bei Kindern ist immer wieder an "Familien" appelliert worden, regelmäßige Mahlzeiten mit frisch verarbeiteten Lebensmitteln anzubieten und so eine nachhaltige Esskultur (u.a. an den Zielen Gesundheit und Umweltverträglichkeit orientiert) zu fördern. Mit dem Übergang in ein postfordistisches Ernährungssystem ist jedoch das Phänomen einer zunehmenden "Entrhythmisierung der Mahlzeitenordnung" zu beobachten. Im Zuge der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen verliert die bürgerliche Mahlzeitenordnung, die auf einem gemeinsamen Frühstück, Mittag- und Abendessen im Kreis der Familie basierte, an Bedeutung. Weil mit der Erosion des fordistischen Hausfrau-Ernährer-Modells "Zeitpuffer" in den Familien durch nicht erwerbstätige Frauen wegfallen und die Individualisierung der Zeitmuster in den Familien zunimmt, wird es schwieriger, gemeinsame Rhythmen für Familienmahlzeiten zu finden (Schlegel-Matthies 2002). Hinfällig wird dadurch die Vorstellung einer vermeintlich unbegrenzt und kostenlos zur Verfügung stehenden Ressource Versorgungsarbeit, welche in den Appellen an gesunde Ernährung und regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten häufig implizit steckt. In vielen privaten Haushalten wird mit dem gesellschaftlichen Wandel durch die Feminisierung und Flexibilisierung der Beschäftigung und der zunehmenden Zahl allein Lebender die Zeit für Versorgungsarbeit knapper. Die Rolle der Haushalte als "elastische Zeitressource" (Elson 1992) geht zunehmend verloren. Die Frage ist, wie angesichts des Verlustes "informeller Flexibilitätsreserven" in den Familien eine zukunftsfähige Organisation von Versorgungsarbeit im Ernährungsbereich aussehen kann (Vinz 2005). Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit als einer zentralen Norm nachhaltiger Entwicklung sind ökologische Ent- und zeitliche Belastungen im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Verteilung zwischen den Geschlechtern zu thematisieren und Nachhaltigkeitsstrategien zu finden, welche eine "Privatisierung und Feminisierung von Ernährungs- und Umweltverantwortung" vermeiden. Daher ist es notwendig, Organisationsformen der Versorgungsarbeit zu finden, welche die Last der Veränderung nicht allein den KonsumentInnen überlassen, sondern mit einer Veränderung der Angebotsstrukturen die Ausgangsbasis für veränderte Praxen der Ernährung zu schaffen (Brunner 2004). Für die Förderung einer nachhaltigen Esskultur sind dementsprechend Nachhaltigkeitsallianzen im Bereich der institutionellen Gemeinschaftsverpflegung und ein Ausbau von Kantinen und Mensen für Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen oder auch Betrieben notwendig. Ein Schub für die Stärkung einer nachhaltigen Kantinenkultur in Deutschland könnte sich beispielsweise aus dem Vorhaben der Bundesregierung ergeben, im Rahmen des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" 10.000 neue Ganztagsschulen aufzubauen. Um die Chance nicht zu versäumen, hohe Qualitätsstandards in Bezug auf die Ernährung und Nachhaltigkeit zu verankern, warnt der DGE-Arbeitskreis "Ernährung und Schule" davor, "Schulverpflegung ausschließlich bzw. vorrangig unter ökonomischen Gesichtspunkten auszuwählen" (Arbeitskreis "Ernährung und Schule" (DGE) 2003; Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003) und den Angeboten der Schnellrestaurant-Ketten und der Catering Services nachzugeben, die derzeit durch Deutschland reisen und die Schulen mit günstigen Vertragsabschlüssen zu ködern versuchen. Dementsprechend hat auch das BMVEL ein mehrjähriges Schwerpunktprogramm gestartet, um Ernährungsaufklärung und -bildung an den Schulen zu unterstützen und die Qualität der Mittagsverpflegung an Ganztagsschulen zu sichern (Wollersheim 2004). Dabei steht allerdings die Orientierung an Kriterien einer vollwertigen und gesunden Auswahl von Nahrungsmitteln stärker im Vordergrund als die Berücksichtigung regional oder ökologisch produzierter Produkte. Wie weit die Nachhaltigkeit der Gemeinschaftsverpflegung im Hinblick auf die Umweltqualität und den Gesundheitswert der verwendeten Nahrungsmittel schwanken kann, zeigt das Beispiel der USA, wo die Schulen an den Vertrieb der großen Getränkehersteller (Cola, Fanta etc.) gebunden sind und gedrängt werden, "den Schülern unbegrenzt Zugang zu den Automaten zu gewähren und es den Schülern zu erlauben, im Klassenzimmer Cola zu trinken" (Moore 2002: 145). Mit dem Aufbau von Ganztagsschulen bietet sich in Deutschland nun die Perspektive, dem Ziel der Agrarwende entsprechend den Konsum von regional oder biologisch produzierten Nahrungsmitteln zu fördern und entsprechende Mahlzeitenangebote in den Schulkantinen auch finanziell zu unterstützen. Die Ausweitung einer an Nachhaltigkeitskriterien orientierten Mittagsverpflegung an Ganztagsschulen erfasst jedoch nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Mit dem hegemonialen Konzept der Halbtagsschule wird jedoch noch immer vorausgesetzt, dass Eltern mittags Zeit haben, für ihre Schulkinder zu kochen. Welche Auswirkungen die Hartz-Reformen, die Unterfinanzierung von öffentlichen Halbtagsschulen oder der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen auf das Ernährungsverhalten von Kindern haben, steht auf einem anderen Blatt.

