Freihandels-Imperialismus

Von der Pax Britannica zur Pax Americana

In den USA wie in Europa ist die politische Linke sich weitgehend einig, dass man gegen George W. Bush zu optieren hat. Weniger einig ist man sich in der Frage, wie der demokratische Gegenkandidat John Kerry einzuschätzen sei oder was sich eigentlich bei einem Wahlsieg der Demokraten ändern würde. Insbesondere nach den gleichermaßen patriotischen Parteitagen der beiden Kandidaten scheint sich allerdings die Überzeugung durchzusetzen, dass Kerry allenfalls das kleinere Übel verkörpert.

Was aber sind die Argumente, die diese Einschätzung rechtfertigen? Hier bleiben die Kritiker, jenseits des Verweises auf eher banale Tatsachen wie die geld-aristokratische Herkunft beider Kandidaten, erstaunlich begründungsschwach. Wer aber über diese Oberflächenphänomene hinaus die eigentlichen Gründe gegen allzu hohe Erwartungen an den demokratischen Kandidaten aufdecken will, muss tiefer schürfen und die Spannweite der amerikanischen Außenpolitik ausloten. Dabei kann es nicht nur um die Frage gehen, ob John Kerry als Person und gemessen an seinen bisherigen politischen Aktivitäten, insbesondere der eifrigen Befürwortung des Irakkriegs, wirklich eine "linke" Alternative zur Politik der Bush-Regierung verspricht. Abzustellen ist vielmehr auf die engen strukturellen Bahnen, innerhalb derer sich die US-Außenpolitik bewegt.

Symptomatisch dafür ist die US-amerikanische außenpolitische Debatte, insbesondere die Konjunktur, die seit geraumer Zeit die Theorie des Imperialismus und insbesondere das britische Empire erlebt - in affirmativer Weise. So wird der völkerrechtswidrige Unilateralismus der Regierung Bush durch einige ihrer intellektuellen Propagandisten ideologisch abgedeckt mit einer offensiven Rehabilitation des Imperialismus-Begriffs, frei nach dem Motto: Einer von uns muss die Drecksarbeit für den zivilisatorischen Fortschritt schließlich machen.1

Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Handelt es sich bei dieser Offenheit bloß um eine rhetorische Verirrung oder taugt der Imperialismusbegriff tatsächlich zur Charakterisierung der US-amerikanischen Außenpolitik? Ich tendiere zur zweiten Variante - um dies zu begründen, gilt es jedoch zu rekonstruieren, woran es liegt, dass seriöse amerikanische Autoren und Intellektuelle zu Beginn des 21. Jahrhunderts ernsthaft wieder auf die Idee kommen, den Imperialismus als Gabe an die Menschheit zu interpretieren.

Als Hobson und Lenin vor 100 Jahren den "Imperialismus" in die politische Umgangssprache einführten, hatten sie nicht die Vereinigten Staaten von Amerika im Sinn, sondern die großen europäischen Mächte, vor allem Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Sie waren es, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einem hektischen Wettrennen die territoriale Aufteilung der Welt unter sich ausmachten, indem sie formelle Kolonien in praktisch allen Weltteilen in Besitz nahmen, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Dieser Kolonialismus wurde zur spektakulärsten Erscheinungsform des Imperialismus und deswegen weitgehend mit ihm gleichgesetzt.

Im operationalen Sinn ist der moderne Imperialismus jedoch viel älter. Seine Ursprünge gehen zurück bis in das 16. Jahrhundert, als sich im Nordwesten Europas (dem "alten Europa") Epoche machende Veränderungen durchsetzten: Es entstand eine dynamische kapitalistische Gesellschaft, deren kommerzielle Klassen auf der Suche nach Gewinn praktisch von Beginn an neue Gebiete "entdeckten" und auf informelle Weise bald Kontrolle über immer größere Teile des Globus gewannen, bis sie schließlich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine weltweite Hegemonie errungen hatten. Damit schufen sich die europäischen Eroberer die Möglichkeit der Bereicherung mit außerökonomischen Mitteln, vollzog sich doch der zunehmend betriebene Handel mit den überseeischen Gebieten mitnichten auf dem Wege eines "gleichberechtigten", friedlichen Warenaustauschs, sondern - besonders krass bei der Verschleppung afrikanischer Arbeitskräfte als Sklaven in die nordamerikanischen und karibischen Kolonien - mittels brutaler Gewaltanwendung, mit deren Hilfe die Produktionskosten (zum Beispiel auf monokulturellen Plantagen) so niedrig gehalten wurden, dass beim Verkauf zu Hause stets ein gewaltiger Extraprofit heraussprang.

