Rente mit 67: Ein weiterer Schritt zur Rentensenkung

Nach dem Willen der Großen Koalition soll die Regelaltersgrenze in der Gesetzlichen Rentenversicherung ab dem Jahr 2012 schrittweise angehoben werden, bis sie im Jahr 2029 67 Jahre beträgt.

Der Geburtsjahrgang 1964 wird damit der erste sein, für den die Rente mit 67 gilt. Das sind alle, die dieses Jahr 42 oder jünger sind.

Betroffen sind aber schon die Jahrgänge ab 1947, also alle, die dieses Jahr zwischen 43 und 59 Jahre alt werden. Wer dieses Jahr 59 Jahre alt wird, soll einen Monat länger arbeiten. Dann steigt die Rentenaltersgrenze bis 2023 jedes Jahr um einen Monat. Zwischen 2023 und 2029 geht‘s dann Jahr für Jahr mit zwei Monaten zusätzlich weiter. Mit dieser Verdoppelung des Steigerungstempos in der zweiten Phase des Übergangs auf 67 hat Franz Müntefering erreicht, dass die 67 schon ab 2029 gilt, und nicht, wie ursprünglich im Koalitionsvertrag aufgeschrieben, ab 2035.

Mit der Erhöhung der Rentenaltersgrenze sinkt die durchschnittliche Rentenbezugsdauer. Damit verringert sich der Gesamtbetrag, den die Versicherten bis zum Tod für ihre eingezahlten Beiträge als Rentenleistung erhalten. Mit anderen Worten: die eingezahlten Beiträge werden ein Stück weit entwertet. Denn die Verkürzung der Rentenbezugsdauer wird nicht kompensiert durch den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung bis 2029. Der Anstieg der Lebenserwartung flacht insgesamt ab. Da sind nur ein paar Monate mehr zu erwarten, nicht zwei Jahre.

Gegen die Älteren

Ein offensichtliches Problem dabei ist die Beschäftigungssituation der Älteren. Die über 50-Jährigen stellen gut 25% aller registrierten Erwerbslosen und mehr als die Hälfte (51%) der Langzeiterwerbslosen. Man könnte sagen, Hartz IV ist überwiegend eine Veranstaltung gegen Ältere. Viele von ihnen schon jetzt keine Chance, bis 65 im Beruf zu bleiben, von 67 ganz zu schweigen.

Die Große Koalition hat angekündigt, mit gezielten Maßnahmen die Beschäftigungsdauer der Älteren zu erhöhen. Dabei setzt sie in hohem Maße auf Anreize für Billigjobs. Die über 55- Jährigen sind eine der Zielgruppen des kommenden Kombilohns. Klar scheint dabei zweierlei:

Erstens: Billigjobs bedeuten geringe Rentenbeiträge und damit geringe Rentenansprüche für solche Beschäftigungszeiten. Zweitens: Alle Versuche, die tatsächliche Beschäftigungsdauer der Älteren zu erhöhen, verringern die Arbeitsmarktchancen der Jüngeren. Dann trifft‘s eben verstärkt junge Leute beim Berufseinstieg und Leute in der Familiengründungs- und Kinderphase.

Angesichts der Beschäftigungslage der Älteren gehen Sozialverbände und Gewerkschaften daher davon aus, dass die Erhöhung des Rentenalters überwiegend nicht zu längerer Beschäftigung, sondern zu vermehrten Abschlägen - also zu Rentenkürzungen - führen wird.

Von einem "Befreiungsschlag" für die Finanzen der GRV durch die Rente mit 67 kann im Übrigen keine Rede sein. Das bringt nur einen halben Beitragspunkt. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, der Niedriglohnsektor auf Kosten regulärer Beschäftigung ausgeweitet wird oder die Entgeltentwicklung deutlich zurückbleibt, ist diese Entlastung rasch wieder verfrühstückt.

Neben der Rente mit 67 will die Große Koalition mit einer weiteren Maßnahme die Renten kürzen, nämlich mit dem sog. "Nachholfaktor". Damit sollen bei den jährlichen Rentenanpassungen ab dem Jahr 2012 Kürzungen der Rentenzahlbeträge nachgeholt werden, die wegen der stagnierenden Entgeltentwicklung und den beiden anderen Kürzungsfaktoren - dem Riester-Faktor und dem Nachhaltigkeitsfaktor - nach der geltenden Rentenformel eigentlich fällig gewesen wären, aber wegen der sog. "Niveausicherungsklausel" nicht vollzogen werden konnten. Das war erstmals im letzten Jahr der Fall, als eigentlich eine Rentenkürzung von rund 1% fällig gewesen wäre. Die wird später nach geholt.