3.3 Empowerment von KonsumentInnen

Eine sehr viel tiefer greifende Neuorientierung in der Produktentwicklung und -gestaltung basiert auf dem Umbau asymmetrischer Machtverhältnisse zwischen Herstellern und KonsumentInnen. Mit dem Vorschlag für ein "technologisches Empowerment" wird in der Nachhaltigkeitsdebatte eine Strategie für den Weg zur nachhaltigen Gestaltung von Produkten und Stoffen entworfen (Schultz 2001; Weller 2004)12. Um die Gestaltungsmacht der KonsumentInnen durch Formen direkter Demokratie zu erhöhen, wird beispielsweise gefordert, sie an Entwicklungs- und Gestaltungsprozessen zu beteiligen, ihre Alltagskenntnisse gegenüber dem Wissen von technischen Experten als gleichwertig anzuerkennen und so eine verbesserte Produktgestaltung - orientiert an unterschiedlichen Alltagserfordernissen - zu ermöglichen. Dies korrespondiert mit der Forderung, die Alltagsperspektive in Ernährungspolitik und -forschung besser zu integrieren und, als Voraussetzung für eine erfolgreiche Nachhaltigkeitskommunikation, die primär naturwissenschaftlichen Perspektiven der Ernährungswissenschaft mit konkreten gesellschaftlichen Ernährungsverhältnissen zusammen zu denken (Rehaag/Waskow 2004). Nach Weller (2004) könne nur im Rahmen eines "technologischen Empowerments" z.B. durch direkte Mitsprache in der Produktentwicklung und -gestaltung die Gestaltungsmacht der EndverbraucherInnen tatsächlich erhöht und der partizipative Anspruch des Nachhaltigkeitskonzepts erfüllt werden. Wie allerdings ein Empowerment der KonsumentInnen im Ernährungsbereich konkret aussehen soll, ist bisher eine Leerstelle in der Nachhaltigkeitsforschung: Gibt es im Sinne der Qualitätssicherung Interessenallianzen zwischen Produzenten und NutzerInnen? Ist die verarbeitende Industrie bereit, für partizipative Verfahren zusätzliche Kosten und Zeitaufwand zu akzeptieren, oder ist der Spielraum für technologisches Empowerment durch marktbedingt immer kürzer werdende Innovationsrhythmen zu klein? Weller geht mit dem Empowerment-Konzept noch weiter, wenn sie darüber hinaus fordert, dass Produktentwicklung und -gestaltung auch die "Reproduktionsfähigkeit von Natur und Gesellschaft" berücksichtigen und eine vollständige Information der KonsumentInnen gewährleisten müsste. Diese Forderung birgt Konflikte: Bisher war es weder durchsetzbar, dass die Lebensmittelindustrie eine vollständige Transparenz über Produktionsprozesse und die verwendeten Stoffe herstellt, noch möglich, einen gesellschaftlichen Konsens zu finden, die Herstellung und den Konsum von Nahrungsmitteln wie Fleisch mit hoher Umweltbelastung zu reduzieren oder eine breite Akzeptanz für Preiserhöhungen von Nahrungsmitteln herzustellen, die unter Einhaltung von sozialen und ökologischen Standards produziert werden. Sollen Fragen dieser Art durch Ermächtigung der KonsumentInnen im Rahmen partizipativ angelegter Prozesse mit den Herstellern verhandelt werden? Und sind nur zukünftige NutzerInnen (mit hoher Kaufkraft) an der Demokratisierung von Produktentscheidungen zu beteiligen oder auch diejenigen, die von Umweltfolgen westlicher Produktions- und Konsummuster (z.B. durch Klimawandel) negativ betroffen sind? Wenn die moderne Konsumgesellschaft aufgrund der globalen