Von Hegemonie bis Justiz

Zum Erscheinen des Bandes 6 des Historisch-Kritischen Wörterbuches des Marxismus

Die Vorbereitungen für das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) begannen schon 1984. Nach zehn Jahren erschien 1994 der 1. Band, seither folgte etwa alle 2 Jahre ein neuer Band...

...

2004 erschien der Band 6/I und nun - ganz frisch - liegt auch der Band 6/II vor. Beide decken die Stichwörter von H bis J ab, von Hegemonie bis Imperialismus und von Imperium bis Justiz.[1]
Doch wozu überhaupt ein solches Wörterbuch? Nach dem Zusammenbruch der Staatssozialismen nebst der alten Weltordnung und der hegemonialen Etablierung des Neoliberalismus drohte der Marxismus sehr schnell aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt zu werden. Zugleich bot sich aber auch die Chance, eine historischkritische Bestandsaufnahme zu leisten, jetzt - da die lähmende Entgegensetzung von Ost und West mit ihren unterschiedlichen Unterdrückungs- und Marginalisierungsformen kritischen Denkens aufgebrochen war. Aber zunächst schien sich kritisches Denken im Moment des Geschichtsbruchs zurück zu ziehen.
Doch ein unerledigtes Projekt wird nicht einfach verschwinden, solange die Existenzprobleme, auf die es zu antworten begonnen hat, nicht gelöst oder bedeutungslos geworden sind. Nachdem die Bewegungen der 68er, dann der Frauen- und der Ökobewegung sich bis zu Beginn der 1990er Jahre nach und nach zersetzten (indem sie sich institutionalisierten und weitgehend im neoliberalen Projekt absorbiert wurden), galt es, das zerklüftete Wissen der unterschiedlichsten marxistischen Traditionen zunächst aufzuarbeiten und zu bewahren - einer Flaschenpost gleich, die an noch unbekannte spätere Empfänger gerichtet war und ist. Ein historisch-kritisches Wörterbuch kann sich dabei auf die besten Traditionen kritischen Denkens stützen, auf die Herätiker im Osten, auf den so genannten "westlichen Marxismus" - beide gehörten zu den härtesten Kritikern staatssozialistischer Kanonisierung des Marxismus-Leninismus (aber auch erstarrter westlicher Traditionsmarxismen) -, und galten jüngeren Marxisten als Referenzpunkte für einer Perspektive, in der "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".[2] Nicht zu vergessen sind die Bewegungs-Marxismen, die Marxismen der Sache selbst, die anti-koloniale Erneuerung aus dem Süden, Feminismus etc. Unterschiedlichste plurale Formen von Marxismen oder angelagerten Richtungen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen.
Nichtsdestoweniger gilt es, auch zur Staatsideologie geronnenen Marxismus zu betrachten, ihn ideologiekritisch aufzuarbeiten, seine Blockaden, Zensurbestrebungen, Verbrechen - aber auch seine Widersprüche, in denen sich hoffnungsvolle Versuche und widerständiges Denken immer wieder herausbildeten. Bei aller Distanz und harten Kritik geht es nicht um eine Abrechnung mit dem Marxismus- Leninismus, um Besserwisserei oder Nachtreten nach seinem Niedergang, sondern im Sinne Benjamins um eine rettende Kritik, die trotz aller Deformationen die rationalen Elemente und emanzipativen Impulse herausdestilliert. Ein solche Form der Kritik ist notwendig, um für zukünftige Gefahren der Ideologisierung emanzipativer Projekte durch Erfahrung gewappnet zu sein und gleichzeitig Errungenschaften des Denkens nicht dem Vergessen einheim zu geben.
Es gilt also, diese Pluralität von Wissensbruchstücken, die der Gefahr der geschichtsvergessenen Desartikulation ausgesetzt sind, vor dem Hintergrund gegenwärtiger Verhältnisse neu zu reartikulieren. Reartikulation meint dabei nicht eine neue/alte geschlossene Weltanschauung zu zimmern, ein kohärentes Ganzes zu präsentieren, sondern das, was der Herausgeber Wolfgang Fritz Haug mit Bezug auf Nietzsche "philosophieren mit dem Hammer" nennt. Die Form des Wörterbuchs liefert über die Struktur des Alphabets eine Ordnung, die selbst Unordnung darstellt, indem Zusammenhänge in unterschiedlichste Stichwörter auseinander gerissen werden und so zahlreiche Brüche und Verbindungen, unterschiedliche Neuansätze und Gegenpositionen ermöglichen, ohne in ein zusammenhangloses pseudo-pluralistisches Ganzes zu zerfallen. Denn alle Autoren sind angehalten, nicht nur ihre Position zu formulieren, als vielmehr auch die gegnerische Position anderer in der Geschichte und Aktualität bedeutsamer Autoren darzustellen und kritisch zu reflektieren. Heraus kommt keine unvermittelte, sondern eine dialogische Pluralität eines lebendigen Marxismus (zumindest im Prinzip).
