Spielräume nutzen, Grenzen überschreiten!

Gewerkschaften vor den Herausforderungen eines globalisierten Kapitalismus

Kaum zu glauben, aber wahr: Ausgerechnet eine Koalition aus der Partei, die unter Berufung auf den Globalisierungsdruck die größte Umverteilung in der Nachkriegsgeschichte organisiert ...

... hat mit der Partei, die dabei noch einen Zacken zulegen wollte, soll den Wählerwillen repräsentieren. Ein Wählerwille, der alldem eine ziemliche Abfuhr erteilt hat. Die Gesetze der politischen Physik scheinen außer Kraft gesetzt - doch nur, sofern man zwei Momente ausblendet: zum einen, dass das parlamentarische System und die beiden großen Volksparteien eine erstaunliche politische Elastizität aufweisen. Diese ermöglicht es ihnen, von einem Politikmodell zum anderen zu switchen, von einer brutalen neoliberalen Politik zu einer "sozialverträglicheren" Variante beispielsweise. Zum anderen die Wirkung der Linkspartei, die mit ihren beachtlichen rund 9 Prozent wie ein politischer Magnet die Prozesse der Regierungsbildung und Koalitionsvereinbarung im Zentrum der Macht beeinflusst und zu nicht geplanten Kompromissen zwingt. Die politische Klasse, die das Publikum so sicher im Griff zu haben glaubte, mit all den neoliberalen TrommlerInnen von Sabine Christiansen über die (Arbeitgeber-)Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft bis zur apologetischen LeitartiklerIn der Provinzzeitung hat einen empfindlichen Treffer abbekommen und weiß noch nicht so recht, wie ihr geschieht. Die Verunsicherung reicht bis tief ins Arbeitgeberlager. Wenn die WählerInnen schon so unberechenbar sind, zu welchen Unbotmäßigkeiten lassen sich dann ArbeitnehmerInnen hinreißen, denen man das Weihnachtsgeld kürzen, die Arbeitszeit verlängern und die Arbeitsplätze entziehen will? Vor der Wahl noch war sich CDU-Generalsekretär Kauder sicher, dass ArbeitnehmerInnen, die eine schwarz-gelben Regierung ins Amt heben, wohl kaum tags drauf den Streikaufrufen einer Gewerkschaft folgen würden. Der Zusammenhang hat sich bestätigt, aber umgekehrt. Schwarz-Gelb kam nicht ins Amt und die ArbeitnehmerInnen, z.B. die Beschäftigten der Unikliniken in Baden-Württemberg, folgten "tags drauf" dem Streikaufruf ihrer Gewerkschaft, verteidigten in einem wunderschönen und effektiv geführten Streik die 38,5 Stunden-Woche und lösten überdies ver.di-intern einen Paradigmenwechsel in der Tarifpolitik für den Öffentlichen Dienst aus. Hatte man sich im Gewerkschaftsapparat schon mit einer Verhandlungslösung - moderate Arbeitszeitverlängerung - im Verhandlungswege arrangiert, zeigte dieser Arbeitskampf (vor allem) von Frauen in einem bisher nicht streikerfahrenen Bereich, dass es auch in der Defensive Spielräume gibt. Einen deutlichen Anteil an diesem Erfolg hat die Verunsicherung im Arbeitgeberlager in Folge des Wahlausgangs. Von Eskalationsstrategien lässt man angesichts des einstweilen schwer kalkulierbaren Ausgangs lieber die Finger. So auch im Tarifkonflikt im kommunalen Bereich. Von der im neuen Tarifvertrag (TV-ÖD) bestehenden Möglichkeit, die Arbeitszeitregelung mit dem Ziel einer Verlängerung zu kündigen, hat nur der baden-württembergische Arbeitgeberverband Gebrauch gemacht - vor der Wahl, als man noch mutiger war. Bis dato ist es in keinem Bundesland mehr zur Kündigung der Arbeitszeitregelung gekommen. Bei ver.di ist die Unsicherheit zu Gunsten der klaren Perspektive gewichen, im Februar und März die Arbeitszeit notfalls in einem längeren Erzwingungsstreik im Südwesten zu verteidigen. Außerdem wird diskutiert, ob man die Gelegenheit nicht zu einer Gegenoffensive im Sinne von Arbeitszeitverkürzung oder materiellen Verbesserungen nutzen kann.

