Eine Reform des dualen Systems ist überfällig

Die Krise des Berufsbildungssystems: Fehlende Ausbildungsplätze

Jedes Jahr wiederholt sich ein Spiel unglaublicher Ignoranz politischer und ökonomischer Eliten. Im Herbst des Jahres wird bangen Blickes auf die Ausbildungsstatistik geschaut.

Jedes Jahr wiederholt sich ein Spiel unglaublicher Ignoranz politischer und ökonomischer Eliten. Im Herbst des Jahres wird bangen Blickes auf die Ausbildungsstatistik geschaut, um erneut festzustellen, dass die Zahl der Ausbildungsplatzsuchenden zu- und die Zahl der Ausbildungsplätze weiter abge-nommen hat. Neueste Auflage dieses Spiels ist der Berufsbildungsbericht 2006. Er legt die komplette Krise des dualen Systems schonungslos offen und zeigt: Das duale System ist international nicht mehr wettbewerbsfähig und wahrlich kein Exportschlager mehr.
Die Krise des Berufsbildungssystems: Fehlende Ausbildungsplätze
Die quantitativen Probleme, die auch mit einer strukturellen Konjunkturabhängigkeit des Systems korrespondieren, sind weitgehend bekannt. Der Berufsbildungsbericht 2006 konstatiert, dass im Jahre 2005 trotz des Ausbildungspakts die Zahl der neu abgeschlossenen Lehrverträge um vier Prozent ge-sunken ist. Das ist der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung. Gleichzeitig erreichte die Zahl der Schulabgänger mit 950.000 jungen Menschen einen neuen Höchststand. Erstmal sank der Anteil der Anfänger einer dualen Berufsausbildung gemessen an der Zahl der Schulabgänger unter die Sechzig-Prozent-Marke. Bereits heute werden ca. 200.000 junge Menschen öffentlich bzw. außerbetrieblich ausgebildet.
Immer mehr junge Menschen müssen aufgrund der fehlenden Ausbildungsbereitschaft der Unter-nehmen (lediglich 23% aller Betriebe bilden überhaupt noch aus) eine "berufliche Grundbildungs-maßnahme", die zu keinem Berufsabschluss führt, absolvieren. Für 2005 ist bereits abzusehen, dass die Zahl der Jugendlichen, die nach dem Verlassen der allgemein bildenden Schule in schulischen Ein-richtungen oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen solch eine berufliche Grundbildung erwerben, steigt. Darunter sind viele, die sich vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemüht haben. Zusammen mit diesen sich in Warteschleifen befindlichen Jugendlichen dürfte heute ein ungedeckter realer Aus-bildungsbedarf in Deutschland (vorsichtig geschätzt) im oberen hunderttausender Bereich existieren. Der Fachkräftemangel von morgen ist bereits jetzt absehbar.
Die Zahl der ausländischen Auszubildenden ist im Jahr 2004 um neun Prozent auf 5,6 Prozent im Wes-ten und 0,2 Prozent im Osten gesunken. Experten meinen, die hohe Zahl von Einbürgerungen hätte den Anteil jugendlicher Auszubildende mit ausländischer Staatsbürgerschaft sinken lassen. Jedoch geht aus dem Bericht hervor, dass jugendliche Bewerber mit Migrationshintergrund generell bei der Suche nach Lehrstellen, selbst bei gleichen schulischen Voraussetzungen, deutlich weniger erfolgreich sind. So fanden in den Jahren 2003 und 2004 Jugendliche mit Migrationshintergrund und sehr guten mathematischen Kenntnissen nur zu 41 Prozent eine betriebliche Lehrstelle. Bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund waren es 64 Prozent. Nach dem Berufsbildungsbericht hat jeder dritte auslän-dische Jugendliche (37%) nach wie vor keinen Berufsabschluss. Bei deutschen Jugendlichen liegt die-ser Anteil bei rund elf Prozent.
Der Ausbildungspakt ist im Jahre 2005 vollends kollabiert. Statt der 30.000 vereinbarten, wurden durch ihn lediglich noch 7.900 neue Ausbildungsplätze geschaffen. Die Qualität der Ausbildung wur-de durch ihn nochmals minimiert. "Masse statt Klasse" hieß das Motto vor Ort, mit der Folge, dass nicht nur Schmalsuper-Ausbildung gefördert, sondern auch "Ausbildung light" zum Leitbild gewor-den ist. Angesichts dieser Zahlen ist das Minderheitenvotum der Gruppe der Beauftragten der Arbeit-geber im Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zynisch: Es konstatiert "Ausbil-dungspakt - auch im zweiten Jahr auf Erfolgskurs" und "Ausbildungsmarkt - positive Bilanz dank viel-fältigem Engagement".