Seine klassische Ausprägung fand der Free-Trade-Imperialismus dann auf dem Höhepunkt der informellen Expansion der Briten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die ökonomische Dynamik und militärische Überlegenheit, die den Briten aus dem Produktivkraftschub der industriellen Revolution erwuchsen, schwellten Brust und Bäuche und hielten das Interesse an territorialer Eroberung und politischem Flaggenhissen niedrig. Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt allen anderen Nationen sowohl wirtschaftlich als auch in der militärischen Projektionskraft seiner Marine so weit voraus, dass es abgeschottete Märkte und geschützte Rohstoffquellen in Übersee nicht nötig hatte. Gut drei Jahrhunderte lang kam so der Expansionismus des nordwesteuropäischen Kapitalismus - sofern es sich nicht um Siedlerkolonien wie in Nordamerika oder Australien handelte - bequem ohne hoheitsstaatliche Inbesitznahme überseeischer Territorien aus, ja sie wäre geradewegs kontraproduktiv gewesen, weil sie überflüssige Kosten und administrativen Aufwand verursacht hätte. Die polizeiliche Kontrolle über die begehrten Ressourcen und eine potenziell unbotmäßige Bevölkerung wurde an kooptierte eingeborene Eliten delegiert, die als Entgelt einen Teil des Extraprofits erhielten und deren Familien die privilegierte Teilhabe an der Herrschaftskultur des "Mutterlandes" gewährt wurde. Daheim produzierten Großbritanniens Bergleute und Fabrikarbeiter zu Minimallöhnen zwei Drittel der Kohle, die Hälfte des Eisens und über die Hälfte aller Baumwollstoffe und industriellen Fertigwaren, die in den internationalen Handel kamen. Dementsprechend enorm waren die Außenhandelsprofite und der Reichtumstransfer aus der ganzen Welt auf die britischen Inseln.

Die Pax Britannica

Im Angesicht dieser Verhältnisse entdeckten die klassischen britischen Ökonomen Smith und Ricardo die "internationale Arbeitsteilung" als wunderbares System der Reichtumsvermehrung - wenn ihnen dabei auch, im Gegensatz zu vielen ihrer Epigonen, die zum Teil schrecklichen Auswirkungen auf die "eingeborenen Völker" der kommerziell penetrierten Weltgegenden durchaus nicht entgingen. Aber dies wurde als unvermeidlicher Preis für den Fortschritt angesehen. So polemisierten sie entschieden gegen jegliche Form des Merkantilismus, ob nun in Form von Navigationsgesetzen, Korngesetzen oder sonstigen Arten von Zöllen oder Handelsbeschränkungen. Nachdem die alle abgeschafft waren, verstieg sich dann - auf dem Höhepunkt britischer Hegemonie und Prosperität - der Fabrikant und Publizist Richard Cobden zu der schwärmerischen Behauptung, dass der Freihandel "für die moralische Welt der Menschen die gleiche Bedeutung" habe wie "das Prinzip der Schwerkraft für das Universum - er bringt die Menschen zusammen, drängt die Antagonismen von Rasse, Glauben und Sprache beiseite und vereinigt uns alle mit dem Band ewigen Friedens."2

Nach Ansicht Cobdens, Brights und der anderen Lobbyisten für die Manchester- Fabrikanten in der Anti-Corn-Law-League war die internationale Arbeitsteilung, in der "Indien die Lieferung von Jute, Russland die Herstellung von Hanf, Flachs und Wodka, den karibischen Inseln der Anbau von Zuckerrohr und Baumwolle und Großbritannien die Produktion von industriellen Fertigwaren" zugeteilt seien, nichts weniger als eine wunderbare Fügung Gottes.3 Die Rechtmäßigkeit bzw. Gerechtigkeit dieses Systems war kein Thema, denn schließlich gebe es nichts Gerechteres auf der Welt als den "freien Handel". Dies war der Zeitgeist der "Pax Britannica", in dem ganz Europa von der Produktions- und Kaufkraft der Briten profitierte, britische Banken den internationalen Zahlungsverkehr abwickelten und die britische Regierung es sich sogar leisten zu können glaubte, Ingenieure auf den Kontinent zu schicken, um dort bei der nachholenden industriellen Entwicklung mit Rat und Tat behilflich zu sein.

