"Es war die Hölle!"

Interview mit Samantha Dietmar zur Repression in Mexiko

Atenco, Mexiko, Mai 2006: Infolge der staatlichen Repression gegen die linke Bauern- und Bäuerinnenorganisation FPDT (Gemeindefront zur Verteidigung des Landes, vgl.: GWR 310, Juni 2006, S. 5), die

sich mit BlumenhändlerInnen solidarisiert hatte, die vertrieben werden sollten, wurde die deutsche Fotografie- und Grafikdesignstudentin Samantha Dietmar schwer misshandelt und in die BRD abgeschoben.
Diese Repression ist im Kontext der sozialen Kämpfe in Mexiko zu betrachten: Die Mehrheit der Bevölkerung von Atenco ist Mitglied der "Anderen Kampagne", einer landesweiten außerparlamentarischen Linksallianz, die von den Zapatistas angestoßen wurde und der inzwischen über 1.000 Organisationen angehören. Dieses ausdrücklich pazifistische Bündnis, das starke libertäre Tendenzen aufweist, jedoch pluralistisch angelegt ist, strebt eine neue linke und antikapitalistische Verfassung für Mexiko an.

Graswurzelrevolution: In welcher Angelegenheit waren Sie in Mexiko unterwegs, und wie kam es zu Ihrer Abschiebung?

Samantha Dietmar: Ich war in Mexiko und reiste umher, um Land und Leute zu dokumentieren. Am 3. Mai kam es in Atenco, nahe bei Mexiko-Stadt, zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der linken Bauernorganisation FPDT. In Erwartung einer Demonstration, um gegen die brutale Polizeigewalt zu protestieren, reiste ich mit einer Gruppe von StudentInnen noch am selben Abend dorthin. Doch am Morgen rückten über 3.000 Polizisten an, die auf brutale Weise alle festnahmen, die sie ergreifen konnten. Am 5. Mai wurde ich dann nach Deutschland abgeschoben.

Graswurzelrevolution: Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Samantha Dietmar: Ein Grund wurde mir bis heute nicht genannt. Auch meine Rechte wurden mir nicht erläutert.

Graswurzelrevolution: Regierungsstellen behaupten, es sei bei dem Polizeieinsatz nur darum gegangen, die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Unabhängige BeobachterInnen vermuten eine gezielte Repression gegen linke Basisbewegungen. Was waren Ihre Eindrücke?

Samantha Dietmar: Ich machte abends ein paar Fotos und schloss mich den Alternativ-Medien an. Es gab eine Versammlung am Stadtplatz, und kurz darauf ging es weiter zur Klinik, um den Abtransport der verletzten, aber gut versorgten Polizisten zu dokumentieren. Wir übernachteten in einem kleinen Hotel. Um 6 Uhr läuteten die Glocken, es knallte, Steine flogen, tatsächlich hatte ein neuer Kampf begonnen - mit unglaublicher Gewalt seitens der ca. 3.000 Polizisten gegen etwa 300 DemonstrantInnen.
Tränengas kroch durch die Fenster. Im Fernsehen unseres kleinen Hotels verfolgten wir entsetzt, wie die Polizei systematisch die Stadt eroberte. Mein einziger Gedanke war: sofort zurück nach Mexiko-Stadt! Hier war Mord und Totschlag ausgebrochen.

Graswurzelrevolution: Unter welchen Umständen wurden Sie dann festgenommen?