ökologischen Krise an ihre Grenzen gelangt und sich grundlegend verändern muss, um Bestand zu haben, bleibt offen, ob ein "technologisches Empowerment" diesen Transformationsprozess vorantreiben kann. In der "Plattform für Ernährung und Bewegung e.V.", die vom Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) gegründet wurde, um der Zunahme von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken, sind KonsumentInnen als "ExpertInnen des Alltags" nicht einbezogen. Dafür beteiligen sich neben Krankenkassen, dem Sportbund, Gewerkschaften, KinderärztInnen durch finanzielle Unterstützung und aktive Mitarbeit auch der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. (BLL) als Vertretung der Lebensmittelindustrie. Deren Beteiligung an dem Fonds war die Drohung von Verbraucherministerin Künast vorangegangen, die Ernährungsindustrie zu Zwangszahlungen in einen Fonds für eine bessere Ernährungsaufklärung zu verpflichten. Verbraucherorganisationen wie z.B. Foodwatch (2004) kritisieren zum einen, dass in dem Gremium die Vertreter der Lebensmittelindustrie sitzen und sich selbst kontrollieren sollen. Sie bemängeln zum anderen jedoch eine einseitige Schuldzuweisung an die Industrie, mit der ausgeblendet werde, dass dicke Kinder überproportional häufig in sozial schwachen Familien zu finden seien. Die Zukunft der Kinderernährung hänge vielmehr auch von den Auswirkungen der Hartz IV Reformen ab und sei durch den Mangel bezahlbarer Betreuungsmöglichkeiten mit einer guten Mittagsverpflegung bedingt. Die Frage ist, ob eine Auseinandersetzung mit den Betroffenen durch Partizipation ganz andere Folgen für die Politikgestaltung haben würde als die Organisation von Koch- und Sportkursen und den Blickpunkt auf Fragen der Finanzierung nachhaltigen Konsums für sozial Schwächere richten würde.
Für die Förderung nachhaltigen Konsums und zukunftsfähiger Ernährungsstile ist eine Ernährungspolitik erforderlich, die als integratives Konzept Umwelt- und Agrarpolitik mit Bildungs-, Familien-, Sozial- und Gesundheitspolitik verknüpft. An die Stelle einer Moralisierung von Kaufentscheidungen und einer "Privatisierung und Feminisierung von Umweltverantwortung" (Weller 2004) tritt die Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen, in denen Kaufentscheidungen getroffen werden, zu verändern, alltagsangepasste Angebotsstrukturen zu schaffen und die Gestaltungsmacht privater KonsumentInnen durch Partizipation und Ernährungsbildung zu erweitern.

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1 Der Begriff des Ernährungssystems wird gewählt, um das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen - Produktion, Verarbeitung, Handel, Konsum - zu erfassen (Tansey/ Worsley 1995). Das Konzept des Ernährungssystems verknüpft drei Bereiche: auf biologischer Ebene die sozial-ökologischen Prozesse, die der Produktion von Nahrungsmitteln zugrunde liegen und deren ökologische Nachhaltigkeit; auf ökonomischer und politischer Ebene die Macht und Kontrolle verschiedener Akteursgruppen über die verschiedenen Teile des Ernährungssystems; auf sozialer und kultureller Ebene die persönlichen Bindungen, Gemeinschaftswerte und kulturellen Traditionen, die den Konsum von Lebensmitteln charakterisieren.