Kritik an den imperialen Beziehungen Großbritanniens zu anderen Teilen der Welt kam in nennenswertem Umfang erst in dem Moment auf, als die quasi-monopolistische Stellung britischer Unternehmer im Rest der Welt sich auflöste und Teile der Monopol- und Abenteurerbourgeoisien aus den kontinentaleuropäischen Nachbarstaaten, insbesondere Frankreichs und Deutschlands, darangingen, auf eigene Faust mit ihren Industrieprodukten in die internationalen Märkte einzudringen bzw. sich - mit Hilfe ihrer nationalstaatlichen Streitkräfte - geschützte Absatzgebiete für Extraprofite sowie sichere Rohstoffquellen zu verschaffen. Diese unerbetene Konkurrenz nötigte wiederum die Briten praktisch dazu, ihre - durch ihre Überlegenheit ermöglichte - liberale Praxis rein kommerzieller Durchdringung und persönlicher Kollaboration mit lokalen Eliten zu ändern und sich, gewissermaßen in "Notwehr", nun formelle Kolonien zu sichern, deren Existenz im Unterschied zu früher - und wohl in Reaktion auf die nationalistische Rhetorik der imperialistisch nachholenden kontinentalen Parvenüs - nun ausdrücklich religiös, moralisch und schließlich chauvinistisch gerechtfertigt wurden.

So war es die Angst vor der Unheil verheißenden Zuspitzung des expansionistischen Konkurrenzkampfes der europäischen Großmächte, weniger irgendwelche moralischen Gefühle gegenüber Eingeborenen, die die ersten europäischen Kritiker auf den Plan riefen und britische Liberale wie Hobson dazu brachte, den Imperialismus als Problem auszumachen und kritisch zur Sprache zu bringen. Ihre Besorgnis war nicht unberechtigt. Das unmittelbare Resultat dieser Zuspitzung des Konkurrenzkampfes der europäischen Großmächte, speziell der Rivalität zwischen der etablierten Hegemonialmacht Großbritannien und dem aggressiven Herausforderer Deutschland, war die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. An dessen Ende wiederum stand zum einen die Entstehung eines neuen Staates, der sich explizit einen Gegenentwurf zur Welt des Kapitalismus und Imperialismus auf seine Fahnen geschrieben hatte, zum anderen der Aufstieg einer ehemaligen britischen Siedlerkolonie zur neuen Hegemonialmacht im System des internationalen Kapitalismus. Dessen Präsident hatte ebenfalls im Sinn, den Imperialismus, wie er ihn verstand, aus der Welt zu schaffen.

Woodrow Wilson und der Imperialismus

Unter amerikanischen Diplomatiehistorikern herrscht heute ganz weit reichende Einigkeit darüber, dass Woodrow Wilson spätestens nach den Erfahrungen der Great Depression und mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zur Leitfigur für die amerikanische Außenpolitik avancierte. Er war gewissermaßen im Geiste präsent bei der Konstruktion der Nachkriegsordnung und ihrer internationalen Institutionen, die bis zum heutigen Tag unsere Welt weitgehend bestimmen. So gut wie alle seiner Nachfolger der jüngeren Zeit haben ihm ihre Reverenz erwiesen. In den schweren Zeiten der Vietnam- Expedition bemühten sowohl Lyndon Johnson als auch Richard Nixon den Namen Wilsons, um den angeblich universalen, den Weltinteressen verpflichteten Charakter dieses Krieges zu beschwören. Auch Jimmy Carter berichtet in seinen Memoiren, dass er bei der Abfassung seiner Inauguralrede als Präsident sich ganz intensiv mit den Reden von Präsident Wilson befasst habe, um dort nach Anregungen und Vorlagen zu suchen. Und Präsident Bill Clintons Sicherheitsberater Tony Lake bezog sich bei der Formulierung seiner für die Clinton-Regierung wegweisenden Enlargement-Doktrin ganz ausdrücklich auf das historische Vorbild Wilson, auch wenn er sich gleichzeitig rhetorisch gegen den Verdacht des "idealistischen" Weltverbesserertums verwahrte.4 Wer war dieser Mann?

Wilson war seit Washington, Jefferson und Madison der erste US-Präsident, der sich mit Revolutionsgefahr und Krieg in großem Maßstab konfrontiert sah. Im welthistorischen Sinne aber war er vor allem der ideologische Gegenspieler Lenins und der Oktoberrevolution. Wenn er auch individuell keine besonders durchsetzungsstarke Persönlichkeit war,5 hat die von ihm intendierte Gegenstrategie zum Sozialismus letztendlich zum vorläufigen Sieg des bürgerlichen Lagers beigetragen. Wenn man das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert des Kampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus versteht - wofür es gute Gründe gibt - dann war Wilson für den Kapitalismus das, was Lenin für den Sozialismus war.

Dennoch wurde er bereits zu Zeiten des Systemgegensatzes bis in die marxistische Linke hinein gepriesen als "idealistischer" Vorkämpfer der "Demokratie" und Verfechter der "Selbstbestimmung der Völker". Dem ist nicht unmittelbar zu widersprechen; zu fragen ist aber, was für Wilson selbst im Kontext seiner Epoche diese Ziele konkret bedeuteten. Was genau verstand Wilson (und verstehen seine zeitgenössischen Nachfolger) eigentlich implizit unter Demokratie und Selbstbestimmung?