Wunderschöner, effektiv geführter Streik

Ob diese politischen und gewerkschaftlichen Erfolge nur ein Zwischenhoch sind oder erste Schritte aus Krise und Niederlagen, hängt davon ab, ob ihnen strukturelle Neuorientierungen auf Gewerkschaftsseite folgen. Mit dem Wahlerfolg der Linkspartei ist ein wichtiger politischer Schachzug gelungen. Ein politisches Vakuum konnte links besetzt werden. Allerdings war der Verlust des "politischen Arms im Parlament" nicht der Grund der Krise von Gewerkschaften (teils auch sozialen Bewegungen), sondern ihr Symptom - und das Nachwachsen dieses politischen Arms ist noch lange nicht die Lösung des Problems der Gewerkschaften. Der Streik der KlinikkollegInnen war eine "Offensive in der Defensive" (Sybille Stamm/Günter Busch in Sozialismus 11/05), entsprechend war das Ergebnis, mit dem insgesamt die Verteilungsrelation bestenfalls gehalten wurde, ein Sieg in der Niederlage. Es verdient gerade deswegen herausgestellt zu werden, darf aber nicht vergessen lassen, dass es bei den meisten Tarifauseinandersetzungen nach wie vor um Positionsverluste und Aderlass geht. In einem globalisierten, entgrenzten Kapitalismus, der sich nationalstaatlicher (übrigens damit auch europäischer) Regulierung zunehmend entzieht, sei es politisch oder in der Primärverteilung, sitzen Gewerkschaften wie auch soziale Bewegungen, die sich auf Regulation bzw. Verteilungskämpfe im nationalen Rahmen beschränken, strategisch am kürzeren Hebel. Dies auf jeweils unterschiedliche Weise in den verschiedenen Sektoren. Die Beispiele Linkspartei und Uniklinikstreik zeigen aber, dass man durch geschickte Gewichtsverlagerung und koordiniertes Ruckeln auf der kürzeren Seite des Hebels beim Gegenüber einige Gleichgewichtsstörungen auslösen kann. Das Problem der strukturellen Ohnmacht trifft besonders die Gewerkschaften in ihrer derzeitigen Verfassung, weil mit der kapitalistischen Globalisierung für sie als immer noch nationalstaatlich orientierte Akteure das entscheidende Funktionsprinzip außer Kraft gesetzt wird, nämlich die Fähigkeit, durch kollektives Vorenthalten von Arbeitskraft in einer Wirtschaftsbranche Durchsetzungskraft zu entfalten. Wenn die Wirtschaftsbranchen sich von nationalen Grenzen "emanzipieren", wenn sich die Arbeitmärkte globalisieren, weil Migration, "Freizügigkeit" und Mobilität von Arbeitskraft zunehmen und weil es dem Kapital immer leichter fällt dorthin zu gehen, wo Arbeitskraft (auch qualifizierte) billiger ist, dann verpufft das Druckmittel der Gewerkschaften, wie der Dampf in einem Kessel mit zu kleinem Deckel. Eine Wiederaufstiegsperspektive eröffnet sich den Gewerkschaften erst, wenn sie es schaffen, in diesem neuen Rahmen der globalisierten Märkte wenigstens näherungsweise das Monopol über das Arbeitskraftangebot wieder herzustellen, um damit den Einfluss auf die Preisbildung der Arbeitskraft und ihre "Nutzungsbedingungen", vor allem die Arbeitszeit, zurückzugewinnen. Gewerkschaften, die die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ihrer eigenen Existenz so sträflich ignorieren, wie die Gewerkschaften hierzulande, werden nicht aus ihrer Krise herausfinden. Von einem wirklichen Verständnis dieses Problems sind wir als Gewerkschaften jedoch weit entfernt. Für die einen, meist der SPD Nahestehende, ist globaler Kapitalismus Naturgesetz. Die Antwort ist intelligente Anpassung via Co-Management: Standortsicherung durch Innovation, Investitionen in Wissenschaft und Forschung, soziale Flankierung des "unvermeidbaren Strukturwandels". Für die "NationalkeynesianerInnen" dagegen ist der globalisierte Kapitalismus ein Arbeitgeber-Bluff. Die Gegenstrategie hier heißt: Lasst euch nicht bluffen! Mit Gegeninformation soll das neoliberale Paradigma entkräftet und aus den Köpfen des Publikums, besonders des eigenen, verbannt werden. Statt "Eine andere Welt ist möglich" lautet hier das Gegenargument: "Ein anderes Deutschland ist möglich", ausdifferenziert in einem keynesianischen Umverteilungsprogramm mit vielen Spiegelstrichen.