2 In der Massentierhaltung werden mehr Nahrungsmittel verbraucht als neu geschaffen. Ca. sieben bis zehn Kilogramm Getreide, die dann für die Welternährung nicht mehr zur Verfügung stehen, werden für ein Kilogramm Fleisch verfüttert. Gleichermaßen verfüttern Aqua-Farmer mehr wild gefangenen Fisch als sie an Zuchtlachs produzieren. Kadaververfütterung, Fischmehl, Hormone, Antibiotika und BSE belegen den Fall der Qualitätsstandards in der Nahrungsmittelproduktion (Schwendter 1995: 234). Dabei geht die Beschleunigung und Kontrolle der generativen Zeiten tierischen und pflanzlichen Wachstums nicht nur zu Lasten der Qualität: der Qualität der Lebensmittel und der Lebensqualität der betroffenen Tiere. Sie geht auch zu Lasten der Umwelt, denn die erzielten Produktivitätssteigerungen sind prinzipiell mit einem hohen Einsatz von Energie und Chemikalien verbunden. Die Landwirtschaft hat somit ihre alte metabolische Bedeutung verloren, durch das Einfangen und die Kontrolle von Solarenergieflüssen wichtigster Energielieferant zu sein. Stattdessen hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und den USA eine Form der Produktion durchgesetzt, die durch den Rückgriff auf fossile Energien vom Energielieferanten zum Energieverbraucher geworden ist (Bowler 1992). Nur noch 2% der Bevölkerung Beschäftigung bietend, ist die Landwirtschaft zu einem "bloßen Sektor der Industrie" (Sieferle 2000: 14) geworden.

3 Dem Interesse an einem gesundheitlichen Nutzen der Ernährung sollen in der Zukunft Functional Food Produkte verstärkt entgegenkommen, die herkömmliche Nahrungsmittel umfassen, denen zusätzlich Anteile an angeblich gesundheitsfördernden Zutaten beigefügt werden: Probiotische Milchprodukte, Getränke mit Vitamin-, Kalzium- oder Eisenzusatz, Brotaufstriche mit cholesterinsenkender Wirkung oder hyppoallergene Babynahrung. Zunehmend werden damit auch Grenzen zwischen Nahrungsmitteln und Medikamenten aufgelöst.
4 Dabei definieren 27% der Befragten, dass Dosengemüse, mit Butter und Kräutern verfeinert, eine selbstzubereitete Beilage darstellen; ebenso viele finden, dass ein Kuchen auch dann selbstgemacht sei, wenn er aus einer Backmischung unter Zugabe von Eiern und Milch zusammengestellt wird (ebd.).

5 Um dem Ziel der Agrarwende - ein ökologisch orientierter Umbau des Ernährungssystems durch die Steigerung ökologisch bewirtschafteter Flächen auf über 20% - gerecht zu werden, ist der Vertrieb von Convenience Produkten im Naturkosthandel vielfach begrüßt worden, um breitere KäuferInnenschichten zu erreichen. Dabei wird jedoch übersehen, wie problematisch es aus Nachhaltigkeitsperspektive sein kann, wenn sich "Bio-Produzenten der Marktlogik unterwerfen müssen, einem Preisdruck ausgesetzt werden, mehr Verpackungen akzeptieren müssen, zunehmend Fertiggerichte anbieten und Produkte über größere Entfernungen liefern sollen" (Brunner 2001: 215).

6 Bislang galten chemisch produzierte Aromastoffe als gesundheitlich unbedenklich. Es gibt jedoch in den Ernährungswissenschaften eine Minderheitenposition, wonach Aromastoffe nicht vorhandene Nahrungsbestandteile wie Fleisch, Obst oder Gemüse vortäuschen, auf die der Körper mit gesteigertem Appetit reagiert und auch bei vollem Magen zum Weiteressen von tatsächlich extrem zucker- und fetthaltigen Nahrungsmitteln anregt.

