Die Unerträglichkeit des folgenlosen Denkens

Das Buch trägt einen Titel mit Anspruch: "Mein Brecht". Bei den meisten, die heute über Brecht schreiben, würde ich ihn eine Privatisierung von Gemeineigentum nennen. Nicht so bei Ernst Schumacher,

denn sein Buch unterscheidet sich durch etwas, das heute schon eine Sensation ist: Es enthält keine Sensationen, es hält sich an Fakten.

Das Jahr 2006 ist ja gerade wieder günstig, Brecht starb vor fünfzig Jahren, da rät der Markt, etwas über Brecht zu verfassen. Und natürlich rät der Markt zu schreiben, was noch nie jemand vorher geschrieben hat. Und da das viele machen, ist am Ende das Viele immer nur dasselbe: Es ist - in diametralem Gegensatz zu Schumachers Buch - die seit dem vorigen Jahrhundert beliebte und honorierte Zurücknahme Brechts, also seine Anpassung an die herrschende Meinung, die - nach dem ebenfalls nicht mehr ganz passenden Bärtigen aus Trier - immer die Meinung der Herrschenden ist. So entpuppen sich "Zeichen für neue Beweise" einfach als neues Design und "Imagination neuester Sichten" als altes Image, mit dem der Schreiber wieder ins Geschäft kommen will.

In diesem Sinne erreicht uns aus Karlsruhe die Verkündigung "eines ganz neuen Brecht". Jan Knopf, einem deutschen Professor, der dafür ein ganzes Institut gründete, ist es gelungen, Bertolt Brecht, den er programmatisch im Internet den "Goethe des 21. Jahrhunderts" nennt, von dem Verdacht zu reinigen, er sei Marxist gewesen. Er, der Professor, hat nämlich in Brechts Bibliothek im Berliner Brechthaus nachgeschaut und kann nun beweisen, daß es nur die Biografen und Deuter waren, die behaupteten, Brecht habe Marx gelesen. "Davon kann jedoch keine Rede sein, er hat Marx nie richtig gelesen. Die Lektüre des ›Kapitals‹ ist lediglich als sporadische Urlaubslektüre überliefert", so der Professor; bei dem "Büchernarren" Brecht habe er nur eine weitgehend ungebraucht wirkende "Kapital"-Ausgabe von 1932 gefunden, obwohl Brechts angebliche Marx-Studien doch um Jahre zuvor datiert seien. Daß sich Brecht selbst als Marxismus-Kenner darstellt, ist für den Professor eher eine "typisch Brechtsche Selbstinszenierung, die im konkreten Fall einem speziellen Auftritt in Moskau geschuldet ist".

Seine Konklusion: "Wir wollen mit unserer Arbeit eine Hilfestellung leisten, den ›neuen Brecht‹ zu entdecken", der bisher "als kommunistischer Dichter diskreditiert wurde".

Das ist natürlich ein alter Hut, in unserem Falle ein Doktorhut, den sich heute niemand, der etwas auf sich hält, aufsetzt. Wenn ich diese Eintrübung Brechts zum politischen Analphabeten hier überhaupt erwähne, so um auf die treffenden Beschreibungen der TUIs in Schumachers Buch aufmerksam zu machen. TUIs sind Leute, die gegen Bezahlung ihren Verstand vermieten. Sie sind jederzeit bereit, Sätze zu beweisen wie "Der Regen fließt von unten nach oben" oder "Bei Pflanzen kommt die Frucht vor der Blüte". Für sie erfand Brecht den Namen TUI, das ist eine Umkehrung des Intellektuellen in den Tellekt-Uell-In. Untrügliches Kainsmal des TUI: Bei ihm weicht Wissen der Ware.

Denn natürlich weiß unser Professor aus Karlsruhe, daß der Satz "Brecht hat Marx nie gelesen" gut paßt zu dem Satz "Der Regen fließt von unten nach oben", aber kaum zu Brecht. Denn Brecht, das schrieb derselbe deutsche Professor einige Jahre früher, habe seine "Große Methode" ganz von der "marxistischen Dialektik" abgeleitet und da vor allem von Lenin. Damals gab der Professor auch Bücher mit heraus, zum Beispiel die "Große kommentierte Frankfurter und Berliner Brecht-Ausgabe". Und da kennt er natürlich, was er im Band 21, Seite 256 herausgegeben hat: "Als ich das ›Kapital‹ von Marx las, verstand ich meine Stücke" (Brecht 1928).

Ernst Schumacher ist demgegenüber natürlich im Vorteil: Er darf sagen, was er immer gesagt hat, denn er ist Kommunist geblieben. Er kann nach wie vor von Revolution sprechen und muß nicht "über den Kapitalismus hinausgehende Alternative" sagen. Klassenkampf heißt bei ihm weiterhin Klassenkampf und nicht "sozialer Interessenhandlungsbedarf". Und er sagt auch zu Arbeitern Arbeiter und nicht "Arbeitskraft-Unternehmer". Und selbst wo "Linke" von "Profit-Dominanz" reden, die sie beseitigen wollen, bescheinigt ihnen Schumacher, daß es Kapitalismus ohne "Profit-Dominanz" nicht gibt, da es keinen Regen ohne Nässe gibt.

So ist das Brecht-Buch von Schumacher, einem hervorragenden Theaterwissenschaftler, eben nicht nur ein Buch über Theater. Es ist ein Buch gegen den Kapitalismus. Damit ist es ein Buch für Brecht. Hier wird keine Frage gestellt, ohne die Frage nach dem Fortgang der Welt zu stellen. Keine Ästhetik gibt es hier ohne reale Gesellschaft, weil es keine Ästhetik ohne Menschen gibt.