Erste Ansätze einer Globalisierung von Gegenwehr

Die neue ökonomische Übermacht des Kapitals ist jedoch in erster Linie ein Macht- und nicht ein Bewusstseinsproblem. Die Ideologie des Neoliberalismus ist nicht einfach nur falsches und damit leicht auszutauschendes Bewusstsein, nach dessen Aufklärung sich wieder Erfolge erstreiten ließen. Sie ist die adäquate Ideologie des entgrenzten und deregulierten Kapitalismus. Im Marxschen Sinne ist sie insoweit auch "richtiges" Bewusstsein, als sie die praktische Lebenserfahrung richtig widerspiegelt und bestätigt. Entgegen der makroökonomisch richtigen These, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze schafft, machen täglich tausende ArbeiterInnen - und über die Medien vermittelt alle ArbeiterInnen - die Erfahrung, dass ihr Lohnverzicht, ihre Bereitschaft zu unbezahlter Arbeitszeitverlängerung ihren Arbeitsplatz erst einmal sicher macht. Und ihre Gewerkschaften, die ständig in Wort und Schrift das Gegenteil behaupten, haben eben dies federführend in betrieblichen Bündnissen oder per Tarifvertrag organisiert. So konstituiert sich neoliberales Bewusstsein, gegen das mit der abstrakten Propagierung des Gegenteils nicht anzukommen ist; gegen das nur anzukommen ist mit einer strategischen Antwort auf die Frage, wie unter den geänderten Bedingungen des globalisierten Kapitalismus langfristig wieder eine Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsperspektive eröffnet werden kann. Wie aber vermitteln sich aktuelle Kämpfe mit langfristigen strategischen Erfordernissen? Natürlich nicht, indem das eine zur perspektivlosen Wurstelei oder das andere zur unerreichbaren Utopie erklärt wird, sondern, indem das eine als Voraussetzung des anderen gesehen wird. Gerade da, wo Belegschaften gekämpft haben, an die Grenzen (auch im wörtlichen Sinne) ihrer Möglichkeiten gestoßen sind, ist die strategische Diskussion über weitergehende Perspektiven in Gang gekommen, wurden Kontakte zu den Belegschaften aufgenommen, gegen die man ausgespielt wurde, werden die ersten Wurzeln der Globalisierung von Gegenwehr geschlagen. Der Weg der Gewerkschaften dorthin, wo das Kapital schon ist, ist lang und mit tausend Fragen und Unklarheiten gepflastert. Es sind aber auch Anknüpfungspunkte erkennbar: in Euro- und Weltbetriebsräten, transnationalen Tarifkoordinationen, grenznahen Gewerkschaftskooperationen, gewerkschaftlichen Dachverbänden und nicht zuletzt in den inzwischen gut verankerten Kooperationen in sozialen Bündnissen mit oft grenzüberschreitend denkenden und handelnden NGOs, vor allem mit attac.

Ein gut gemeinter Eimer kaltes Wasser

Diese Kooperation erinnert an das Bild eines gefesselten Riesen, umtanzt von einem putzmunteren Zwerg, auch wenn dieser "in seiner Dynamik etwas nachlässt", so O-Ton attac-Ratschlag in Würzburg. In diesem Zustand waren sich Riese und Zwerg gegenseitig sehr hilfreich. Sie haben wechselseitig Kampagnen unterstützt - zur Gesundheitsreform, zu Lidl oder gegen Arbeitszeitverlängerung. Sie haben gemeinsam für Demos mobilisiert und damit die TeilnehmerInnenzahl und die politische Wirkung erhöht. Dennoch ist auf diese Weise das politische Potenzial eines Bündnisses von Gewerkschaften und globalisierungskritischer Bewegung bei weitem nicht ausgeschöpft. Der Riese könnte theoretisch Stärke und Durchsetzungsmöglichkeiten beisteuern, weil er mit seinen gewerkschaftlichen Mitteln im Zentrum der Ökonomie, dort, wo sich die Machfragen entscheiden, agieren könnte. Der Zwerg dagegen hat die richtige Idee, er hat das Prinzip der Globalisierung begriffen, wirbelt viel rum, aber merkt zunehmend, dass ihm ein Machtmittel fehlt, mit dem wirklich Druck erzeugt werden kann, mit dem die andere Welt, deren Möglichkeit er uns vorgeführt hat, auch wirklich werden kann. Statt sich nur quantitativ zusammenzutun, kommt es immer mehr darauf an, in den Bündnissen die spezifischen Stärken zusammenzubringen und sie auf diese Weise von theoretischen zu praktischen Stärken werden zu lassen.

Neoliberale Ideologie: nicht nur "falsches Bewusstsein"

Langfristig handlungsfähig werden Gewerkschaften erst wieder, wenn sie sich der Perspektive von "Global Unions" öffnen, sie zu ihrer langfristigen Vision machen und sie zügig zu operationalisieren beginnen. Die hierzu nötigen Lernprozesse aus offensiven Kämpfen unter Defensivbedingungen heraus zu organisieren, müsste Ziel der Bündnisse von Gewerkschaften und globalisierungskritischen NGOs sein. Die Zeiten des vorsichtigen Abtastens sind vorbei. Vielleicht braucht der Riese auch mal einen gut gemeinten Eimer kaltes Wasser, um wieder in die Vertikale zu kommen. Werner Sauerborn, Hauptamtlicher bei ver.di Baden-Württemberg ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 500 / 18.11.2005