Die Krise des Berufsbildungssystems: Mangelnde Qualität
Aber auch die qualitativen Probleme des dualen Systems lassen sich nicht mehr unter den Teppich kehren. Zuerst sind die Qualitätsprobleme Folgen der Unterfinanzierung des Berufsbildungssystems sowie der mangelnden Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen. Über 60% aller Ausbildungsplatz-suchenden eines Jahrganges sind Jugendliche, die bereits im Jahr zuvor vergeblich einen Ausbil-dungsplatz gesucht haben oder in Warteschleifen "zwischengeparkt" wurden. Diese Bugwelle wird Jahr für Jahr weiter vor sich hergeschoben, ohne dass eine Perspektive entwickelt wird, wie sie abge-baut werden könnte. Aktuell befinden sich etwa 1,5 Millionen junge Menschen unter 25 Jahren in di-versen Warteschleifen. Dabei ist die Dunkelziffer auf dem Schwarzmarkt nicht mitgerechnet. Das durchschnittliche Eintrittsalter für eine anerkannte Ausbildung im dualen System beträgt in Deutsch-land mittlerweile 19,3 Jahre (1970: 16,6 Jahre). Junge Menschen, die von der Hauptschule direkt in ei-ne Ausbildung eintreten, sind Mangelware geworden. Wir sehen, dass heute das Phänomen des "aus-gebildeten Auszubildenden" keine Seltenheit mehr ist. Das ist es, was die Betriebe auch nicht selten erwarten: Ihre Bereitschaft auszubilden nimmt immer mehr ab, gleichzeitig stellen sie Anforderungen an Schulabgänger, die deutlich machen, dass von Azubis vollwertige Arbeitsleistungen erwartet wer-den. Die Unternehmen betrachten Auszubildende größtenteils nicht als Lehrlinge, sondern ihr Inte-resse gilt der Arbeitskraft. Diese Entwicklung ist nicht neu, sondern liegt in der Grundstruktur des dua-len Systems begründet.
In den beruflichen Schulen zeigen sich heute massive Qualitätsprobleme. Sie decken sich weitgehend mit den Problemen an den allgemeinbildenden Schulen. Dazu gehört das veraltete Lehrpersonal, ver-altete Lehrmittel, riesige Investitionsbedarfe in Ausrüstung und Gebäude sowie nicht zuletzt überhol-te Curricula. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes durch die rot-grüne Bundesregierung hat an dieser Situation bisher nicht viel verändert. Umso erstaunlicher ist es, dass eine Art "Pisa-Test" für die Berufsbildung nach wie vor nicht existiert. Lieber Sonntagsreden auf das duale System halten, als die Realitäten zu sehen, scheint das zweifelhafte Motto.
Strukturell ist das duale System vor allem für die industrielle Wirtschaft konzipiert. Wir sehen heute, dass das duale System überall dort, wo große industrielle Kerne existent ist, gut und professionell funktioniert. In den großen Industriebereichen sind es oftmals fast schulisch anmutende Ausbil-dungswerkstätten, in denen die Lehrlinge unterrichtet werden. Insbesondere aber in den Dienstleis-tungsberufen erkennen wir massive qualitative Mängel bis hin zur Ausbeutung junger Auszubilden-der. Doch gerade in neueren Dienstleistungsberufen, ob unternehmensnah oder in wichtigen Berei-chen sozialer Dienstleistungen, wäre ein Qualitätsschub dringend erforderlich, wenn das duale System seinen Wert für die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung nicht verlieren will. Nicht umsonst kommt durch die Einführung des angelsächsischen Bachelor das duale System massiv unter Druck. Es ist ver-mutlich nur eine Frage der Zeit, bis der BA die duale Ausbildung in diesem Bereich verdrängt - wahr-scheinlich auf qualitativ niedrigerem Niveau.
Ein Grundproblem des dualen Berufsbildungssystems ist sein Zuschnitt auf die aktuelle betriebliche Realität. Neue technische und inhaltliche berufliche Anforderungen können immer erst zeitversetzt eingeführt werden. Weil die Betriebe diese Anforderungen auch oft erst nach Jahren nachvollziehen, hinkt die duale Ausbildung der Realität häufig hinterher. Berufliche Inhalte können schnell nach der Ausbildung überholt werden. Da in Deutschland aber ein funktionierendes Weiterbildungssystem nicht existent ist, ist dies eine strukturelle Schwäche des dualen Systems. Andere Länder wie Däne-mark haben daraus den Schluss gezogen, auf eine breite Grundlagenbildung plus schnell veränderba-rer Module in schulischen Ausbildungszentren zu setzen. Das wäre auch ein Weg für Deutschland. Al-lerdings führt die hochideologisch aufgeladene Debatte gerade auf Seiten der Arbeitgeber dazu, dass jegliche solcher Neuerungen von ihnen genutzt werden, um kürzere Schmalspurausbildungen durch-zusetzen. Dies wäre jedoch fatal. Es würde diese strukturelle Schwäche nicht beseitigen, sondern zu Lasten der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und der Grundlagenbildung gehen, und damit die Flexibilität des Arbeitnehmers weiter schwächen. Ganz davon abgesehen, dass nur eine gute Brei-tenbildung die Azubis auf zukünftige technische und berufliche Neuerungen sinnvoll vorbereitet und die Bereitschaft zur Weiterbildung erhöht.