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Quellen und Ursprünge von Wilsons Denken und Handeln. Erstens verstand sich Wilson als "progressiv". Er begann seine eigentliche politische Laufbahn mit dem Beginn der so genannten "Progressive Era" (1895-1920), der Zeit der ersten massenhaften Gegenreaktion auf den Laissez-faire-Kapitalismus und seine zum Teil verheerenden Folgen auf das soziale Gefüge Amerikas. Der Progressivismus pflegte zum Teil eine radikale antimonopolistische Rhetorik, blieb dabei jedoch fest auf dem Boden der bürgerlichen Mittelklasse: Er war eine Widerspiegelung von deren zunehmender Ausbreitung und gewonnener Prosperität, aus der sich Spielräume für Altruismus, Verantwortungsgefühl und zivile Moral sowie Anstöße für Optimismus und gesellschaftliche Utopien ergaben. Dies war das intellektuelle Milieu, in dem Wilson sich zu artikulieren lernte.

Zweitens gehörte er zu jenem Teil des amerikanischen Bürgertums, der sich ungebrochen als Fortsetzer des britischen Kulturerbes verstand. Für ihn symbolisierte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs das schmerzliche Ende eines Goldenen Zeitalters, des "Hundertjährigen Friedens" der Pax Britannica. Sein Verständnis von Demokratie verabscheute unordentliche Konvulsionen verarmter und ungewaschener Massen, verlangte reflektierenden Meinungsaustausch und die zivilisierte Beschlussfassung gebildeter Eliten. Er hatte nichts am Hut mit Rousseau oder der französischen Revolution, und seine politischen Helden waren weniger Washington, Jefferson und Lincoln als die großen britischen Politiker der Whig-Tradition, dazu Denker und Politiker wie Burke, Charles Fox, Gladstone, Bagehot und vor allem die englischen "Freihändler vulgares" (Marx) Cobden und Bright. In einem frühen Aufsatz im "Virginia University Magazine" pries Wilson ausdrücklich die "Bigotterie" und "Intoleranz" Brights bei der Behandlung von Feinden und Kritikern des Freihandelsliberalismus.6

Drittens sah Wilson die Welt, wie praktisch alle seiner Generationsgenossen unter den Eliten der westlichen Welt, durch die Brille eines unbekümmerten Rassismus. Er sprach gewohnheitsmäßig von der "Zivilisation der weißen Völker", und er äußerte sich des öfteren dahingehend, dass die Vorherrschaft dieser "weißen Zivilisation" über den Rest der Welt nur so lange aufrechterhalten werden könne, wie diese sich selbst als solche bewusst begreife. Während der Pariser Friedensverhandlungen torpedierte Wilson alle Versuche Japans, eine Klausel über die "Gleichbehandlung der Rassen" in die Satzung des Völkerbundes aufzunehmen. In diesem Licht ist auch seine Doktrin vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu sehen. Er war stets bereit, es für weiße Europäer zu fordern und deren Bestrebungen zu unterstüzen (übrigens mit Ausnahme der Iren), aber nicht für die Kolonialvölker und schon gar nicht für die Subjekte des britischen Kolonialreichs, das er bis zu seinem Tode bewunderte.

Wie bereits angedeutet, waren im Verständnis der liberalen Imperialismuskritiker des späten 19. Jahrhunderts Imperialismus und Kolonialismus dadurch entstanden, dass nationale Sonderinteressen jeweils bestimmte Teile des bis dahin offenen Weltmarkts exklusiv für sich zu reservieren begannen. Dadurch sei aus der glücklichen Freihandelswelt der Pax Britannica die Unheil stiftende Konkurrenz nationaler "Parasitenbourgeoisien" geworden, die den prinzipiell friedensstiftenden Charakter des internationalen Freihandels zerstört hätten. Wilson schloss sich diesem Verständnis an. Der Brennpunkt seines politischen Denkens war das Bemühen darum, diesen ursprünglichen Zustand eines friedensstiftenden Freihandelskapitalismus, der in seinem Denken die Konturen eines Goldenen Zeitalters annahm, wiederherzustellen. Auch wenn er als Präsident später in der Innenpolitik die positive Rolle des organisierenden und eingreifenden Staates hervorhob, blieb das Wesen seiner politischen Philosophie und damit auch die Richtschnur für sein politisches Handeln, vor allen Dingen in der Außenpolitik, ein ideal vorgestellter Liberalismus, in dem die Erfordernisse der Wirtschaft, nicht die politischen Ideen und Ziele gewählter Volksvertreter, die großen Linien der Politik bestimmen sollten. Mit anderen Worten: Seine außenpolitische Vision war die Rekonstruktion der Pax Britannica und ihrer bewährten internationalen Arbeitsteilung unter neuem Management.

