Mehrheit für soziale Gerechtigkeit

Rede auf der Tagung des Forum DL21 am 24.09.2005 in Berlin

Es gibt in der Gesellschaft eine Mehrheit für eine Modernisierung des Landes. Die dazu notwendigen Reformen müssen aber zweitens die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit wahren.

Die Bundestagswahl am 18.9.2005 hat einige auf den ersten Blick paradoxe Ergebnisse gebracht:
* Die rot-grüne Regierung ist abgewählt worden, sie hat allein keine Mehrheit erzielen können.
* Nach 1998 und 2002 gab es zum dritten Mal keine Mehrheit für schwarz-gelb. Das von Merkel innerparteilich durchgesetzte, neoliberale Politikmodell ist klar abgewählt worden.
* Es gibt eine linke Mehrheit in der Bevölkerung, die zwar die Mehrheit der Sitze für linke Parteien gebracht hat, sich aber zur Zeit nicht in eine Regierungsmehrheit umsetzen lässt.

Damit zeigt das Wahlergebnis zweierlei: Erstens gibt es in der Gesellschaft eine Mehrheit für eine Modernisierung des Landes gibt. Die dazu notwendigen Reformen müssen aber zweitens die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit wahren. Eine faktische Zerschlagung des Sozialstaates, wie er von der CDU und FDP propagiert wurde, lehnt die Mehrheit ab. Dies ist auch die Ursache für den Absturz von Merkel in der Wählergunst, die es trotz der für die CDU günstigen Ausgangsbedingungen nicht einmal gelungen ist, das schwache Ergebnis von Edmund Stoiber aus dem Jahr 2002 zu erreichen.
Es stellt sich nun die Frage, wie es angesichts der derzeit nicht auflösbaren Blockade zwischen den linken Parteien gelingen kann, die Mehrheit gegen Schwarz-gelb politisch zu verwerten?

Nach meiner Auffassung ist dies grundsätzlich möglich. Die Aufholjagd der SPD in den wenigen Wahlkampfwochen war nur möglich, in dem Schröder die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellt hat. Zugute kam ihm dabei sicherlich der Professor aus Heidelberg, der die inhaltliche Richtungsentscheidung der CDU für einen strikt neoliberalen Kurs personifizierte. Dadurch war es möglich, die Alternative ‚Umbau und Erhaltung des Sozialstaates' auf der einen Seite gegen ‚Abbau des Sozialstaates und eine Republik der sozialen Kälte' auf der anderen Seite zu stellen. Schröder ist es dabei zudem gelungen, eine Einheit von Programm und Person darzustellen. Sicherlich ist diese Re-Traditionalisierung in der Rhetorik von Schröder vor Wahlen nicht neu, aber eben unabhängig von den MOTIVEN wirksam. Mit diesem Wahlkampf hat die SPD Hoffnungen und Erwartungen in der Partei und in der Bevölkerung auf neuen Anfang nach Agenda 2010 geweckt. Wenn es gelingt, diese Einheit von dem im Wahlmanifest der SPD niedergelegten Programm und der Personen in die Verhandlungen mit der CDU einzubringen, bestehen durchaus Möglichkeiten, die Mehrheit in der Bevölkerung für soziale Gerechtigkeit zur Geltung auch politisch auf die Waage zu bringen. Erforderlich ist, dass die SPD klare politische Ziele benennt und hart durchverhandelt. Erforderlich ist, dass nicht diejenigen personell dominieren, die den Agenda 2010 - Kurs von Gerhard Schröder bruchlos mitgetragen haben, sondern SozialdemokratInnen, die das eigenständige Profil der SPD auch in einer Regierung sichtbar machen können.

Die Frage der Regierungsbildung darf jedoch grundlegende Weichenstellungen nicht ins Abseits befördern. Die Tatsache einer 5 Parteien-Konstellation muss aufgearbeitet werden. Wir brauchen dringend wieder eine stärkere Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften. Und dabei muss sich die SPD ihrer nach wie vor starken Verankerung in den Gewerkschaften bewusst sein. 47 % der Gewerkschaftsmitglieder haben SPD gewählt und nur 11 % die Linkspartei/PDS. Tendenzen zur Fraktionierung durch die Linkspartei.PDS innerhalb der Gewerkschaften müssen in diesem Zusammenhang offen angegangen und dürfen nicht bagatellisiert werden. Eine Konkurrenz um die besseren Konzepte und die bessere Politik auch innerhalb der Linken ist legitim. Versuche der innerlinken Ausgrenzung können dagegen nicht hingenommen werden. Es ist notwendig, dann auch eine direkten Ansprache von "bekennenden" Sozialdemokraten zu organisieren. Die Partei muss den Dialog auf vielen Ebenen verstärken, aber gerade hier kommt der SPD-Linken kommt inhaltlich wie personell eine Schlüsselrolle zu.