Mittlerweile kann man vielleicht sagen, dass die ersten Exemplare dieser Flaschenpost an Land driften, auf neue Empfänger treffen. Seit nunmehr zehn Jahren hat sich eine transnationale globalisierungskritische Bewegung in ihren Anfängen herausgebildet. Die gesellschaftliche Auftreffstruktur hat sich angesichts wachsender Ungleichheiten, Unsicherheiten und Repräsentanzprobleme verändert. Gesellschaftliche Konflikte beginnen sich erneut zu verdichten. Nach anfänglichen medialen Erfolgen ist die Euphorie der ersten Phase von Protestbewegung abgeebbt. In den Bewegungen, gerade auch bei Jüngeren, wird das Bedürfnis nach kritisch-analytischen Werkzeugen und Begriffen wieder spürbarer. Das Interesse an erneuerter marxistischer und anderer Theorie wächst. Dafür sprechen nicht nur Kassenknüller wie Hardt/Negris Empire, sondern der Versuch, sich kritisches Wissen jenseits der geräumten Universitäten mühsam anzueignen - bei den Piqueteros, bei Attac, den Sozialforen auf lokaler, nationaler, europäischer oder auf globaler Ebene etc.
Dabei ist ein wesentliches Element der Arbeit am historisch-kritischen Wörterbuch von besonderer Bedeutung. Dieses Element lässt sich vielleicht als gramscianische Konstellation benennen. Antonio Gramsci hat in einem anderen Moment eines Geschichtsbruchs versucht, eine Neu-Begründung des Marxismus zu leisten. Der Hintergrund war zum einen die Niederlage einer zuvor rasant gewachsenen Linken angesichts der faschistischen Herausforderung. Heute ist es die doppelte oder dreifache Niederlage von real-existierendem Sozialismus und real-existierendem sozialdemokratisch-reformistischem Keynesianismus - und mit ihnen wurden auch die übrigen, stärker kritischen Bewegungen in den Abgrund gerissen. Zum anderen waren Gramsci und die Linke der 20er Jahre mit der Entstehung einer neuen Produktions- und Lebensweise konfrontiert, des Amerikanismus und Fordismus. Heute sind es Hightech-Kapitalismus und Neoliberalismus. Nichts weniger als die Erneuerung marxistischen Denkens, jenseits der alten Gewissheiten ist zu leisten. Das erklärt auch den großen Stellenwert, den Gramsci - neben Marx und unzähligen anderen - einnimmt.
Von Beginn an geht es dem HKWM nicht einfach um die Bewahrung archäologischer Fundstücke des Marxismus. Vielmehr werden in anderen geschichtlichen Konstellationen entwickelte Begrifflichkeiten auf ihre Haltbarkeit und Nützlichkeit für die Klärung gegenwärtiger Verhältnisse geprüft, kritisch hinterfragt, bei Bedarf weiter entwickelt. Dieses Wörterbuch ist keine gelehrte Enzyklopädie, sondern muss sich für die Probleme und Auseinandersetzung heute und morgen als relevant erweisen, eingreifend zur molekularen Veränderung der Verhältnisse beitragen - ansonsten wäre es verzichtbar.
Der innovative Charakter des HKWM liegt auch darin, dass zahlreiche Stichworte, die nicht dem originären Marxismus oder irgendwelchen Traditionen entspringen, aufgenommen wurden. Sie repräsentieren Theoretisierungsversuche neuartiger oder virulent gewordener Problemlagen und Widersprüche, die zuvor nie in einem solchen Rahmen behandelt wurden. Das HKWM versucht, damit einen Impuls für ihre begriffliche Entwicklung zu setzen: ich nenne hier nur einige wenige aus dem Band 6: zuvorderst "hochtechnologische Produktionsweise", "immaterielle Arbeit", "Informationsarbeiter", "Internet", "Informationsrente", "Hirnforschung", "Heimarbeit/ Telearbeit", aber auch "Ich-AG" oder "informelle Wirtschaft" usw. Insgesamt sind es wieder über 170 Stichwörter in Band 6/I und 6/II. Es finden sich auch zahlreiche Stichwörter aus anderen Bereichen, die traditionellerweise nicht dem Marxismus zugerechnet werden, zu denen marxistisches Denken aber relevantes beizutragen hat: etwa aus dem Bereich Ökologie/Naturverhältnisse oder aus dem Bereich Feminismus/Geschlechterverhältnisse. Dieser letzte Bereich hat mittlerweile einen Umfang und eine Qualität erreicht, dass es sinnvoll erschien, ein eigenes historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus zu veröffentlichen. Der erste Band, herausgegeben von Frigga Haug, liegt inzwischen vor.[3]

