Im Übergang. Die Vielfalt sozialer Kämpfe und die Neuerfindung ihrer Linken.

Vielleicht hat noch keine Bundestagswahl den Spielraum der Linken in Deutschland so erweitert wie die des 18. September. Wie vom Parteienforscher Franz Walter auf den Punkt gebracht, haben sich ...

... die WählerInnen eine Regierung beschert, "von deren Projekt, Rhetorik und auch Leitfiguren sie bereits jetzt die Nase voll haben". Zwar bleibt der Neoliberalismus am Drücker, "aber im Grunde hat der Kern der Gesellschaft ihn längst hinter sich gelassen". (Die Zeit 23/2005). Fest steht immerhin, dass keine der beiden Optionen neoliberaler Politik eine regierungsfähige Mehrheit errang. Die kommende Regierung wird schon deshalb so schwach sein wie wenige vor ihr: Muss sie doch so oder so eine abgewählte Politik fortsetzen. Das erweitert den Interventionsraum der Linken, weil die Bindungskraft der bisherigen politischen Konstellation der BRD weiter abnehmen, die Risse im hegemonialen Block sich vertiefen werden: unumkehrbare Erosion der "Volksparteien", Auseinanderdriften von Partei- und Gewerkschaftssozialdemokratie, gleichermaßen nach rechts wie nach links treibender, deshalb von links ebenso taktisch wie - why not? - solidarisch auszubeutender Profilierungszwang der Linkspartei und sogar der Grünen. Entscheidend bei all dem wird der längst noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeitsspielraum der globalisierungskritischen wie der anti-neoliberalen Bewegungen sein: dort vor allem, wo beide zusammenkommen.

Der Eigensinn der Kämpfe

Im unterschiedlichen Bezug auf verschiedene Kämpfe vervielfältigte sich "die" Linke schon im 19. Jahrhundert in reformistische und revolutionäre, später in traditionelle und alternative Strömungen. Ihr Unterschied ergab sich dabei auch aus dem besonderen Einsatz der Kämpfe, d.h. ihrem jeweils treibenden Motiv. Von dort stammt die Unterscheidung von Verteilungs-, Anerkennungs- und Aneignungskämpfen, der wir in diesem Heft nachgehen. Setzten die verschiedenen reformistischen Linken primär auf Verteilungs- und Anerkennungskämpfe, zogen revolutionäre Linke zumindest im Anspruch die Aneignungskämpfe vor. Konzentrierten sich traditionelle Linke auf Verteilungsfragen, setzten alternative Linke spätestens seit den 1960er Jahren auf Anerkennungskämpfe. Doch Vorsicht: Wer die genannten Unterscheidungen - reformistisch vs. revolutionär, traditionell vs. alternativ, Verteilung vs. Anerkennung vs. Aneignung - wörtlich nimmt und mit der Sache selbst - den Kämpfen, den Bewegungen, den Linken - verwechselt, dem oder der werden sie gleich wieder verschwimmen. Denn die wirklichen sozialen Kämpfe werden stets mit- und durcheinander, nicht selten auch gegeneinander ausgefochten. So kämpfen zwar Frauen-, Schwarzen oder Homobewegungen ganz offenbar um Anerkennungsgleichheit, doch geht es dabei immer auch zentral um Verteilungsfragen und natürlich um Aneignung. Was anders ist es als Aneignung, wenn eine Afroamerikanerin (1) sich den für Weiße vorgesehenen Busplatz nimmt und damit den Zündfunken für eine ganze Bewegung gibt? Worauf, wenn nicht auf Aneignung zielt in der zweiten Frauenbewegung die Parole "Mein Bauch gehört mir"? Tatsächlich liegt der Eigensinn eines Kampfes nicht darin, entweder ein Verteilungs- oder ein Anerkennungs- oder ein Aneignungskampf zu sein, sondern in der Gewichtung, nach der eines dieser Motive vor den anderen leitend ist. Dass das so ist, ergibt sich aus den herrschenden Verhältnissen, die niemand einfach überspringen kann.

