Kultur und Macht

Editorial

Kultur erscheint im gängigen Verständnis als etwas "Höheres", "Geistiges", den Niederungen der schnöden Auseinandersetzungen um Macht und Reichtum Enthobenes. Übersehen wird dabei, dass "kulturelle Aktivitäten" Formen gesellschaftlichen Handelns sind und deshalb niemals losgelöst von den anderen Aktivitäten in der jeweiligen Gesellschaft verstanden werden können. In die Kultur ist die Gesamtheit der gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Aneignungspraxen eingeschrieben. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse prägen zugleich auch die Erscheinungen, die als "Kultur" im gängigen Verständnis wahrgenommen werden. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Auseinandersetzungen um das Recht auf legitime Benennung, um die richtige Art der Klassifizierung der Menschen, Dinge und Ideen, um die Definitionsmacht darüber, was legitim als Kultur und vor allem als kulturell zugehörig bestimmt wird. Dass diese Macht alles andere als symmetrisch verteilt ist, liegt auf der Hand; die "herrschenden Gedanken" sind regelmäßig "die Gedanken der Herrschenden". Die immer wieder aufgewärmte Debatte über "Leitkultur" ist nicht zuletzt vor diesem Hintergrund des Kampfes um Definitionsmacht, um gesellschaftliche und damit auch um kulturelle Hegemonie zu sehen. Was sich verbietet, ist allerdings eine eindimensionale Betrachtung der kulturellen Verhältnisse, welche in diesen nichts als eine bruchlose Verlängerung von Herrschaftsinteressen sieht. So wie Kultur als gesellschaftliches Konstrukt zur Durchsetzung von Hegemonie und Macht verstanden werden kann, kann sie umgekehrt auch als potenzielles Medium emanzipatorischer Strategien analysiert werden. Hauptansatzpunkte dafür sind die Unabgeschlossenheit aller Kulturen, ihre innere Widersprüchlichkeit, ihre historische Wandelbarkeit und ihre Hybridität. Keine Kultur ist eine diskrete Einheit in dem Sinne, dass sie keine Elemente mit anderen gemein hätte. Keine ist eine logisch konsistente, in sich geschlossene Ganzheit von Überzeugungen, Erkenntnissen oder Regeln. Keine bleibt über die Jahrhunderte hinweg unverändert. Vielmehr sind in jeder heterogene, aus unterschiedlichen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten zugewanderte Elemente vereint. Dies wurde im Gefolge der beschleunigten Globalisierung während der letzten Jahrzehnte besonders augenfällig, weil diese Prozesse dazu beitragen, dass jeder und jedem kulturelle Differenz in unmittelbarer Nachbarschaft begegnet (und das altbekannt Vertraute am Ende der Welt). Gerade die Brüchigkeit der kulturellen Legitimationsmuster ist es, welche den Subalternen die Chance gibt, jene Muster auch in Frage zu stellen, um ihre eigenen Interessen zu wahren und ihre eigene Identität zu bestimmen. Der Grabenkrieg um die kulturelle Hegemonie ist niemals im Voraus entschieden - auch wenn die Herrschenden dabei in aller Regel die besseren Karten haben. Von den Beiträgen zum Schwerpunktthema dieses Heftes untersucht der von Vollmer eher hegemoniale kulturelle Strategien zur Legitimation von Herrschaftsinteressen, die von Becker & Dastile und Thies analysieren schwerpunktmäßig konterhegemoniale, herrschaftskritische Strategien, der von Hauck sucht nach Maßstäben zur kritischen Beurteilung kultureller Strategien jedweder Art. Das "Unbehagen" im Multikulturalismus der Gegenwart gründet für Gerhard Hauck in einem scheinbar unausweichlichen Dilemma: Das Minimum an normativer Verständigung, ohne welches eine nicht im Kampf aller gegen alle mündende Interaktion zwischen den Kulturen undenkbar ist, scheint auf den ersten Blick nur auf zwei Wegen erreichbar: Entweder wir erkennen alle Lebensformen ohne Einschränkung als gleichwertig an und berauben uns damit jeder Möglichkeit der Kritik auch an aus unserer Sicht noch so inhumanen Sitten und Gebräuchen. Oder wir erklären einen einzigen Maßstab zum für alle gültigen, sei es den unserer eigenen kulturellen Werte, sei es den einer ausschließlich ökonomisch bestimmten Verteilungsgerechtigkeit - und unterwerfen damit alle anderen unserem Diktat. In kritischer Auseinandersetzung mit der an Charles Taylor anknüpfenden philosophischen Diskussion um den Multikulturalismus in den USA und Deutschland versucht Hauck zu zeigen, dass dieses Dilemma durch einen Ansatz überwunden werden kann, welcher 1. bipolar Anerkennung und Umverteilung als gleichberechtigte Gerechtigkeitspostulate vertritt, 2. dialogisch die normative Richtigkeit von Praxen am "eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments" bemisst und 3. Kultur nicht in substantialistischen, sondern in prozessualen Begriffen versteht. Sowohl der Beitrag von Heike Becker und Nceba Dastile als auch der von Sebastian Thies befassen sich mit den sozio-politischen Aspekten und Implikationen lokaler HipHop Kulturen. Heike Becker & Nceba Dastile beschreiben auf der Grundlage von teilnehmender Beobachtung an HipHop-Konzerten in drei unterschiedlich strukturierten Stadtteilen von Kapstadt, wie HipHop in Südafrika als "Vehikel der Aushandlung von Identitäten" genutzt wird. Entgegen einer gängigen Meinung kann von einer generellen Kommerzialisierung