Die neuen Manager des paradise regained sollten und konnten nur aus den Reihen der amerikanischen business community kommen. Die USA waren schließlich als wichtigste Gläubigernation aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen. Nur sie waren in der Lage, einen "offenen" Weltmarkt wie im 19. Jahrhundert wiederherzustellen und zum Wohle der ganzen Welt zu koordinieren. Das war Wilsons Überzeugung. Darin war er sich im Prinzip mit den Führungsschichten der USA weitgehend einig. Allerdings herrschten über den einzuschlagenden Weg dahin noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Nachdem man gerade entscheidend dazu beigetragen hatte, den kontinentaleuropäischen Herausforderer Großbritanniens, nämlich Deutschland, niederzuringen, waren die nächsten Schritte keineswegs klar. Es gab zwei mächtige Fraktionen.

Eine einflussreiche Gruppe von liberalen, im Export engagierten Wirtschaftsführern warb seit Beginn des Krieges unermüdlich für die Schaffung einer internationalen Friedensliga. Gefordert wurde der Zusammenschluss der, wie es hieß, "efficient civilized nations" zu einem Bündnis, das künftig Kriege verhindern bzw. einem Aggressor den Frieden aufzwingen sollte. Im ursprünglichen Entwurf sollte dieser Bund "League of Great Nations" heißen und eben nur jene umfassen. Schließlich einigte man sich auf "all the Great Powers, all the Secondary Powers of Europe and the ABC countries of South America" (Argentinien, Brasilien und Chile). Alle anderen - das war der Sinn des Bundes - sollten der kombinierten Interessengewalt dieses Bündnisses unterworfen werden. Diese One-Worlder fanden in Woodrow Wilson ihren prominentesten politischen Fürsprecher.

Sie konnten sich jedoch innenpolitisch nicht durchsetzen, denn eine starke Gruppe von eher nationalistisch orientierten Wirtschaftsführern stellte sich dagegen. Schließlich sei man gerade erst durch eigene Produktionskraft und militärischen Einsatz zum Hecht im internationalen Karpfenteich herangewachsen. Sich nun in einem Klub gemeinsam mit den ausgebufften britischen Karpfen irgendwelchen Regeln zu unterwerfen, hielt man für alles andere als geboten. Auch trauten sie dem Akademiker Wilson nicht, dessen ultraimperialistische Realpolitik sie wegen ihres Vertrauens in internationale Abkommen und ihrer bereitwilligen Konzilianz den ehemaligen Kriegsgegnern gegenüber als blauäugigen Idealismus denunzierten. Man bemühte sogar die Gründerväter Jefferson und Washington, die 100 Jahre zuvor vor verstrickenden Bündnissen mit Europäern gewarnt hatten. Zumal in der Öffentlichkeit unmittelbar nach Kriegsende ohnehin fremdenfeindliche Stimmungen vorherrschten, verweigerten die Isolationisten im Kongress die Zustimmung zu den Völkerbundverträgen und bereiteten Wilson damit die schwerste politische Niederlage seines Lebens.

So konnte das von Wilson und den One-Worlders unter der Bezeichnung Völkerbund propagierte ultraimperialistische8 Ordnungsmächtekartell zur Rekonstruktion der internationalen Arbeitsteilung bzw. zur Disziplinierung politisch unberechenbarer Rohstoff- und Agrarländer seine Bestimmung nicht antreten, weil es ausgerechnet ohne die USA selbst auskommen musste. Allerdings wäre das Projekt auch so gescheitert, weil es Wilson bereits zuvor nicht gelungen war, die europäischen Partner Großbritannien und Frankreich dazu zu bewegen, den im Ersten Weltkrieg besiegten Herausforderer Deutschland in einer Weise zu behandeln, die ein erneutes Ausbrechen der innereuropäischen Feindseligkeiten effektiv hätte verhindern können.9

Von der "Eindämmung" der Sowjetunion zum "Ende der Geschichte"