II. Kritik der hochtechnologischen Produktionsweise

Anhand einiger beispielhafter Stichwörter aus dem Bereich Ökonomie und Arbeit soll versucht werden, die Arbeitsweise und Ergebnisse zu erläutern, warum eine marxistische Herangehensweise sich immer noch als mehr als nützlich, ja unverzichtbar erweisen kann, um die Neuartigkeit gegenwärtiger Umbrüche und gesellschaftlicher Konflikte zu begreifen:
Das Stichwort High-Tech-Industrie beispielsweise widmet sich der Entwicklung von Schlüsseltechnologien und damit verbundener neuer industrieller Branchen - dass es dabei um Industrien geht, die auch heute noch an der Spitze der Wertschöpfungskette stehen, zeigt schon einmal, dass von einem Ende der Industriegesellschaften und der mit ihr verbundenen Konflikte oder dem Ende von Ausbeutung und des Gegensatzes von Kapital und Arbeit etc. keine Rede sein kann.[4] Allerdings haben sich die konkreten Formen von Arbeit, Konkurrenz und internationaler Arbeitsteilung verändert. Die High-tech- Unternehmen integrieren nicht mehr die gesamte Produktionskette unter einem Dach, sondern spezialisieren sich auf die entscheidenden Kernbereiche und verbinden dies mit neuen Formen der internen und externen Arbeitsorganisation. Produktionsentwicklung und Produktion werden dabei entkoppelt, letztere weitgehend an formal selbständige contract manufacturer übertragen, häufig sind das selbst transnationale Konzerne erheblichen Ausmaßes. Paradigmatisch steht dafür das Silicon Valley: als Prototyp intraregionaler Netzwerk- und Clusterbildung ist es gleichzeitig Zentrum globaler Produktionssysteme, in denen Spitzenunternehmen wie Intel, Hwelett-Packard, Cisco und Sun Microsystems technologische Schlüsselstandards setzen und auf diese Weise eine strikte Kontrolle fragmentierter Produktionsprozesse gewährleisten - bei relativer Autonomie der jeweiligen Standorte. Dies ermöglicht ihnen die Realisierung sog. technologischer Extraprofite. Das Stichwort internationale Arbeitsteilung zeigt, wie darüber hinaus gegenüber alten Formen der Arbeitsteilung das Lohnverhältnis global ausdehnt wird und Arbeitsformen des Hightech und Lowtech, von neuen und alten Arbeitsformen, von Autonomie und Hyperausbeutung transnational rekombiniert und verkoppelt werden.[5] Während Netzwerk-Theoretiker wie Castells die neuen Technologien als exogenen Faktor bestimmen, der quasi von außen auf die Gesellschaft einwirkt, sie prägt, verortet eine marxistische Herangehensweise Technik selbst als soziales Verhältnis, Technik im engeren Sinne, Produktivkräfte, Produktions-, Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse werden durch gesellschaftliche Praxis vermittelt, erlangen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihre konkrete Form. Nicht die Entwicklung von Netzwerktechnologien hat zur Entstehung globaler Produktionsnetze geführt, vielmehr haben die bereits in den 50er und 60er Jahren betriebene Internationalisierung der Produktion, der Versuch, sinkende Profitraten durch räumliche Ausdehnung und dann Zersetzung nationaler Kompromisse zu stabilisieren - und nicht zuletzt militär-strategische Überlegungen -, entsprechende Impulse und Investitionen zur Entwicklung neuer Technologien freigesetzt. Technologische Entwicklung, Produktionsstrukturen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen stehen also in enger Wechselwirkung.