Der Kontakt der SPD in die kritische Wissenschaft hinein ist unterentwickelt. Die früher zahlreichen Verbindungen sind deutlich ausgedünnt. Will die Partei die Hegemoniefähigkeit in der Gesellschaft zurückerlangen, ist hier dringender Veränderungsbedarf. Das betrifft sowohl den Aufbau von Thinktanks und ihre Vernetzung als auch die Neupositionierung der Friedrich-Ebert-Stiftung in diesem Kontext. Die FES muss viel stärker als bisher die Rolle eines Impulsgebers für die kritische Wissenschaft wahrnehmen wie umgekehrt für eine Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Politik hinein sorgen.

Ein weiteres Feld der Erneuerung ist die Organisationsentwicklung. Sicher, die Partei hat im Wahlkampf gezeigt, dass sie in der Lage ist, machtvoll und engagiert zu kämpfen. Gleichwohl sind auch in diesem Wahlkampf eklatante Schwächen der Organisation deutlich geworden, die im politischen Normalbetrieb ebenfalls hemmend wirken. Die Partei leistet sich eine Organisationsstruktur, die nicht zeitgemäß ist und in vielen Regionen faktisch nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Wir brauchen nicht die Einsetzung neuer Kommissionen zur Parteireform, die mehr oder weniger praktikable Reformvorschläge unterbreiten, sondern einen permanenten Prozess der Parteierneuerung. Die praktischen Erfahrungen in der Arbeit vor Ort verweisen darauf, dass die Kreisverbände und Unterbezirke als Drehscheiben zwischen den Ortsvereinen und der überregionalen Ebene eine größere Bedeutung erhalten sollten als bisher. Es darf nicht die Erwartung geweckt werden, wir könnten eine von oben gesteuerte Parteierneuerung durchsetzen. Die Partei sollte lernen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Organisation zu akzeptieren. Sie darf dabei aber nicht stehen bleiben.

In diesem Zusammenhang muss der Kommunalpolitik eine bedeutendere Rolle auch von der Linken in der SPD eingeräumt werden. Arbeit von unten nach oben gilt auch für die Inhalte.

Und nicht zuletzt ist auch eine programmatische Erneuerung, die sich nicht in der Grundsatzprogrammdebatte erschöpfen darf, unverzichtbar. Vordringlich sind meines Erachtens folgende Felder:
* Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist von herausgehobener Bedeutung. Die programmatischen Vorstellungen in der Partei sind dazu jedoch unzureichend. Insofern bedarf es einer "Neuerfindung" sozialdemokratischer Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, wobei es gelingen muss, grundsätzliche Orientierungen mit kurzfristig wirksamen Maßnahmen zu verbinden.
* Politisches Bewusstsein der Bevölkerung orientiert sich häufig an ihrem direkten Lebensumfeld. Gleichzeitig schlagen sich die globalen Trends in vielen Fällen direkt vor Ort nieder. Insofern ist es eine wesentliche Aufgabe, Politik auch von unten nach oben zu entwickeln. Es geht darum, Kommunalpolitik zu politisieren. Die soziale und ökologische Stadt ist eine Konkretisierung eines neuen europäischen Gesellschaftsmodells.
* Die europapolitische Programmatik der SPD ist modernisierungsbedürftig. Das Verhältnis von Erweiterung und Vertiefung sowie die Frage der Durchsetzung einer sozial orientierten Grundkonzeption anstelle der neoliberalen, weltmarktorientierten Ausrichtung der EU ist programmatisch bisher nicht zufriedenstellend gelöst.
* Der deutsche Sozialstaat ist reformbedürftig. Die bisherigen Debatten focussieren sich allerdings viel zu stark auf Finanzierungsfragen. Notwendig ist eine programmatische Offensive für einen qualitativen Umbau , um Ineffizienzen der bestehenden Systeme zu beseitigen und die in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft geforderte Flexibilität der Menschen sozialstaatlich abzusichern.

In den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen geht es darum, die politischen Folgerungen des Wahlergebnisses durchzusetzen. Eine bedingungslose Koalitionsbindung darf es nicht geben. Eine schlecht verhandelte große Koalition oder auch Ampel-Koalition würden dem Wahlergebnis widersprechen, der Partei erheblichen Schaden zufügen und die Gesellschaft spalten statt soziale Gerechtigkeit zu stärken. Erneute Neuwahlen oder eine Minderheitenregierung wären denkbar, sind jedoch faktisch kein Ausweg, das sie zu einer massiven Vertrauenskrise in der Bevölkerung mit dem politischen System führen würden.

Es gilt so stark und selbstbewusst zu verhandeln wie wir es in den Monaten vor der Wahl geschafft haben, für unsere Positionen zu werben.

Erschienen in spw 145 (September/Oktober 2005)