Es werden also selbst dann weiter Nullrunden gefahren, wenn die Löhne und Gehälter so stark steigen, dass trotz des anderen Kürzungsfaktors, des sog"Nachhaltigkeitsfaktors", eigentlich eine nominale Rentenerhöhung stattfinden müsste. Der Nachholfaktor verstetigt sozusagen die Nullrunden. Tatsächlich werden es nicht Nullrunden, sondern Minusrunden werden, weil die Kaufkraft sinkt.

Die Große Koalition macht also in der Rentenpolitik da weiter, wo Rot-Grün aufgehört hat. Die Richtung bleibt die Gleiche, nur das Tempo wird beschleunigt.

Urheber Rot-Grün

Der große Systembruch in der Alterssicherung hat mit Riester stattgefunden. Da wurde der Einstieg in die Privatisierung des Altersrisikos und der Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung vollzogen, um durch zusätzliche Belastung der Versicherten die Arbeitgeber bei den Beiträgen zu entlasten. Da wurde das sozialpolitische Sicherungsziel der Gesetzlichen Rentenversicherung aufgegeben, nämlich den im Arbeitsleben erworbenen Lebensstandard im Alter annähernd zu sichern, und zwar auch für diejenigen, deren Einkommen sie zur Vermögensbildung nicht befähigt. Da wurde stattdessen die Beitragsstabilität für Arbeitgeber zur obersten aller Aufgaben der GRV erklärt. Da wurde Kurs genommen auf die Speisung und Subventionierung der Banken und Versicherungen, die sich mit den Privatvorsorgeprämien der Versicherten goldene Nasen am spekulativen Risikokapitalmarkt verdienen wollen. Mit dem Kapitaldeckungsverfahren wird die Alterssicherung nicht nur nicht "demografiefester", sie wird zusätzlich spekulativen Risiken ausgesetzt.

Die Rentenpolitik von Rot-Grün hat eine Absenkung des Rentenniveaus auf 52% im Jahr 2030 vorprogrammiert. Die Rente mit 67 wird wegen der Abschläge das Niveau weiter auf 48% sinken lassen.

Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen: Sie gelten nur für diejenigen, die 45 Versicherungsjahre nachweisen können. Das schafft aber nur knapp die Hälfte der Männer und nur 5% der Frauen. Im Durchschnitt bringen Männer es auf 40 Jahre und Frauen auf 26 Jahre. 26 Jahre brauchte ein Durchschnittsverdiener bisher, um einen Rentenanspruch in Höhe der Sozialhilfe zu erwerben.

Die rot-grüne Rentenpolitik machte daraus 35 Jahre im Jahr 2030, und die Große Koalition legt noch zwei Jahre drauf. Dann muss der Durchschnittsverdiener 37 Jahre Beiträge zahlen für eine Rente in Höhe der Sozialhilfe. Wer nur 80% des Durchschnittseinkommens verdient, und das sind vor allem Frauen, braucht künftig schon nach dem Rechtsstand von Rot-Grün 40 Jahre - was der heutigen durchschnittlichen Versicherungsdauer von Männern entspricht.
Wenn man nun einen Blick auf den Arbeitsmarkt wirft, kann man unschwer feststellen, dass die Chancen für geschlossene Versicherungsverläufe und zur Erzielung durchschnittlicher Einkommen nicht zu-, sondern abnehmen. Der Niedriglohnsektor wird weiter aufgebläht, befristete Jobs sind an der Tagesordnung, und von Phasen der Erwerbslosigkeit unterbrochene Erwerbsbiografien nehmen zu. Arbeitszeitverlängerung verfestigt die Massen- und Langzeiterwerbslosigkeit, und eine angemessene Teilhabe der Arbeitsentgelte an der wirtschaftlichen Entwicklung bleibt weiter außer Sicht.

Mit der sozialen Deregulierung der Erwerbsgesellschaft werden zugleich die Chancen verringert, die sich immer weiter öffnende Sicherungslücke in der Gesetzlichen Rentenversicherung durch den Aufbau privater Altersvorsorgevermögen zu kompensieren. Schon heute erzielt rund ein Drittel der westdeutschen Beschäftigten ein Einkommen von weniger als 75% des Durchschnittsverdienstes und ist zur privaten Vermögensbildung kaum befähigt. Vor allem Frauen beziehen unterdurchschnittliche Einkommen und sind durch Unterbrechungen ihrer Erwerbstätigkeit wegen der Kinder nach wie vor benachteiligt.
Die zunehmende Privatisierung der Alterssicherung bedeutet, dass ein würdiger dritter Lebensabschnitt zum Privileg derer wird, die während ihres Erwerbslebens zusätzlich zu anhaltend hohen Beitragsleistungen an die Gesetzliche Rentenversicherung zum dauerhaften Aufbau entsprechender Privatvermögen befähigt sind. Nur die können künftig einer sich ausbreitenden neuen Altersarmut entkommen.