Doch die gegenwärtigen Veränderungen gehen über den Bereich der Hightech-Industrien natürlich weit hinaus. Die neuen Technologien durchdringen die gesamte Gesellschaft. Eine neue Produktionsweise als Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen setzt sich durch, verbindet sich mit einer spezifischen Lebensweise. Doch wie soll man diese gesellschaftliche Form nennen? Postfordismus ist ein weit verbreiteter Hilfsbegriff, der aber das Neue eigentlich unbenannt lässt, indem er es einfach dem Fordismus begrifflich nachordnet, als dessen Verfalls- oder Krisenform fasst, ohne die eigene Qualität des Neuen zu begreifen. Das HKWM hat dafür keine fertige Lösung parat, versucht aber mit der Neuschöpfung von Begriffen wie hochtechnologische oder informationstechnologische Produktionsweise Schneisen in die Unübersichtlichkeiten des Übergangs zu schlagen. Im Zentrum dieser Produktionsweise steht nicht nur eine in Artefakten, etwa Chips, verkörperte Technologie, als vielmehr die Repositionierung des Wissens der unmittelbaren Produzenten, der Beschäftigten also, im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Diese Repositionierung ist verbunden mit veränderten Subjektivitäten der Einzelnen, mit staatlichen Politiken der Requalifizierung und Vermarktlichung, mit veränderten Geschlechterverhältnissen etc. Die Verwissenschaftlichung und Subjektivierung der Produktion betrifft nicht nur die high potentials, die Hochqualifizierten, sondern dringt als Anforderung bis in die Bereiche des Niedriglohns vor. Das Kapital beansprucht die Subjekte nicht nur während der Arbeitszeit, begrenzt auf bestimmte funktionale Aspekte, sondern zunehmend total, ihre manuellen Fähigkeiten, wie ihre intellektuellen, einschließlich ihres Charakters, ihrer Psyche und Empathie. Selbstvermarktung, Beschäftigungsfähigkeit, unternehmerisches Denken werden auf das eigenverantwortliche handelnde gesellschaftliche Individuum übertragen. Die Ausbeutung abhängiger Arbeit durch zentrale Kontrolle wird dabei durch Delegation auf das arbeitende Subjekt in Richtung ›Selbstausbeutung‹ verschoben. Diskursiv überhöht bündelt sich das Leitbild zukunftsfähiger Arbeitskraft im Bild der Ich-AG. Das entsprechende Stichwort fasst diese anvisierte Individualitätsform mit Begriffen wie Selbstregulierung der Arbeitskraft, Ökonomisierung des Arbeitsvermögens und Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung. Die Grade der Selbstausbeutung und Autonomie sind allerdings umkämpft und werden durch Zuschreibungen entlang Qualifikation, Klasse, Geschlecht und ethnisch/nationaler Zugehörigkeit überdeterminiert. Das Stichwort Heimarbeit/Telearbeit zeigt, wie darin ganz alte Formen hochtechnologisch reartikuliert werden. Mit der Computerisierung und Vernetzung werden Arbeitsformen, die mit der Entstehung des Fabriksystems als überkommen galten, frühkapitalistische Ausbeutung symbolisieren, nämlich Heimarbeit, als Telearbeit wiedergeboren und mit höchst widersprüchlichen Folgen von partieller Emanzipation und vertiefter Unterwerfung für die Einzelnen verbunden.
Sofern nicht einfach der Zerfall fordistischer Arbeits- und Lebensverhältnisse beklagt wird, steht in der gängigen Diskussion um das Neue ein Begriff besonders im Zentrum, der die Qualität der veränderten Formen der Arbeit zu fassen versucht: immaterielle Arbeit. Von neoliberaler Seite wurde die New Economy als Immaterialisierung der Ökonomie gefeiert: damit verbunden das Ende der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die Irrelevanz oder gar das Ende industrieller Arbeit und mit ihr gesellschaftlicher Gegensätze, sogar die Lösung der ökologischen Krise. Bereiche wie Finanzspekulation oder Werbung schaffen dabei angeblich die größten Werte. - Von linker Seite wird versucht, mit dem Begriff immaterieller Arbeit den Übergang vom alten Massenarbeiter zur Massenintellektualität zu fassen. Darunter fallen nicht nur die hochqualifizierten Tätigkeiten der so genannten Wissensarbeiter aus den Hightech-Industrien, sondern auch alle Dienstleistungstätigkeit, von den Call-Center-Agents bis zur Verkäuferin oder zum Putzmann, auch "affektive Arbeit" wie Zuwendung oder Pflege fällt darunter, bis hin zum Gebären von Kindern.