Samantha Dietmar: Ich verließ nach Sonnenaufgang das Hotel. Nach weniger als einer Minute kam durch den Gasnebel eine Gruppe Polizisten auf mich und andere friedliche Personen zugerannt. Ich gab ihnen zitternd meinen internationalen Presseausweis und fragte, was ich getan hätte. "Die ist nicht von hier", wurde gebrüllt. Ich wurde abgeführt. Hier begann die Hölle.
An den Haaren wurde ich auf den Wagen gezerrt, wo schon ein Haufen stöhnender Menschen lag. Alles war blutig. Die Polizisten beleidigten und bespuckten uns, sie traten mit ihren Stiefeln auf uns und schlugen uns mit ihren Schlagstöcken. Ich spürte Hände an Gesäß und Rücken, die versuchten, mir mein Oberteil auszuziehen. Als ich versuchte, es wieder herunterzuziehen, wurde ich beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Meine Nase blutete. Schließlich wurden wir in einen größeren Bus gezerrt. Dort lag eine Gruppe blutüberströmt am Boden. Wieder Schläge, Tritte, Beschimpfungen. Unsere Köpfe wurden nach unten gepresst, damit wir ihre Gesichter nicht sehen konnten.
Meine Tasche mit Reisepass, Geld, Filmen, Kamera und Objektiven wurde mir entrissen.
Ich durfte mich nicht bewegen. Hände betatschten meine Brüste. Ich wurde gefragt, was ich hier mache. Keiner der schwerverletzten Gefangenen traute sich zu regen. Dann musste ich über zwei Stunden mit den Polizisten Smalltalk führen, sie machten Gruppenphotos mit ihren Handys von mir. Ein Porno auf einem Handy machte die Runde. Sie fragten mich über die Zapatistas, die ETA und Hitler, warum ich hier sei und eine Kamera hätte.
Meine ausgerissenen Haare flogen herum. Ein Polizist schmückte sich damit - Gelächter. Als wir ins Gefängnis von Toluca abgeführt wurden, wurde mir mein Schal über den Kopf geworfen. Sie tätschelten meinen Kopf, traten aber brutal auf die anderen Gefangenen ein.

Graswurzelrevolution: Was passierte in den letzten Stunden Ihres Aufenthaltes in Mexiko?

Samantha Dietmar: Im Gefängnis entspannte sich die Situation etwas. Ich wurde mit vier anderen Nicht-Mexikanerinnen, die auch schwer misshandelt worden waren, zum Arzt gebracht. Auf Fragen nach Telefon, Anwalt, Konsulat bekamen wir nur vertröstende Antworten.
Unsere Aussagen wurden aufgenommen. Alles musste schnell gehen, dann wieder endloses Warten ohne Auskunft. Das Menschenrechtszentrum erschien, befragte uns und machte Fotos. Es stellte den Kontakt zur deutschen Botschaft her.
Wir waren völlig erschöpft. Von dem vielen Tränengas waren meine Augen entzündet, ich musste meine Kontaktlinsen entfernen, was mich fast blind machte. Zwischendurch wurden wir zur Aufnahme von Fingerabdrücken und Fotos geweckt. Dann wurden wir zur Immigrationsbehörde gebracht, dort gab es Untersuchungen, Vernehmungen, aber weiterhin keine Antworten auf Fragen über die Rechtslage. Die Konsulate meldeten sich schließlich. Da meine Kamera und Dokumente angeblich nicht ans Gefängnis übergeben worden waren, wurde ich zur Ausstellung eines Passes zum Konsulat gebracht. Von dort aus ging es direkt zum Flughafen. Während des gesamten Fluges hatte ich zwei Polizisten der Migrationsbehörde zur Seite, die mich am 6. Mai in Frankfurt a.M. ohne jegliche Akten zu meinem Fall der verwunderten deutschen Polizei übergaben.

Graswurzelrevolution: Welche Schritte werden Sie nun unternehmen?

Samantha Dietmar: Wir werden alle rechtlichen Möglichkeiten prüfen, um gegen die Abschiebung sowie gegen die Polizisten, die uns misshandelt haben, vorzugehen. Außerdem versuche ich, meine geraubten Gegenstände, darunter eine Kameraausrüstung, zurückzuerhalten.

Interview: Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A.

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 311, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 35. Jahrgang, Sommer 2006, www.graswurzel.net