Der schwarz-rote Überwachungsstaat

in (29.11.2005)

Was linken Journalisten schon x-mal widerfahren war, traf im Spätsommer 2005 die Zeitschrift Cicero: Mit fadenscheiniger Begründung ließ die Potsdamer Staatsanwaltschaft die Redaktionsräume und

die Privatwohnung des Autors Bruno Schirra durchsuchen. Angeblich sollten Rückschlüsse auf "undichte Stellen" im Bundeskriminalamt gezogen werden. Dazu fand man nichts, dennoch wurden zig Ordner mit Material "sichergestellt", das Schirra zu anderen Themen, beispielsweise dem Parteispendenskandal, recherchiert hatte. Die Ermächtigung zur Strafverfolgung hatte zuvor das Bundesinnenministerium Otto Schilys (SPD) erteilt.
Daß diesmal ein konservatives Magazin betroffen war, führte zu einer stärkeren öffentlichen Wahrnehmung der seit langem feststellbaren Repressionen gegen die Presse. Die neuesten Nachrichten über Observationen von Focus- und Spiegel-Journalisten in den Neunziger Jahren durch den Bundesnachrichtendienst bestätigen die Einschätzung, daß sich die BRD längst auf dem Weg in den Überwachungsstaat befindet.
Wortwörtlich diese Bewertung gab dieser Tage der ehemalige Innenminister Gerhart Rudolf Baum (FDP) ab, der wegen seiner kritisch-bürgerrechtlichen Haltung zeitweilig in der eigenen Partei nicht gut gelitten war. Die Serie von Sicherheitsgesetzen, die seit der Bedrohung durch die Terrorgruppe RAF in den siebziger Jahren bis heute erlassen worden seien, gehe weit über das Notwendige hinaus, sagte Baum bei einem Symposium in der Evangelischen Akademie Berlin. Er beobachte, daß dem Sicherheitsbegriff absolute Geltung eingeräumt werde. Die Politik müsse aber den Bürgern klar machen, dass es absolute Sicherheit ohnehin nicht gebe. Durch den Kampf gegen den Terrorismus seien die Menschenrechte in die Defensive geraten, rügte Baum.
Ähnlich argumentierte auf diesem Symposium Wolfgang Grenz von Amnesty International. Er stellte fest, daß Menschenrechte unter dem Vorwand der Sicherheit erheblich beschnitten würden. Eine vernünftige Sicherheitspolitik müsse sich aber auf die Menschenrechten gründen.
Wer im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD eine Auseinandersetzung mit dieser prinzipiellen Kritik sucht, wird in dem 143 Seiten starken Geheft nicht fündig. Die öffentliche Debatte über die Grenzüberschreitungen des Präventionsstaats Schilyscher Prägung, der bereits zum Überwachungsstaat mutiert ist, läßt die schwarz-roten Koalitionäre kalt. Zugegeben: Diese Debatte wird in der BRD viel zu leise geführt. Die Bürger haben sich offenbar an die Behauptung der rot-grünen Vorgängerregierung gewöhnt, es gebe ein "Grundrecht auf Sicherheit", dem sich alles andere unterzuordnen habe. Sonst könnte am Beginn des innenpolitischen Teils der schwarz-roten Koalitionsvereinbarung nicht der ungeheuerliche Satz stehen: "Freiheit und Sicherheit müssen immer wieder neu - je nach den sich ändernden äußeren Bedingungen - ins Gleichgewicht zueinander gebracht werden." So könnte auch ein George W. Bush formuliert haben. Wir haben ja erlebt, wie die USA bei sich ändernden äußeren Bedingungen (sprich der von Bush behaupteten terroristischen Bedrohung) Freiheit und Sicherheit neu gewichtet haben, beispielsweise in Guantanamo oder Abu Ghraib. Schon dieser eine Satz in der Koalitionsvereinbarung verrät, daß wie in den letzten sieben Jahren auch künftig die Freiheitsrechte dem Sicherheitsdenken ge- opfert werden sollen.