[6] Unterschiedslos werden alle neueren Formen von Tätigkeiten darunter subsumiert, alles ist "produktive Arbeit". Hardt und Negri, die diesen Ansatz maßgeblich entwickelt haben - und zwar unter explizitem Rückgriff auf Marx, der in den Grundrissen den Prozess der Verwissenschaftlichung der Produktion in Ansätzen bereits gegen Ende des 19. Jh. zu fassen suchte - sehen durch die veränderte Stellung immaterieller Arbeit bereits die Kontrolle der Produktion in den Händen der unmittelbaren Produzenten - es fehle quasi nur noch an einem gemeinsamen Bewusstsein. Das Kapital habe seine produktive Funktion verloren und reproduziert sich nur noch parasitär. Da alle Arbeit produktiv ist und nicht mehr in Arbeitszeit gemessen werden könne, sei auch die marxsche Werttheorie obsolet bzw. der Begriff des Werts wird verrückt verallgemeinert und damit sinnentleert - alles schafft Wert. Damit geht allerdings auch die kapitalistische Formbestimmung von Arbeit verloren, wird eine entscheidende Grundlage zum Verständnis von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen preisgegeben.
Spätestens hier wird deutlich, warum eine historisch-kritische Herangehensweise unverzichtbar ist. Es geht nicht einfach um die Intellektualisierung von Arbeit oder die vermeintlich gleichwertige Anerkennung aller gesellschaftlichen Arbeiten, sondern um die genaue Analyse der gesellschaftlichen Organisationsformen der unterschiedlichen Arbeiten. Was unter dem Begriff immateriell gefasst wird, sind zumeist veränderte Formen der Lohnarbeit, ein gesellschaftliches Verhältnis von Arbeitskraftanbieter und kapitalistischem Arbeitnehmer, also Unternehmer. Letzterer wiederum kann aufgrund der erweiterten Produktivkräfte - und tendenziell stagnierender bis sinkender Löhne - sogar einen höheren Mehrwert daraus ziehen. Da es bei immaterieller Arbeit um intellektuelle Produkte oder Dienstleistungen geht, die man anders als die Produkte industrieller Arbeit, etwa Autos oder Waschmaschinen, nicht anfassen kann, glauben viele, das Neue als "immateriell" kennzeichnen zu können. Sehen wir mal davon ab, dass ich meinen Computer immer noch anfassen kann und die Dienstleistung eines Verkäufers auch keine Erfindung des neuen Zeitalters ist, bleibt eine schlichte Verwechslung der stofflichen Seite mit der gesellschaftlichen Formbestimmtheit von Arbeit. Gesellschaftliche Verhältnisse, haben wir gelernt, sind materielle Verhältnisse, warum also sollte die als Lohnarbeit organisierte intellektuelle Arbeit oder Dienstleistungstätigkeit nun nicht mehr materiell sein, nur weil ich sie nicht anfassen kann? Das wäre gut gemeinter Vulgärmaterialismus, dem es nicht mehr gelingt, die Verhältnisse kritisch zu durchdringen und die tatsächlich veränderten Ausbeutungsformen zu analysieren.
Eng mit der These von der Entmaterialisierung, die nicht einmal eine Entstofflichung ist, wenn wir den wachsenden Naturverbrauch bedenken, ist die Idee einer Wissens- oder Informationsgesellschaft verbunden. Ulrich Klotz, einer ihrer Vertreter, schreibt: "In einer Informationsökonomie wird Wert vor allem durch die Anwendung von Wissen vermehrt. Eine Wertschöpfung, in der Mehrwert nicht über Volumen geschaffen wird, unterscheidet sich in zentralen Aspekten von materieller - er meint stofflicher - Produktion, bei der sich die Produktionsfaktoren - (manuelle) Arbeit, Rohstoffe und Kapital - im Prozess verbrauchen. Im Gegensatz dazu ist Wissen eine Ressource, die sich nicht erschöpft, sondern durch ihren Gebrauch sogar noch vermehrt."