Umsonst und Draußen

Aktuell überhaupt von unterschiedlichen Kämpfen sprechen zu können, verdankt sich der jüngeren Karriere eher des Begriffs als der Sache der Aneignungskämpfe. In mehreren Städten haben sich Umsonst-Kampagnen gebildet, 2004 tagte ein gut besuchter BUKO zum Thema. Allerdings hinkt, und das ist kein bisschen hämisch gemeint, die wirkliche Aneignungsbewegung dem, was mit ihr zu wünschen wäre, weit hinterher. Obwohl erfreulicherweise bewusst auf Popularisierung angelegt, blieb sie bisher auf die jugendbewegte Subkultur beschränkt. Das kann beim kollektiven Erkämpfen des freien Zutritts zu Schwimmbädern und Theatern oder beim demonstrativen Schwarzfahren auch gar nicht anders sein. Dennoch verweist solche Symbolpolitik auf den durch einen konventionellen Politizismus lange verdeckten Umstand, dass de facto "massenhaft" betriebene "Aneignung von unten" seit jeher zum politischen Kernbestand widerständiger Alltagskultur gehören kann. Erst wo das anerkannt wird, stellt sich die Frage, wie sich derart immer schon politische und in ursprünglichem Sinn autonome Praxis - zum Beispiel die in vielen Fällen kollektiv organisierte Aneignung des Rechts auf freien Aufenthalt - weiter politisieren kann. Denn um weitergehende Politisierung geht es dabei in jedem Fall, in Richtung zum Beispiel auf alternative gesellschaftliche Einrichtungen, in denen nicht nur Güter, sondern vor allem Fertigkeiten und Fähigkeiten angeeignet und Räume besetzt werden können, die sonst nur im individuellen Aufstieg erreichbar sind. Hier hält die Geschichte der Kämpfe einiges bereit, dessen Wiederaneignung sich lohnt: von "autonomen Zentren" jeder Art über Produktions-, Bildungs-, Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaften bis zur praktisch rasend schnell voran schreitenden, politisch aber noch längst nicht ausgeloteten "Open Source"-Bewegung. Der Verweisungscharakter so verstandener Aneignung liegt in ihrem alltäglich-sinnlichen Bezug auf die realistischerweise wohl erst in längerer Frist zu erreichende Abschüttelung des Kapitals in der demokratischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel gesellschaftlichen Reichtums und seiner materiellen und symbolischen Quellen. Die damit gestellte Aufgabe - und nur als Aufgabe macht sie derzeit Sinn - führt dann aber über trotz allem stets partikulare "Vorteilsnahmen" im Überlebenskampf wie über symbolpolitischen Aktivismus hinaus: und ruft eben dabei stets die beiden anderen Motive sozialer Kämpfe auf, Verteilung und Anerkennung.

