Wirrwarr

"Ich akzeptiere es nicht, daß letzten Endes erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird." Das hat Herr Stoiber gesagt, in Baden-Württemberg, und es war weder Aschermittwoch noch ...

... eine andere Bierzelt-Gelegenheit. Es ist Wahlkampf. "Wie jetzt?" fragt sich besorgt der Ossi: "Als ich der Bundesrepublik Deutschland beigetreten wurde, stand doch im Grundgesetz derselben, die Abgeordneten würden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Gilt das für mich nicht mehr?" Das ist hier die Frage. Man könnte natürlich ein Dreiklassenwahlrecht wiedereinführen. "Wenn es überall so wäre wie in Bayern, hätten wir überhaupt keine Probleme", sagte Stoiber weiter, doch leider gebe es nicht "überall so kluge Bevölkerungsteile wie in Bayern". Das würde durch die Dreiklasseneinteilung natürlich gut gelöst; man drittelt die Mandate: In der ersten Klasse wählen Bayern CSU, in der zweiten Klasse sind die CDU- und FDP-Wähler aus dem Westen, in der dritten die Ossis und die sonstigen Wähler. Ob die Wähler der Linkspartei mitrechnen, muß erst noch geklärt werden. Jedenfalls hätten die Konservativen so stets eine ordentliche Zweidrittelmehrheit, und der Osten kriegt, was er verdient.

Nein, so war das nicht gemeint, sagte Stoiber dann, gemeint waren Lafontaine und Gysi. Wie das nun wieder? Gesagt wird doch, wer Bundeskanzlerin wird, entschieden die Wähler. "Es darf nicht sein, daß letztlich die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen." Das ist auch O-Ton Stoiber. Da hat er recht, nur: Der Frustrierteste im ganzen Land ist doch der ehemalige Kanzlerkandidat der Union von 2002. Das dachte sicher auch Frau Merkel, als sie Stoiber untersagte, sich auf ein Fernsehduell mit Lafontaine einzulassen. Vollmundig hatte er erklärt, er werde die Linken "stellen". Wohin eigentlich? Lafontaine hatte sofort zugesagt. Merkel aber meinte, dies würde die Linkspartei aufwerten, und sagte das ab. Stoiber protestierte nicht.

Vorher bereits hatte der Ost-Kompetenz-Spezialist Schönbohm gewußt: Die von den Kommunisten dereinst durchgeführte "Proletarisierung" der DDR-Bevölkerung sei schuld, daß eine Frau neun ihrer Neugeborenen getötet hatte. Das sollte wohl zeigen: Kommunisten fressen kleine Kinder. Oder: Der Osten braucht endlich eine ordentliche Oberschicht, natürlich aus demWesten. Die hat er doch schon? Ja, aber mit dem Dreiklassenwahlrecht könnte man das auch politisch sehr schön sicherstellen. Das hatten wir schon, bis 1918. Und dann hatten die Proleten Revolution gemacht.

Etliche Menschen in Ost und West protestierten gegen derlei Einlassungen. Schönbohm quetschte sich ein paar Entschuldigungen ab. Der Brandenburgische Ministerpräsident Platzeck meinte, das sei kein Grund, den Minister zu entlassen. Recht hat er, die Bürger können sich schließlich daran gewöhnen, von Leuten regiert zu werden, die sie hassen. Das meinte auch ein Berliner Boulevard-Blatt, das Stoiber und Schönbohm unter die Rubrik "Ossi-Hasser" ordnete.

Angela Merkel hat den General nun auf ihre Weise bestraft: Er taucht nicht im "Kompetenz-Team" der Kanzlerin in spe auf. Und das, obwohl alle gedacht hatten, daß die deutschen Truppen am Hindukusch dann unter seinem bewährten Kommando stehen würden. Derweil hat das Außenminister-Double Schäuble sich über die Unnötigkeit des Bombenwerfens in der Prignitz geäußert. Die dortige CDU ist auch dagegen; andere CDU-Chargen aber meinen, das Bombenwerfen übe ungeheuerlich, besonders, wenn es dann am Hindukusch weitergehen soll. Diese Volte hatte die Sozialdemokratie allerdings schon mehrmals vorgeführt: vor der Wahl erklären, das Bombodrom bei Wittstock müsse weg, und hinterher, es sei militärisch unerläßlich, schon wegen des Terrorismus. Oder weil im Westen die Grundstückspreise höher sind und die Bevölkerungsdichte niedriger ist.

Die Kakophonie dieser Wahlkampagne hatte schon früher begonnen. Markus Söder, Generalsekretär der CSU, erklärte, die Freien Demokraten hätten kein Profil - obwohl doch die CDU-Zentrale meinte, dies sei der Wunschpartner für die beabsichtigte Politik. Wahrscheinlich haben die Bayern aus der oberen Klasse des Dreiklassensystems noch immer ein Problem mit einem schwulen Ministeraspiranten. Zwischenzeitlich rechnet Frau Merkel höchstselbst brutto gegen netto gleich null, oder so ähnlich. Jedenfalls sollte die Mehrwertsteuer steigen, wie sie mitzuteilen wußte, was wiederum der Kompetenz-Spezialist für Steuerfragen eigentlich ablehnt, aber dennoch sich gegebenenfalls unter Umständen vorstellen könnte. Auf jeden Fall will er für Frau Merkel vom Elfmeter-Punkt aus Tore schießen.

Eine Ostdimension des Wahlkampfes solle es nicht geben, hatte Frau Merkel schon recht frühzeitig mitteilen lassen. Man könnte ja im Westen mehr verlieren als im Osten gewinnen. Wo ohnehin unklar ist, welcher Blumentopf hier gewonnen werden soll. Ein halbe Million Arbeitsplätze soll es geben, wenn nur die Arbeitskosten weiter sinken. Dafür braucht der Ossi natürlich auch nicht das gleiche ALG II wie der Wessi. Schröder hat schon den Binnenmarkt abgewürgt, indem er den Leuten mehr und mehr Geld aus der Tasche gezogen hat. Bei Frau Merkel ist nicht zu sehen, wie sie den wieder in Gang setzen will.

Die CDU/CSU-Kampagne zeigte sich im August als ein riesiges Durcheinander. Wollte Stoiber die Kreise von Merkel stören, oder war er nicht in der Lage zu begreifen, was er tat? Schönbohm ebenso. So sehen Sieger nicht aus. 85 Prozent der Deutschen haben wenig oder kein Vertrauen zur Bundesregierung, 78 Prozent keines zur Opposition - zu dieser Opposition, die auf solche Weise jetzt Regierung werden will. Diese sieben Prozent Differenz entscheiden offensichtlich darüber, wer das Land künftig regieren soll. Werden sie dann so regieren, wie sie jetzt Wahlkampagne machen?

Jemand schrieb gerade, es läge mehrheitlich eine schicksalsergebene Stimmung über dem Land, eine lethargische: Schröder soll weg, aber alle wissen, mit Merkel wird es nicht besser. Ein Hinnehmen mag für die weitere Durchführung des neoliberalen Programms in Deutschland zunächst ausreichen. Längerfristig verstärkt es die Skepsis gegenüber dem demokratischen System überhaupt.

in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 29. August 2005, Heft 18