[7] Erneut finden wir hier die Verwechslung von stofflicher Beschaffenheit der vermeintlichen Ressource und der gesellschaftlichen Organisationsform ihrer Produktion. Im Stichwort Informationsrente wird versucht zu zeigen, wie im Neoliberalismus Wissen als neuer Produktionsfaktor - als ob in früheren Zeiten kein Wissen im Produktionsprozess angewandt wurde - neben Kapital, Arbeit und Boden proklamiert wird. Einträchtig stehen die vier Faktoren nebeneinander, jeder trägt im Sinne der Neoklassik zur Wertschöpfung bei und wird gemäß seines Beitrages entlohnt - das Wissen etwas mehr, das Kapital noch etwas mehr, die Arbeit eben weniger (da Arbeit auf manuelle Arbeit reduziert wird). Abgesehen davon, dass solche Auffassungen der Mystifikation des Kapitals aufsitzen, die Marx in der trinitarischen Formel verspottet hat - zu "Monsieur le Capital und Madame la Terre"[8] -, tritt nun das von der Arbeit abgetrennte Wissen als wertproduzierender Faktor, solche Auffassungen verdrängen, dass Wissen nicht wie Kohle im Boden schlummert, sondern durch Arbeit eingesetzt werden muss, bzw. die Produktion von Wissen selbst auf Arbeit - meist Lohnarbeit - beruht. In der Wissensgesellschaft steht Wissen also keineswegs frei zur Verfügung, charakteristisch ist vielmehr, dass die Produktion des Wissens nicht mehr nur vorwiegend in Wissenschafts- und Bildungsinstitutionen stattfindet, sondern zunehmend in Form von Lohnarbeit in privatkapitalistischen Unternehmen organisiert wird, die sich deren Ergebnisse aneignen. Die daraus erwachsenden technologischen Vorsprünge sichern nicht nur einen Extraprofit gegenüber der Konkurrenz, die Monopolisierung des Wissens ermöglicht zudem noch die Abschöpfung andernorts produzierten Mehrwertes durch so genannte Informationsrenten. Die Verwissenschaftlichung der Produktion vertieft darüber hinaus den Widerspruch zwischen dem zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktion und ihrer privatkapitalistischen Aneignung. Während verwertungsrelevantes Wissen immer stärker in komplexen gesellschaftlichen Systemen erzeugt wird, wächst zugleich das Bestreben zu dessen Privatisierung und Monopolisierung in der Hand einzelner Unternehmen.
Mit dem Stichwort Inwertsetzung wird versucht, einen Begriff zu entwickeln, der diese Prozesse der Verwandlung der Ergebnisse allgemeiner Arbeit in Ware, ihre private Aneignung fasst. Dies schließt die Durchsetzung intellektueller Eigentumsrechte auf transnationaler staatlicher Ebene mit ein. Inwertsetzung betrifft dabei nicht nur neues Wissen, sondern beispielsweise auch traditionelles indigenes oder bäuerliches Wissen, das zur Ware werden von Bildung und Kultur, die Kommodifizierung natürlicher Ressourcen wie Wasser, Biodiversität oder Gene, bis hin zu Körper, Psyche und Charakter.
Damit sind nicht nur hochtechnologische Formen kapitalistischer Aneignung verbunden, es geht auch immer noch und wieder vermehrt um alte imperialistische Praktiken der Aneignung von Ressourcen, Territorien und Arbeit. Doch auch der Imperialismus ist nicht mehr der alte, wie das entsprechende Stichwort zu diskutieren sucht. Die alte interimperialistische Rivalität hat sich transformiert in eine Art transnationalen, kollektiven Imperialismus, der von zahlreichen inneren Widersprüchen durchzogen ist. Dabei ist das klare Bild vom kapitalistischen Zentrum und Peripherie verschwunden, die Peripherien sind bis weit in die Zentren vorgedrungen, in die Hinterhöfe und auf die Straßen der Global Citys, während Teile der Peripherien sich zu neuen Zentren der Kapitalakkumulation entwickelt haben. Hightech und Hyperausbeutung, neue Freiheiten und Refeudalisierung gehen vielfältige Verschränkungen ein, wie zum Beispiel das Stichwort informelle Wirtschaft zeigt.[9]