7 Am Beispiel der Margarine "Rama" illustriert Wildt (1994) die Naturalisierung industriell erzeugter Lebensmittel in den 1960er Jahren: "Der Versuch, ?Rama' durch die Goldverpackung, die Zusätze ?Delikatess' und ?mit dem naturfeinen Geschmack', nicht zuletzt durch den Namen selbst (Rama - Rahm), von der industriellen, synthetischen Produktion auf die Ebene der ?natürlichen', ?guten' Butter zu heben, verleugnete explizit die tatsächliche Substanz, die nach wie vor nichts anderes als Margarine war. Die Verpackung wurde zur Projektionsfläche einer Pluralität von Bedürfnissen, das Signifikat löste sich vom Referenten, jetzt endlich war das Feld frei für jegliche semiotische Codierung" (ebd.: 176). Als charakteristisches Beispiel für die filmische Werbestrategie der natürlichen Herstellung eines Produktes verweist Karmasin (1999) auf die Kampagne zur Einführung des Fruchtjogurts Landliebe in den 1990er-Jahren: "Im Film wird die Herstellung des Fruchtjogurts gezeigt. Man sieht die Kuh, von der die Milch stammt, sie heißt Lisa, sie trägt einen Blütenkranz und ist die Freundin eines kleinen Mädchens. Die Früchte, die in den Jogurt kommen, werden von einer jungen Bauersfrau oder Sennerin in einem kleinen Hüttchen auf einem Brettchen geschnitten, in kleinen Portionen in den Jogurt gerührt und dann ins Glas gefüllt - das ist Landliebe. (...) niemand glaubt wirklich, dass das Unternehmen, das Landliebe herstellt, Tausende von Sennerinnen beschäftigt oder Gösser, Röster und Schnitter. Man versteht die Filme im Sinne einer ?Als-ob-Behauptung': Landliebe schmeckt so, als ob es von einer Sennerin liebevoll hergestellt und frisch zusammengerührt wurde. Bemerkenswert ist jedoch die Erfindung und Inszenierung dieser Naturwelten insgesamt: Was sie darstellen, ist der Traum von einer Welt, in der die Verhältnisse der modernen Industriegesellschaft, der individualistischen Marktkultur mit ihrer Wertschätzung von Fortschritt, Leistung, Wettbewerb außer Kraft gesetzt sind" (Karmasin 1999: 277).

8 Mit der Verlagerung von Arbeiten aus den Haushalten an den Markt geht die Ausweitung weiblicher Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie und im Einzelhandel einher. Diesen Prozess haben Goodman und Redclift (1991) mit dem Slogan "Women into Factories, Food into Freezer" plakativ umschrieben - nicht als Ursache-Wirkungs-Verhältnis, sondern als "interdependence of changes in the labour market and changes in the production and consumption of food commodities" (Goodman/Redclift 1991: 14). Seit den 1970er-Jahren ist durch die Ausweitung von Fastfood-Ketten, ausländischen Spezialitätenrestaurants und Gaststätten der Umfang der Dienstleistungsangebote im Ernährungssektor stark gestiegen. Damit ist ein weiterer Sektor geschaffen worden, in dem die Mehrzahl der Arbeitsplätze von Frauen eingenommen wird. Es handelt sich dabei allerdings in der Regel um prekarisierte Arbeitsverhältnisse, die als Teilzeitarbeitsplätze hochgradig flexibilisiert und im Niedriglohnbereich angesiedelt sind.

9 Dabei wird Nachhaltigkeit in den gängigen Studien mit den Zielen konkretisiert, den Fleischkonsum zu reduzieren und gering verarbeitete Lebensmittel zu bevorzugen. Weiterhin wird Nachhaltigkeit damit assoziiert, Produkte aus ökologischer Landwirtschaft, saisonale und regionale Nahrungsmittel und Produkte aus "fairem Handel" zu konsumieren. Nachhaltigkeit bezieht jedoch weitere soziale und ökonomische Dimensionen ein, z.B. durch falsche Ernährung verursachte Gesundheitsrisiken zu mindern und zu vermeiden, dass sozial schwache Schichten aufgrund mangelnden Ernährungswissens stärker von ernährungsbedingten Krankheiten betroffen sind als andere (Brunner 2004).

10 Der Lebensmittelkonsum Deutschlands ist in den letzten 30 Jahren nur leicht angestiegen (gemessen in Kilogramm pro Kopf), der Transportaufwand hat sich jedoch im Zeitraum von einer Generation fast verdoppelt. Obwohl also bei den Mahlzeiten größere Entfernungen "mitverzehrt werden", sind die Nahrungsmittelausgaben prozentual gesunken (Böge/von Winterfeld 1995: 110).

11 Die Ausrichtung von Konsumentscheidungen an Produktinformationen erfordert jedoch entsprechende kognitive Kompetenzen im Deuten von Inhaltsangaben und die Bereitschaft, hierfür Zeit aufzuwenden.

12 (Technologisches) Empowerment von KonsumentInnen ist nach Schultz (2001) und Weller (2004) integraler Bestandteil feministischer Nachhaltigkeitsstrategien und notwendig, um Machtasymmetrien zwischen Produktion und weiblich konnotiertem Konsumbereich aufzubrechen.

in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 138, 35. Jg., 2005, Nr. 1