Wilson starb bald nach seiner innenpolitischen Niederlage und wurde anschließend fast zehn Jahre lang behandelt wie ein toter Hund. Erst auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise gelangten einflussreiche Wortführer der amerikanischen Eliten zu der Ansicht, dass der "idealistische" Intellektuelle Wilson mit seinem Plan eines durch Satzungen geregelten und von den Industrieländern unter Oberaufsicht der USA kontrollierten Weltkapitalismus vielleicht doch nicht so daneben gelegen habe. Denn nach einer kurzen Scheinblüte in den 20er Jahren waren die internationalen Waren- und Geldströme, zunehmend behindert durch währungsschützende Maßnahmen in den meisten europäischen Ländern, zusammengebrochen. Allein auf sich gestellt, war der bis dahin boomende amerikanische Kapitalismus bald nicht mehr in der Lage, selbst im eigenen Land den Wirtschaftskreislauf so weit aufrechtzuerhalten, dass wenigstens alle ausreichend zu essen bekamen. Der Geldkreislauf und das Bankensystem brachen zusammen. Ein gutes Drittel der Bevölkerung kehrte praktisch zu Natural- und Tauschwirtschaft zurück. Erst die mit der Mobilisierung für den Kriegseintritt der USA verbundene staatliche Ankurbelung der Wirtschaft erweckte den Wirtschaftskreislauf zu neuem Leben und brachte Vollbeschäftigung und eine relative Massenprosperität.

Bereits während des Krieges gelangte die amerikanische Führung zu der Erkenntnis, dass ein Rückfall in eine neue Weltwirtschaftskrise nach dem Ende des Krieges politisch gefährlich werden könne und nur dadurch zu vermeiden sei, dass das internationale Wirtschaftssystem endlich auf sicheren Boden gestellt würde. Die Konferenz von Bretton Woods im Frühsommer 1944 mit 44 Ländern der Anti-Hitler-Koalition stellte für diese Politik entscheidende Weichen, aus denen so gut wie alle nachfolgenden politischen Entscheidungen abgeleitet werden können: vom Marshall-Plan über die Truman- Doktrin und die Teilung Deutschlands bis zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft.

In den meisten historischen Darstellungen wird das Interesse der USA an der Rekonstruktion des westdeutschen Kapitalismus und an der Integration der Bundesrepublik in den Westen natürlich nicht ignoriert, jedoch wird in diesem Zusammenhang meist das defensive Motiv des Antikommunismus bzw. der Eindämmung der Sowjetunion in den Vordergrund gestellt. Aber in der internen Diskussion war es erst in zweiter Linie die Abwehr einer sowjetischen militärischen Bedrohung, die die amerikanische Globalpolitik der Nachkriegszeit legitimierte. An erster Stelle stand die offensive Durchsetzung der eigenen Vision: die (nachholende) Realisierung der politischen Vision Woodrow Wilsons. Die als Defensive verkaufte Eindämmung des Kommunismus war das rhetorische Mittel, das erfolgreich eingesetzt wurde, um die offensiven Anstrengungen, die eine Realisierung des wilsonistischen Projekts zweifellos erfordern würden, dem kriegsmüden und globalen Visionen traditionell abgeneigten Volk akzeptabel zu machen.

All das soll weder bedeuten, dass der Marxismus-Leninismus bzw. die Sowjetunion niemals eine politische Gefahr für die USA oder das kapitalistische Weltsystem bedeutet, noch dass nicht auch maßgebliche Teile der USMachteliten subjektiv aufrichtig an die "kommunistische Gefahr" geglaubt hätten. Es soll nur heißen, dass Marxismus-Leninismus und Wilsonismus jeweils auf ihre Weise offensive und universalistische Ideologien sind und dass mit der Demission der einen die andere nicht bereits am Ziel ist. Im Gegenteil, ihre Protagonisten sehen sich bestärkt und angespornt, das Werk zu vollenden. Zwar ist der Wilsonismus nicht, wie der Marxismus, ein für sich bewusst ausgearbeitetes und geordnetes System von theoretischen Aussagen. Aber an sich enthält er analoge Bestandteile: vor allem eine Theorie des Kapitalismus (die neoklassische Ökonomie) und eine Theorie der Geschichte (die Whig-Theorie der Geschichte, die an einem ständigen Geschichtsfortschritt zu Freiheit und Marktgesellschaft glaubt). Als Philosophie begnügt er sich allerdings, im Gegensatz zum Marxismus, mit dem bürgerlichen Normalverstand.

Die Entwicklung der Sowjetunion zu einer Respekt einflößenden Militärmacht und später eines ganzen Bündnissystems mit einer antiimperialistischen Legitimationsstruktur hatten Begriff und Sache des Imperialismus erneut zum potenziellen Gegenstand theoretischer und praktischer Kritik werden lassen, diesmal allerdings auf veränderter historischer Basis. Nun ging es nicht mehr allein um die Vermeidung eines Bruderkriegs der "zivilisierten Völker". Expansion und kommerzielle Durchdringung entfernter Weltteile durch westliche Unternehmen und daraus erzielte Extraprofite konnten angesichts eines wachsenden Bewusstseins von menschlicher Gleichheit nicht mehr selbstverständlich als "historischer Auftrag der weißen Rasse" verkauft werden. Die formelle Entkolonisierung in den 50er und 60er Jahren sensibilisierte auch das aufgeklärte westliche Bewusstsein für die moralische Fragwürdigkeit bestimmter Praktiken des Westens gegenüber den nunmehr so genannten Entwicklungsländern.