III. Kein Ende des Marxismus nach seinem Verschwinden

Vom Ende des Marxismus kann also meiner Ansicht nach keine Rede sein. Ein solches im besten Sinne akademisches Projekt wie das HKWM muss notwendig über den akademischen Bereich hinaus die Verbindung zu sozialen Bewegungen halten und erneuern, im Prozess wechselseitiger Veränderung entwickeln - dann kann es für die nächsten 10 vielleicht 20 Jahre, die das Projekt wohl noch benötigen wird, gute Bestands- und Erfolgsaussichten realisieren. Die Chancen stehen nicht schlecht.
Sie sind noch zu verbessern, wenn weitere Unterstützung gefunden wird. Dabei sind Sie, liebe Leserin und lieber Leser, gefragt. Es gibt unterschiedlichste, mehr oder weniger intensive Formen der Unterstützung. Sie reichen von:
- der mündlichen und medialen Verbreitung über die Existenz dieses Projektes;
- über die Initiative, das HKWM lokal vor Ort an der Bibliothek zu etablieren, diese zu Subskription zu bewegen;
- die eigene Subskription der Bände, oder das Überzeugen anderer;
- die Finanzierung einer Druckseite des nächsten, in Arbeit befindlichen Bandes, mit einer Spende in Höhe von 100 EUR - der Name des Spenders erscheint dann vorn auf der Sponsorenseite des nächsten Bandes (natürlich werden auch alle geringeren Spenden gern akzeptiert);
- bis zu einem Abonnement oder dem Kauf der Zeitschrift "Das Argument" oder dem Kauf der Bücher aus dem Argument-Verlag, womit Sie das Projekt indirekt unterstützen können.
Für jene, die sich in den verwinkelten Ecken der Theorie auskennen und angesichts permanenter Problemverschiebungen am Ball bleiben wollen, bietet sich an, über eine direkte Beteiligung an der Arbeit zum HKWM zum Gelingen des Ganzen beizutragen. Die geringste Eintrittschwelle, um nicht gleich mit Arbeit erschlagen zu werden, bietet die virtuelle Werkstatt, in der alle Artikel wieder und wieder diskutiert werden - bis sich ein fertiges Produkt in einer Art kollektivem Prozess herausschält.

Mario Candeias - Jg. 1969, Politologe, Redakteur der Zeitschrift "Das Argument" sowie beim Historisch- Kritischen Wörterbuch des Marxismus; seine Dissertationsschrift "Neoliberalismus - Hochtechnologie - Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise" ist 2004 im Argument Verlag erschienen; zuletzt in UTOPIE kreativ: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare- Staat, in: Heft 165/166 (Juli/August 2004), S. 589-601.

[1] Zum HKWM siehe in UTOPIE kreativ: Jan Rehmann, Michael Wuttke: "Eine epochale Leistung im Marxismus". Workshop zur Marxismusrezeption des Historisch-Kritischen Wörterbuches, in: Heft 172 (Februar 2005), S. 172-177.

[2] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1964, S. 482.

[3] Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus, Hamburg 2003.

[4] "Eine Bestimmung der HTI kann an den sektoralen Strukturen fortgeschrittener kapitalistischer Ökonomien festmachen, aus marxistischer Sicht also an den Veränderungen des Gesamtprozesses der kapitalistischen Reproduktion und ihrer einzelnen Abteilungen. " HKWM, Bd. 6/I, S. 239.