und Entpolitisierung des südafrikanischen HipHop nach dem Ende des Apartheid-Regimes nicht die Rede sein. Insbesondere die als spaza-HipHop bezeichneten Varianten schaffen es nach Becker & Dastile, ihre Musik als Instrument zum Aufbau einer flexiblen afrikanischen Identität zu nutzen, welche mit den reaktionären Konzepten einer vorgeblichen afrikanischen "Authentizität" nichts gemein hat. Dies gelingt ihnen durch die Kombination von global vorgeprägten Stilmustern (Rastafari) mit dem bewussten Gebrauch afrikanischer Sprachen (in diesem Fall Xhosa) in einer mit anderen Idiomen (einschließlich Englisch) durchsetzten Form sowie mit kritischen, die weiterhin bestehenden Ungleichheiten thematisierenden Texten und der aktiven Teilhabe an multikulturellen Zirkeln. Im Zentrum des Beitrags von Sebastian Thies steht die Analyse eines Video-Clips der (auch in anderen Teilen Lateinamerikas und unter Latinos in den USA erfolgreichen) mexikanischen Metal-HipHop-Band Molotov. Thematisch greift der Clip die Problematik der Migration und der Diskriminierung der mexikanischen Migranten in den USA auf. Die Analyse des Clips zeigt, wie die für den US-amerikanischen Referenzrahmen geschaffene nationale Semantik als Projektionsfläche eigener nationaler Identifikationsbedürfnisse genutzt und somit Teil eines Prozesses transnationaler Bedeutungskonstitution, eines Prozesses der Aushandlung nationaler und transnationaler kollektiver Identitäten wird. Die Brücke zwischen beidem schlägt ein performatives, wandelbares Identitätskonzept, welches insbesondere durch die ritualisierte und ironisch gebrochene Darstellung des stets aufs Neue praktizierten Zyklus von Grenzüberschreitung, Ausweisung und Rückkehr der Migranten an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze definiert und zum Ausdruck gebracht wird. Frank Vollmer untersucht die Legitimationsstrategien des faschistischen Regimes in Italien am Beispiel der öffentlichen Präsentation des - mit äußerster Brutalität geführten - Kolonialkriegs gegen Abessinien 1935/36, mit dem das Regime Mussolinis einen Gipfelpunkt seiner Popularität erreichen sollte. In einer vergleichenden historischen Studie über zwei mittelitalienische Gemeinden zeigt er, dass diese Strategien je nach den lokalen kulturellen Gegebenheiten durchaus unterschiedlich ausfielen und ausfallen mussten. Im konservativen, bildungsbürgerlich und großagrarisch geprägten Arezzo knüpften sie in allererster Linie an die kulthafte Verehrung der Romanità, der antiken römischen Größe und der vermeintlichen Tugenden, Traditionen und Zivilisierungstaten des Imperium Romanum an. Im industriell und proletarisch geprägten Terni dagegen berief man sich auf Modernität, Fortschritt und Dynamik jener "ungeheuren Baustelle, die heute das imperiale Italien ist", was entscheidend dazu beitrug, dass das Regime auch hier eine Massenbasis gewinnen konnte. Quer zum Schwerpunktthema steht der Beitrag von Markus-Michael Müller zur Funktion der Polizei im Kontext beschränkter Staatlichkeit in Mexiko. Gegenüber einer Sichtweise, welche das Verhalten der Polizei (hier wie anderswo) am idealtypischen Modell bürokratisch-legaler staatlicher Herrschaft misst und für "defizitär" befindet, plädiert er für eine Umkehrung der Perspektive und fragt nach den positiven Funktionen jenes mutmaßlichen Fehlverhaltens für die spezifisch mexikanische Form der Staatlichkeit. Letztere charakterisiert er vor allem durch das Fehlen eines "Zentralisierungskonsenses" und demzufolge durch eine Überdeterminierung aller politischen Prozesse durch die komplexen Verhandlungsprozesse zwischen Zentralstaat und regionalen Machtblöcken. In dieser Artikulationsdynamik kommt den Polizeikräften die Funktion einer Kommunikationsplattform zwischen den unterschiedlichen Kräften zu, welche sie nur auf der Grundlage eines hohen Grades an Autonomie gegenüber Staat und Gesetz wahrnehmen können. In einem sehr aktualitätsbezogenen Diskussionsbeitrag skizziert schließlich Karl List die Aufgaben und den möglichen Beitrag kritischer Sozialwissenschaft für den 2007 bevorstehenden G8-Gipfel in Heiligendamm. Es wird deutlich, dass es hier weder ausschließlich um direkte Aktion gehen kann, noch um die einlinige "Aufklärung" einer wie immer zu bestimmenden "Bewegung", sondern um die schwierigere und spannendere Herausforderung, über spezifische Möglichkeiten nachzudenken, hier aus den vielfältigen individuellen Arbeitsbereichen auch zu bestehenden Diskussionszusammenhängen in den angesprochenen Praxisbereichen beizutragen. Damit ist einmal mehr ein zentrales Anliegen angesprochen, dass die Peripherie - wenn auch in wechselnder Form - seit ihrem Bestehen begleitet hat. Anlass genug, nachdrücklich zu eigener Initiative und zur Einsendung von Beiträgen einzuladen, die sich auf die demnächst geplanten Themenschwerpunkte "Netzwerke in Bewegung" und "Verblendungszusammenhang Millenniumsziele: Entwicklung von Armut", durchaus aber auch auf andere Fragestellungen beziehen können.

Aus: PERIPHERIE Nr. 103: "Kultur und Macht", 26. Jg. 2006, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 411-414

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