Reformen mutig einleiten
Was ist zu tun? Die Linke ist gut beraten, die sich abzeichnende Debatte um die Zukunft des dualen Systems offensiv aufzugreifen. Die Forderung nach einer solidarischen Finanzierung der Berufsbildung unter Einbezug der Unternehmen ist und bleibt richtig. Allerdings verhallt der isolierte Ruf nach der Umlage, wenn sie nicht mit einer Strukturreform der Berufsausbildung versehen wird.
Unser Ziel muss es sein, für alle Jugendlichen einen erfolgreichen Abschluss der allgemeinbildenden Schule und eine qualitativ hochwertige berufliche Erstausbildung zu sichern.
Ein Blick in die benachbarten Länder mit dualen Systemen, zum Beispiel Österreich und die Schweiz zeigt, das duale System alleine ist nicht mehr überlebensfähig. Zusätzlich zu einem starken dualen So-ckel brauchen wir auch in Deutschland innovative Berufsbildungszentren, in denen eine vollschuli-sche Ausbildung mit integrierten betrieblichen Praxisanteilen auf höchstem Niveau möglich wird. Die schulischen Ausbildungsgänge müssen deshalb so gestärkt werden, dass sie als gleichwertig zum dualen System anerkannt werden. Sie dürfen deshalb auch nicht länger mit Gebühren zu erkaufen sein, sondern müssen für die Auszubildenden kostenfrei angeboten werden.
Die Sozialpartner und der Staat werden im Zuschnitt der Ausbildungsinhalte beteiligt. Solche innova-tiven Berufsbildungszentren haben den Vorteil, dass neue Ausbildungsinhalte schnell in die Ausbil-dungsgänge integriert werden können. Die Betriebe werden durch verpflichtende Praxiszeiten an der Ausbildung beteiligt. Die Einbindung der innovativen Berufsbildungszentren in regionale Wirtschafts-kreisläufe würde zudem sicherstellen, dass ein zusätzliches Element der regionalen Bildungs- und Wirtschaftspolitik entsteht. Eine solche Strukturreform wird einen massiven finanziellen Mehrbedarf bedeuten. Im Interesse der jungen Menschen, aber auch der Leistungsfähigkeit der hiesigen Ökono-mie, ist eine solche Strukturreform aber unerlässlich. Jedenfalls so lange wie das duale Berufsbildungs-system weiterhin der Garant für soziale und ökonomische Innovationen sein soll. Der langsame Tod des Systems ist in vollem Gange.
Wer die Zukunftschancen junger Menschen wirklich im Blick hat, muss eine solche Zukunftsdebatte einfordern. Sie rettet das duale System dort, wo es gut funktioniert. Und sie schafft Perspektiven dort, wo qualitativer und quantitativer Zusatznutzen im deutschen Berufsbildungssystem notwendig ist.
Zitat aus der Stellungnahme des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung vom 23. März 2006 zum Entwurf des Berufsbildungsberichts 2006 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, S. 14
Die Zahlen für 2005 belegen: nicht einmal mehr ein Viertel der Betriebe schließt Ausbildungsverträge ab. Mehr als die Hälfte der deutschen Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren sorgt sich um Arbeits-plätze. 42 Prozent blickten skeptisch, 10 Prozent pessimistisch in die berufliche Zukunft. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Mehr als jeder dritte Ju-gendliche (39 %) macht sich große Sorgen darüber, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen. 34 Pro-zent haben Angst davor, später in die Arbeitslosigkeit zu rutschen. Fast 70 % der Hauptschüler sehen sich als die großen Verlierer im Kampf um Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Auch unter den Realschü-lern ist jeder zweite Jugendliche skeptisch, was seine Zukunftschancen betrifft. Mehr als 80 Prozent al-ler Jugendlichen sind der Meinung, dass Schüler mit einem Hauptschulabschluss bei der Ausbildung und der anschließenden Arbeitsplatzsuche benachteiligt werden. Insgesamt sind knapp zwei Drittel (63 %) der Jugendlichen bereit, für ihr berufliches Vorankommen Opfer zu bringen.
Politik und Wirtschaft nehmen die Realität des Ausbildungsmarktes nicht zur Kenntnis; selbst dann nicht, wenn sie ihnen vom wirtschaftseigenen Forschungsinstitut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) aufbereitet wird; etwa dass die übergroße Mehrzahl der Betriebe, nämlich 71 Prozent, durch den Pakt unbeeinflusst blieb. Nur jeder fünfte Betrieb hat das Einstellungsverhalten verändert und zusätz-liche Plätze angeboten oder die geplante Streichung rückgängig gemacht. Die IW-Befragung zeigt, wie gering der Einfluss der Kammern und der Arbeitgeberverbände auf die Betriebe ist. Und sie be-weist, dass mit dem Pakt die Ausbildungskrise nicht in den Griff zu bekommen ist.

aus: spw 149, Mai/Juni 2006