Verteilungsfragen

Wenn es um Verteilungsfragen nun schon seit längerem düster aussieht, dann nicht zuletzt deshalb, weil die ultimative Waffe bisheriger Verteilungskämpfe, der Streik, in den jüngeren Transformationen der kapitalistischen Produktionsweise massiv entwertet wurde. Das liegt zum einen daran, dass der Streik heute gar kein "ultimatives" Kampfmittel mehr sein kann. Es liegt aber auch daran, dass er von seinen gewerkschaftlichen Verwaltern als tarifpolitisches Ritual eigentlich eher geduldet als gewollt und entwickelt wurde. Hier gilt es, anderes zu erproben: Boykott, Sabotage, Besetzung, Blockade, vor allem aber die Ausdehnung des Widerstands über den unmittelbaren Produktionsort hinaus und auf andere Subjektivitäten hin als die der unmittelbaren ProduzentInnen. Von einem transnationalen und transsubjektiven social movement unionism aus gesehen hat die Krise traditioneller Verteilungspolitiken dann auch ihr Gutes: Wird mit ihr doch endlich die im Mehrheitsstrom der Linken kaum hinterfragte Dominanz der national und klassenbegrenzten Verteilungskämpfe hinfällig. Unter der gelang es dem Block von Sozialdemokratie und Einheitsgewerkschaft, jede wenigstens tendenziell revolutionäre Alternative schon deshalb schlichtweg platt zu machen, weil die dafür unverzichtbaren "Massen" sich mit gewissem Recht lieber für den verteilungspolitischen Spatz in der Hand als die aneignungs- oder anerkennungspolitischen Taube auf dem Dach entschieden. Hinfällig wurde aber andererseits und ebenfalls endlich (!) die oft bloß bürgerlich-jugendbewegte Verachtung "bloßer" Verteilungsfragen in den Minderheitsströmungen der revolutionären oder alternativen Linken. Dazu trug bei, dass mit fortschreitender Prekarisierung des Überlebens die Verteidigung eines halbwegs zureichenden Einkommens sowie der öffentlichen Güter und sozialen Sicherungen vielen Radikalen auch ganz persönlich nicht mehr nur als reformistisches Blendwerk erscheint. Zugleich bleibt gerade hier zu beachten, dass der Rücknahme erreichter Verteilungsgleichheit ein ebenso systematisches Roll-back der materiellen Erfolge der Anerkennungskämpfe folgte. Dies war umso leichter da die Schlagkraft dieser Kämpfe vielfach in Institutionalisierungsprozessen erlahmte oder auf Inseln identitärer Separierung versandete. Davon abgesehen bleiben Begriff wie Sache der Verteilung wie der Anerkennung in ihrem fließenden Übergang zur Aneignungsfrage schon deshalb unbedingt legitim, wie es im gleichen und freien Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum und den Mitteln seiner Erzeugung schon im "Kleinen und Alltäglichen" stets darum geht, "das Universum der Indifferenz des Gleichen zu unterwerfen" (Alain Badiou). Bedingungslose Gleichheit ist eben als revolutionär-republikanische, radikaldemokratische wie als kommunistische egalité nicht umsonst die Sache, die von rechts her nie angeeignet werden kann.

Anerkennungen

Die Unterscheidung von Verteilungs-, Aneignungs- und Anerkennungskämpfen wollen wir bis auf Weiteres beibehalten, weil sie für uns einen vorläufigen, einen methodischen Gebrauchswert hat. Der liegt darin, sich der exklusiven Bindung an die eine oder andere Kampfform zu enthalten und statt dessen nach Wegen zu suchen, die zum Glück vielfältigen sozialen Kämpfe in ihrem Eigensinn zu radikalisieren, d.h. in Kommunikation bringen zu können. Das wird oft bedeuten, gegen das jeweilige Leitmotiv die beiden anderen Motive oder eines von ihnen stärken zu müssen. Wir streiten nicht ab, dass da ermüdende und nicht nur deshalb zu Recht außer Kurs gesetzte Debatten wie die um "Reform und Revolution" und sogar die um "Haupt-" und "Nebenwidersprüche" ein fernes Echo finden. Allerdings hoffen wir, mit unsererUnterscheidung in den Blick zu bringen, was leider allzu oft und von allen Seiten methodisch und der Sache nach verfehlt wurde: Dass die Geschichte aller bisherigenGesellschaft die Geschichte der sozialen Kämpfe ist,die zwar immer auch, doch nie nur Klassenkämpfe sind. Anmerkung: 1) Rosa Parks, deren Weigerung, den Sitzplatz für einen Weißen zu räumen, eine Initialzündung der Kämpfe gegen die rassistischen Gesetze und den rassistischen Alltag in den USA war, starb während unserer Heftproduktion, am 24. Oktober 2005. Ihrwidmen wir dieses Heft. Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 8/Winter 05/06