Doch dieser "Notstand" des kapitalistischen Weltsystems ist 1989/91 aufgehoben worden. Durch die Selbstauflösung des Ostblocks in Europa und das Überlaufen der kommunistischen Machteliten ins bürgerliche Lager sind auch die Diskursgemeinschaften des Westens in einen Reformprozess eingetreten. Kritische Imperialismustheorien sind aus ihrer Nischenposition im aufgeklärten westlichen Bewusstsein weitgehend verdrängt worden. Ähnliches musste auch die marxistische Gesellschaftstheorie erfahren, eines derer Grundtheoreme ja ist, dass alle bisher bekannten Gesellschaftsformationen einschließlich der kapitalistischen vergänglich und der Dynamik des Selbstschöpfungsprozesses der menschlichen Gattung bis zu deren Vollendung im Sozialismus/Kommunismus unterworfen seien.

In den USA stellten die Wilsonisten triumphierend fest, dass sie und nicht ihre marxistischen Erzfeinde Recht behalten hätten: Nicht der Sozialismus/ Kommunismus werde das "Ende der Geschichte" ausmachen, sondern der real existierende liberale Kapitalismus in der von den USA praktizierten Fassung sei der finale Fluchtpunkt der Menschheitsgeschichte. Der historische Auftrag der modernen säkularen Gesellschaft, der Welt den "ewigen Frieden" (Kant) und damit die irdische Geschichte zu ihrem harmonischen Abschluss zu bringen, sei offensichtlich rechtmäßig in die Hände des anglo-amerikanischen Weltbürgertums zurückgekehrt, aus denen er im Jahr 1914 auf so brutale und verantwortungslose Weise gerissen worden sei. Diesen vordergründig schlichten, aber politisch enorm anmaßenden Gedanken versuchte seinerzeit Francis Fukuyama mit seiner Deklarierung des "Endes der Geschichte" geltend zu machen.

Die Debatte, die Fukuyamas Aufsatz provozierte, wurde zum Teil von europäischer Seite aus sehr polemisch geführt, aber die wenigsten außerhalb der Vereinigten Staaten begriffen, dass Fukuyamas Deklarierung des "Endes der Geschichte" natürlich nur metaphorisch gemeint war. Er behauptete nicht im Ernst ein Ende in der Abfolge von mehr oder weniger bedeutenden historischen Ereignissen. Er resümierte einfach mit der Beflissenheit des Neophyten, was die außenpolitischen Eliten der USA auch dachten und fühlten, aber sich nicht so offen zu sagen trauten. Durch Fukuyama artikulierte sich gewissermaßen die Wende-Interpretation des von Wilson inspirierten liberalen Internationalismus, in dessen Kategorien die außenpolitischen Eliten der USA vor beinahe einem ganzen Jahrhundert - erst zögernd, dann seit einem halben Jahrhundert mit voller Überzeugung - ihr modernes kollektives Selbstverständnis gefunden hatten. Die Wende war für sie gleichsam die "weltdemokratische" Verabschiedung ihres vermeintlich naturrechtsgesättigten Auftrags zur final-universalen Durchsetzung einer strikt auf dem Privateigentum beruhenden Rechts- und Wirtschaftsordnung.

Gleichberechtigte Kooperation statt liberaler Internationalismus

Inzwischen hat - wie eingangs bemerkt - in den USA selbst, aber auch in Großbritannien die Veröffentlichung politikwissenschaftlich-historischer Literatur gewaltig zugenommen, die den alten britischen Imperialismus der Pax Britannica mehr oder weniger offen als "zivilisatorischen Fortschritt" darstellt und entsprechend den USA nahe legt, offen und selbstbewusst eine analoge Rolle in der heutigen Welt zu spielen - ohne Rücksicht auf Genörgel von Kontinentaleuropäern oder politisches Gegenfeuer aus anderen Teilen der Welt. Darunter sind eine Reihe von Autoren, die in der Vergangenheit eher als Kritiker amerikanischer Nachkriegspolitik aufgetreten waren.10 Dieser Umstand weist darauf hin, dass die grundsätzliche Einigkeit der US-Eliten über den Kurs nach dem Ende des Kalten Krieges in Wirklichkeit weit größer ist als vielfach angenommen wird, auch wenn es in Wahlkämpfen immer anders aussieht. Letztlich existieren lediglich verschiedene Varianten eines Freihandelsimperialismus. Das Wilsonistische Geschichtsbild scheint als Basis dieser grundsätzlichen Einigkeit eher gefestigt zu sein. Worüber Differenzen bestehen, das ist der Stil der politischen Umsetzung und das dabei gepflegte Verhältnis zu den Verbündeten. Hier wären von einem Präsidenten Kerry mit Sicherheit Änderungen zu erwarten.