Im Detail langweilt das Kapitel Innenpolitik im Koalitionsvertrag. Denn statt klarer Aussagen finden sich vielfach nur unverbindliche "Prüfaufträge". An keiner Stelle vermittelt die Vereinbarung den Eindruck, hier gehe jemand daran, Grundrechtseinschränkungen der letzten Jahre rückgängig zu machen. Anlaß dazu gäbe es genug. Wenn sich CDU/CSU und SPD schon über die Kritik von Linken und Liberalen, Journalisten- und Anwaltsverbänden oder Menschenrechtsorganisationen hinwegsetzen, so hätte doch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sie zu einer Kursänderung bewegen müssen. Karlsruhe hat beispielsweise den großen Lauschangriff gekippt und Niedersachsens Polizeigesetz mit der Befugnis zur vorbeugenden Telefonkontrolle aufgehoben. Ein Gesetzgeber, der das höchste deutsche Gericht ernst nähme, müßte daraufhin alle staatlichen Eingriffsbefugnisse auf den Prüfstand stellen, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wieder Geltung zu verschaffen, also Einschränkungen der Grundrechte auf das unabdingbare Minimum zu beschränken.
Doch das Gegenteil zeichnet sich ab. Schwarz-Rot wird die Gesetze weiter verschärfen - und zwar nicht nur symbolisch wie im Sexualstrafrecht. Da sollen die Freier von Zwangsprostituierten sich künftig strafbar machen. Woher aber weiß ein Freier, ob eine Prostituierte, mit der er sich einläßt, den Beruf freiwillig oder unter Zwang ausübt? Das zu klären, wird den Gerichten viel Mühe bereiten.
Die geplanten Regelungen zur Unterbindung von Zwangsheiraten werden vermutlich allgemeinen Beifall finden, denn wer könnte eine Zwangsheirat gut heißen (wenngleich auch hierzulande noch manche Heirat mit mehr oder weniger Nachdruck arrangiert wird). Zu befürchten ist, daß eine solche Strafvorschrift instrumentalisiert wird, um Bevölkerungsteile mit Migrationshintergrund als rückschrittlich zu diffamieren, während es darauf ankäme, sich endlich zu einer wirksamen Integrationspolitik zu entschließen.
Die Migrationspolitik wird mit inhaltsleeren Bekenntnissen zur Integration bezeichnenderweise im Kapitel Sicherheitspolitik abgehandelt. Das Zuwanderungsgesetz soll zwar evaluiert werden. Daß ausgerechnet die Befürworter dieses Abschottungsgesetzes es ins Humane wenden werden, glaubt aber im Ernst niemand.
Große Gefahren ziehen im Strafvollzug auf. Die Zuständigkeit hierfür geht auf die Bundesländer über. Fachleute warnen schon vor einem "Wettlauf der Schäbigkeit". Das Ziel der Resozialisierung wird in vielen Ländern angesichts leerer Kassen, aber auch ideologischen Gründen gänzlich aufgegeben werden, der "Verwahrvollzug" aus der Zeit vor der Strafvollzugsreform in der Siebziger Jahren wird wieder zur Regel werden. Zur Abkehr vom Resozialisierungsauftrag paßt die Absicht, Jugendliche in Sicherungsverwahrung zu nehmen.
Notwendig wären Schritte zu einer Eindämmung der etwa 30 000 Telefonüberwachungen, die jährlich nach dem Strafprozeßrecht angeordnet werden. Die Koalitionsvereinbarung enthält nur einen vagen Prüfungsauftrag. Noch schlimmer: Der Europäische Haftbefehl, soeben vom Bundesverfassungsgericht in Bausch und Bogen abgelehnt, soll sofort in innerstaatliches Recht umgesetzt werden. Evaluiert wird die Praxis der akustischen Wohnraumüberwachung (großer Lauschangriff), doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, daß die gerade im Mai 2005 beschlossene Neuregelung rückgängig gemacht wird. Die verabredete Evaluierung der Vorschriften über die DNA-Analysen hat offenkundig den Sinn, eine Ausweitung vorzubereiten, damit im Sinne der CDU/CSU der genetische Fingerabdruck als "Standardmaßnahme" eingeführt werden kann.
Der Datenschutz wird als "Hindernis effektiver Terrorismusbekämpfung" bewertet. Daß er ein immer wichtiger werdendes Grundrecht ist - 1982 vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entwickelt -, wird nicht einmal erwähnt.
Für den Fall, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem für März 2006 zu erwartenden Urteil über das Luftsicherheitsgesetz (Abschuß von Passagierflugzeugen) solche Bundeswehreinsätze im Innern zuläßt, hält sich die große Koalition die Möglichkeit offen, dem Militär noch mehr Kompetenzen im Innern zu geben.
Der schwarz-rote Staat wird nicht liberaler, nicht sozialer, aber er möchte sehr stark werden.

Heft Ossietzky 24/05