Wir steuern 2030ff. auf eine Situation zu, wo das Sozialamt auch bei langjährig versicherten Durchschnittsverdienern die Rente auf den Anspruch zur Altersgrundsicherung anrechnet. Die gesetzliche Rente verwandelt sich in eine Art beitragsfinanzierte Sozialhilfe. Damit verliert die GRV ihre Legitimationsbasis vollends. Die Erhebung von Pflichtbeiträgen ist nicht mehr begründbar, wenn dabei nicht mehr rauskommt als bei der staatlichen Fürsorge.

Unterm Strich kann man sagen: Rot-Grün hat die Gesetzliche Rentenversicherung zum Tode verurteilt, und die Große Koalition sorgt dafür, dass der Tod schneller eintritt.

Mythos Demografie

Für diese Rentenpolitik gibt es keinerlei Sachzwänge, auch nicht die demografische Entwicklung. Die demografischen Prognosen besagen nur, dass für eine würdige Alterssicherung künftig insgesamt mehr aufgewendet werden muss. Über die Fähigkeit der Rentenversicherung, diese Herausforderung zu bewältigen, sagen sie dagegen überhaupt nichts aus. Denn das ist keine Frage der Demografie, sondern das ist eine Frage der Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Reichtums, von Arbeit und Einkommen. Beiträge werden nicht nach Köpfen gezahlt, sondern aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.

Unter Rentenexperten herrscht Einigkeit, dass wir die ganze demografische Diskussion so nicht hätten, wenn es Vollbeschäftigung gäbe. Oder anders ausgedrückt: wenn der GRV Beitragsmittel zufließen würden in dem Umfang, wie er bei Vollbeschäftigung gegeben wäre.

Im Übrigen begleitet der gesellschaftliche Alterungsprozess die Sozialversicherung schon seit ihrer Gründung. Betrachtet man die Entwicklung des Alterquotienten zwischen 1900 und 2050 - also des Verhältnisses der über 65-Jährigen zu den Personen im erwerbsfähigen Alter -, dann haben wir im 20.Jahrhundert schon gut vier Fünftel des demografischen Wandels hinter uns gebracht. Dabei ist die GRV nicht nur nicht zusammengebrochen, sondern sie konnte erheblich ausgebaut werden, und zwar einhergehend mit steigenden Nettorealeinkommen der Versicherten.

Würden die Frauen die Rufe der Politik nach mehr Kindern erhören und für deutlich steigende Geburtenraten sorgen, dann würden die finanziellen Herausforderungen im Übrigen nicht kleiner, sondern größer. Dann müsste nämlich aus der laufenden Wertschöpfung nicht nur der steigende Altersaufwand, sondern zusätzlich auch ein steigernder Aufwand für die noch nicht erwerbsfähigen Kinder und Jugendlichen gedeckt werden.

Die demografische Diskussion und die Behauptung, es mangele an Gerechtigkeit zwischen den Generationen, dient lediglich dazu, die zunehmende Ungerechtigkeit und Spaltung in Arm und Reich innerhalb der Generationen aus der Wahrnehmung zu drängen und damit den Blick auf die tatsächlichen Ursachen für die Finanzprobleme der Sozialversicherung zu verstellen.

Es kommt auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an, insbesondere der Arbeitsproduktivität, und darauf, dass die Sozialversicherung über die beitragspflichtige Lohn- und Gehaltssumme angemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung partizipiert.

Was wir seit Anfang der 90er Jahre erleben, ist eine Politik, die mit zunehmender Vehemenz die Sozialversicherung von der ökonomischen Entwicklung abkoppeln will und damit zulasten der Allgemeinheit einseitig die Reichtumsanhäufung bei Unternehmen und Vermögensbesitzern begünstigt.

Nach meiner Beurteilung ist die Lage so, dass wir uns ernsthaft fragen müssen, ob nicht Artikel 20 Abs.4 Grundgesetz berührt ist. Der sichert uns, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, ein Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die sozialstaatliche Ordnung zu beseitigen. Diese Frage sollten sich nach meinem Dafürhalten vor allem die Gewerkschaften stellen. Denn sie haben die sozialstaatliche Zivilisierung des Kapitalismus maßgeblich erkämpft. Das war ihre historische Errungenschaft.

Aus einer Rede vor der der IG BCE Bielefeld am 4.5.2006