Der bekannte amerikanische Imperialismus-Kritiker Gabriel Kolko hat dazu jüngst in einem Aufsatz, der sich mit der Alternative Bush-Kerry beschäftigt, folgende provokante Ansicht vertreten: "Die Vereinigten Staaten werden erst dann zu einer klügeren Politik kommen - und damit die Welt sicherer werden - wenn sie durch einen Mangel an Verbündeten isoliert sind und dadurch gezwungen, sich zurückzunehmen. Und das geschieht gegenwärtig. Ohne es zu wollen, hat die Bush-Administration damit begonnen, ein Bündnissystem zu zerstören, das um des Weltfriedens willen schon längst hätte abgeschafft werden sollen. Die Demokraten werden wahrscheinlich versuchen, diesen Prozess zu stoppen [...]. So gefährlich auch immer er sein mag, eine Wiederwahl Bushs wird mit viel größerer Wahrscheinlichkeit die Zerstörung des Bündnissystems fortsetzen, das auf lange Sicht für die Macht der USA unerlässlich ist."11

Der Rest der Welt ist dank einer abenteuerlustigen und provokativ solipsistischen Regierung bereits weit fortgeschritten darin, Amerika nicht mehr reflexartig als mythisches "Land der Freien" und begnadetes historisches Vorbild zu sehen, sondern einfach als eines von vielen Ländern auf dieser Erde, das während einer bestimmten Epoche eine wichtige historische Rolle gespielt hat, jetzt aber langsam zu einer Gefahr für die Zukunft der Menschheit wird. Damit wächst der Mut zur Aufmüpfigkeit, zusätzlich bestärkt durch das peinliche Spektakel einer unübersehbar inkompetenten und von mangelnder Intelligenz strotzenden Gallionsfigur als Präsidenten dieser Regierung. Aber das sind letztlich Bagatellen. Statt wie das Kaninchen auf die Schlange Bush zu starren, sollten wir uns lieber damit befassen, wie der "liberale Internationalismus" amerikanischer Provenienz, der im Kern nichts weiter ist als die imaginierte Fortsetzung des alten Freihandels-Imperialismus aus dem 19. Jahrhundert, ersetzt werden kann durch ein zeitgemäßes, auf Dauer den Frieden sicherndes Verfahren gleichberechtigter internationaler Kooperation. Dabei sollten wir uns über eines klar sein: Ein John Kerry wird dafür mit Sicherheit ebenso w

1 Vgl. als Beispiele Andrew J. Bacevitch, American Empire: The Realities and Consequences of US Diplomacy, New York 2003; Philipp Bobbitt, The Shield of Achilles. War, Peace and the Course of History, New York 2002; außerdem auch Niall Ferguson, Empire: The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power, London und New York 2003.
2 Zit. n.: Bernard Porter, The LionÂ’s Share: A Short History of British Imperialism, 1850-1970, London 1975, S. 6.
3 Vgl. die Schrift eines anonymen Publizisten aus dem Jahr 1832, abgedruckt in: L.C.A. Knowles, The Industrial and Commercial Revolution in Britain During the Nineteenth Century, London 1921, S. 128.
4 Vgl. "U.S. Policy & Texts", 23.9.1993, S. 3; siehe auch Robert W. Tucker, The Triumph of Wilsonism? In: "World Policy Journal", Winter 1993/94, S. 83-99.
5 Siehe hierzu John Maynard Keynes vernichtendes Porträt in: ders., The Economic Consequences of the Peace, London 1920.
6 Siehe hierzu Henry W. Bragdon, Woodrow Wilson. The Academic Years, Cambridge/Ma. 1967, S. 124.
7 John H. Latane (Hg.), The Development of the League of Nations Idea, Bd. 1, New York 1932, S. 61.
8 Ich benutze hier den Begriff "Ultraimperialismus" im von Kautsky gemeinten Sinn; vgl. Karl Kautsky, Der Imperialismus, in: "Die Neue Zeit", 2/1914.
9 Vgl. Keynes, The Economic Consequences, a.a.O.
10 Vgl. als jüngstes Beispiel William Shawcross, Allies: The United States, Britain, Europe and the War in Iraq, New York 2003.
11 "The Nation", 23.8.2004, S. 8.

Blätter für deutsche und internationale Politik © 2005
www.blaetter.de