[5] "Zu Beginn des 21. Jh. ist die iA zunehmend durch flexibel integrierte transnationale Produktionsnetzwerke bestimmt, die die Vorteile einer konkurrenziellen und zugleich komplementären Differenzierung von Produktions- und Arbeitsformen kombinieren." Ebenda, Bd. 6/II, S. 1367.

[6] "Dabei wird der Arbeitsbegriff nicht nur über die Grenzen formeller gesellschaftlicher Arbeit ausgedehnt, sondern zudem auf alle möglichen intellektuellen, kommunikativen und emotionalen Tätigkeitsaspekte erstreckt, von der Finanzspekulation bis zum Kindergebären." Ebenda, Bd. 6/I, S. 820.

[7] Ulrich Klotz: Die Herausforderung der Neuen Ökonomie, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 50 (1999) 10, S. 590-608.

[8] Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, S. 838.

[9] "Ob ein allumfassendes Imperium Epoche machen wird, oder ob imperialistische Rivalitäten sich erneut durchsetzen, ist eine ebenso entscheidende wie offene Frage für die Zukunft der Menschheit." HKWM, Bd. 6/I, S. 863.

***

in: UTOPIE kreativ, H. 177/178 (Juli/August 2005), S. 745-752

aus dem Inhalt des Heftes:

VorSatz
Essay

HELMUT BOCK Die schöne Revolution. "Von nun an werden die Bankiers herrschen!"
Gesellschaft - Analyse & Alternativen
ULRICH BUSCH 15 Jahre Währungsunion. Ein kritischer Rückblick
JOACHIM TESCH Demographischer Wandel, wachsende Einkommensarmut und Wohnungspolitik
MAGNUS MARSDAL Sozialistischer Individualismus. Vielleicht ist die neoliberale Gesellschaft einfach nicht individualistisch genug?
HANS-GERT GRÄBE Die Macht des Wissens in der modernen Gesellschaft
BRIGITTE STOLZ-WILLIG Geschlechterdemokratie und Arbeitsmarktreform. Eine neues Leitbild
Gundermann-Kolloquium, Februar 2005
BERND RUMP Gundi und der Krieg
BIRGIT DAHLKE Das Recht auf Melancholie - Gundermann und sein Publikum nach 1989
PAUL D. BARTSCH Gundermanns poetische Seilschaften
DELLE KRIESE Wie es war. Erinnerungen an eine Zusammenarbeit
Zu Bildern und Liedern
HENRY-MARTIN KLEMT Vielleicht sind wir alle bloß einer
STEFAN KÖRBEL Â’s war okay oder: Drei coole Sätze
SIMONE HAIN Gundermanns post mortem: Über das Ende der Arbeit, den Kampf gegen das Empire und die notwendige Erziehung der Gefühle
KLAUS-PETER SCHWARZ Aut Spartacus aut nihil: was bleiben kann
Das kurze 20. Jahrhundert
REINER TOSSTORFF Moskau oder Amsterdam? Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1920 bis 1937
RUDOLF SAUERZAPF Rosa Luxemburgs Eintreten für die russische Revolution von 1905 bis 1907
GÜNTER WIRTH Paul Feldkeller - mehr als ein "Privatgelehrter"
Standorte
MARIO CANDEIAS Von Hegemonie bis Justiz. Zum Erscheinen des Bandes 6 des Historisch-Kritischen Wörterbuches des Marxismus
Festplatte
WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau
Bücher & Zeitschriften
Gerhard Hanloser: Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik (PETER ULLRICH)
Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR (JÖRN SCHÜTRUMPF)
Lothar Schröter (Hrsg.): Europa und Militär. Europäische Friedenspolitik oder Militarisierung der EU? (BERNHARD HEIMANN)
Ellis Huber, Kurt Langbein: Die Gesundheits-Revolution. Radikale Wege aus der Krise - was Patienten wissen müssen (VIOLA SCHUBERT-LEHNHARDT)
Lexikon der Weltbevölkerung. Geographie - Kultur - Gesellschaft. Verfasst von Heinz-Gerhard Zimpel, Walter de Gruyter Berlin, New York 2001 (PARVIZ KHALATBARI)
Stefan Bollinger (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbstaufgabe (ULRICH VAN DER HEYDEN)
Summaries