Von Schumacher kann man erfahren, daß jene "Zurücknahme" Brechts, seit langem ein beliebtes Spielchen der "westlichen Wertegemeinschaft", keineswegs nur Sache des Theaters oder des Theaterspielens ist. Wenn man den Dichter vom Politiker abhackt, um ihn als "Dichter" besser zu vereinnahmen, oder wenn man ihn zum politischen Analphabeten stempelt, um ihn als "Dichter und Denker" der eigenen Folgenlosigkeit anzupassen, ist das für Schumacher nicht Sache nur der Literatur- oder Theatergeschichte, sondern der Geschichte, und zwar der Geschichte im Stadium der verordneten Restauration. Heiner Müller formulierte noch deutlicher, wenn er seine Stücke "proletarische Tragödien im Zeitalter der Konterrevolution" nannte.

Schumachers Versuche zur Wiederherstellung des "ganzen" Brecht, ob in seinen Theaterkritiken, Polemiken oder Essays oder eben in seinem Buch, sind wirksame Mittel, jene Restauration, die auch auf dem Theater das Ende aller Geschichte und die Zauberformel der "Alternativlosigkeit" verkündet, als Konterrevolution großen Stils zu erkennen und das "Ende des Klassenkampfes" als Beginn der Großoffensive des Kapitals im Klassenkampf gegen die Unteren, die den Klassenkampf gefälligst unterlassen sollen. Und Schumacher tut das nicht nur - was sein Vorteil ist - mit der Konsequenz des Kommunisten, wirksam unterstützt wird er vom Dickschädel des Bayern.

Schumacher sucht, wo immer er über Brecht schreibt, spricht, denkt, den "ganzen" Brecht. Das ist für ihn die Einheit des Dichters, Politikers, Philosophen, Theatermachers, Lyrikers, Dramatikers, DDR-Bürgers, Österreichers, Weltbürgers, Regisseurs, Sprachschöpfers, Lobenden, Fluchenden, Eingreifenden, Zögernden, Zweifelnden, Genießenden, Fröhlichen, Traurigen, des Clownesken wie des Tragischen, des Lehrers wie des Lernenden. Schumacher muß diese Widersprüche nicht zerhacken, um Brecht seinen Lesern verständlich zu machen, für ihn sind die Widersprüche das Verständnis, denn sie sind die Lebendigkeit Brechts.

Gegenüber den "Zerhackern" und "Zurücknehmern" hat Schumacher einen weiteren Vorteil: Er kannte Brecht. Er sprach mit ihm. Er stritt mit ihm. Er konnte ihn beobachten. Kurz: Brecht war für ihn nicht eine Meinung, sondern ein Vorgang.

Man weiß, wie sehr der Begriff "Vorgang" zu den Sakramenten brechtschen Denkens gehört: "Ich bin keine Person. Ich entstehe jeden Moment, bleibe in keinem." Brecht, will man ihn als Brecht verstehen, ist nicht Tatsache, sondern Tun. Denken ist Tätigkeit. So sieht Schumacher konsequent im "eingreifenden Denken", besonders in Zeiten der DDR, den Schlüssel zum Verständnis des Werkes und der Person Brechts. Hier findet er die dialektische Einheit von allem, was Brecht dachte, dichtete, schrieb, inszenierte, kritisierte. Gleich ob er im Berliner Ensemble den "Kaukasischen Kreidekreis" als Welttheater inszenierte oder Vorschläge machte zur Veränderung der Lehrpläne an den Grundschulen, ob er die Weltöffentlichkeit aufrief zur Vermeidung des Atomtodes oder dem Volkseigenem Betrieb Secura half, seine Planschulden zu verringern, ob er mit seinen "Barlach-Thesen" die Kulturpolitik der Parteiführung zu Fall brachte oder der Parteiführung half, die Erste-Mai-Losungen 1954 zu verbessern.

Auch im Theater war für Brecht ein Stück erst geschrieben, wenn es aufgeführt war. Und auch dann noch wurde es weitergeschrieben. Jede Wirkung maß Brecht an der Veränderung, die sie bewirkte. Ein Gedanke über die Wirklichkeit existierte für ihn in seiner wirklichen Erprobung. Maß aller Tätigkeit aber war die "kritische Haltung". "Nur was ich verändere, begreife ich." Aber das Verändern betraf nicht nur das Theater, es betraf vor allem die Welt. Brecht mißtraute der Philosophie, er sprach lieber vom "Philosophieren". Philosophie ohne praktische Tätigkeit war für ihn "Atmen, ohne Luft zu holen". Es reiche eben nicht, daß das Theater zeigt, wie man den gefesselten Prometheus befreit, es müsse auch in der Lust schulen, ihn zu befreien, war ein Lieblingssatz Brechts aus der Zeit seiner Arbeit an Strittmatters "Katzgraben", dem ersten Zeitstück auf der Bühne des Berliner Ensembles.

Hier folgt Schumacher Brecht auf den Fersen. Er zeigt folgenloses Denken, das Grundübel unserer Zeit, nicht nur als falsches Denken, sondern als unerträgliches. Das Gefühl der Unerträglichkeit aber kann Impuls für etwas ganz anderes sein: Unerträgliches zu verändern. Denn Mut, läßt Brecht seinen Fatzer sagen, beginnt mit Unmut, Veränderung mit der Lust zum Verändern. "Mein Brecht" jedenfalls, und darin sehe ich sein Verdienst, vermittelt nicht nur Lust zum Lesen, sondern die Lust zum Handeln - und nicht nur im Theater.

Ernst Schumacher: "Mein Brecht", Henschel Verlag, 560 Seiten, 19.90 EUR