Callcenter - Branchenübergreifende Solidarität als Voraussetzung erfolgreicher Interessenvertretung

Bisher ist es den deutschen Gewerkschaften kaum gelungen, in den seit den 1990erJahre boomenden Callcentern Fuß zu fassen.

In den allermeisten Callcentern ist der Organisationsgrad weiterhin gering. Als besonders problematisch erweist sich, dass die Aufteilung der Organisationsarbeit in die einzelnen Fachbereiche den Unternehmens- und Marktbeziehungen nicht angemessen ist. Nur wenn es der Gewerkschaft gelingt, branchenübergreifende Solidarität zwischen den Beschäftigten zu fördern, wird eine wirkungsvolle kollektive Interessenvertretung in Zukunft möglich sein. Dazu ist es wichtig nicht nur eine Stellvertreterpolitik zu machen, sondern Möglichkeiten der Selbstorganisation zu fördern

Seitdem 1990 die ACD-Technologie (Automatic Call Distributon, automatische Anrufverteilung) erstmals in Deutschland eingeführt wurde, haben Callcenter eine rasante Entwicklung genommen. Heute arbeiten, Schätzungen des Branchenverbandes zufolge, über 350.000 Menschen in über 5.000 Callcentern. Den Anfang machten Unternehmen aus der Versandhandelsbranche, später folgten vor allem Telekommunikations- und Finanzdienstleistungsunternehmen. Besonders in strukturschwachen Regionen sind, mit öffentlichen Zuschüssen, große Standorte aufgebaut worden.

Hinter dem so genannten Callcenter-Boom in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre steckte vor allem das rapide Wachstum der externen Dienstleister, die als Outsourcing-Partner für andere Unternehmen arbeiteten. Um den zunehmenden Kosten- und Flexibilitätsdruck zu externalisieren, sourcten viele Großunternehmen zunächst einfache, später aber auch komplexere Tätigkeiten aus. Den Kosten- und Flexibilitätsdruck geben die externen Callcenter häufig an ihre Beschäftigten weiter. Der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse wie befristete und geringfügige Beschäftigung, Arbeit auf Abruf sowie Leiharbeit ist in externen Callcentern hoch. Zudem sind die Löhne in vielen externen Callcentern niedrig, so dass die Tätigkeit für die Beschäftigten mit einem erhöhten Prekaritätsrisiko verbunden ist.

Ver.di und die Vorgängerorganisationen haben der Expansion der Callcenter keinesfalls tatenlos zugesehen. Unabhängig voneinander haben die Gewerkschaften auf das Wachstum von Callcentern in den einzelnen Organisationsbereichen reagiert und versucht, die Beschäftigten zu organisieren und ihre Arbeits- und Entgeltbedingungen zu verbessern. Den Anfang machten in den 1990er Jahren die HBV und die Verbundgewerkschaften, die versuchten die damals boomenden Direktbanken zu organisieren. Dass die Callcenter im Versandhandel innerhalb der HBV eine erheblich niedrigere Priorität genossen, hatte mit den weitaus geringeren Auswirkungen der Callcenter auf die Durchsetzungsfähigkeit in den Tarifverhandlungen im Einzelhandel zu tun. Nicht viel später folgte die DPG im liberalisierten Telekommunikationsmarkt. Das Besondere an den Organisierungsversuchen der DPG war ihr branchenübergreifender Charakter: sie zielten sowohl auf die internen Callcenter der Telekommunikationsunternehmen als auch auf externe Callcenter, die als Outsourcing-Partner in der Telekommunikation aktiv waren. Bis heute ist das DPG-Projekt der einzige branchenübergreifende Organisierungsversuch im Bereich der Callcenter geblieben. Zwar wurde das Projekt nach der ver.di-Gründung mit Mitteln des Innovationsfonds zunächst weitergeführt, aber der branchenübergreifende Charakter ging durch die Integration in die Fachbereichsstruktur verloren. Insgesamt sind die Organisierungsversuche eher als "defensive" Reaktionen auf den zunehmenden Druck auf die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den Organisationsbereichen zu bezeichnen.

Trotz der Bemühungen ist der Organisationsgrad in deutschen Callcentern bis auf wenige Ausnahmen gering geblieben. Trotzdem erreichten es DPG, HBV, DAG und später auch ver.di überall dort die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den Callcentern zu verbessern, wo es ihnen gelungen ist, Ressourcen und Organisationsmacht umzuverteilen und für die nur schwach organisierten Callcenter-Beschäftigten zu mobilisieren. Beispiele für derartige Erfolge waren die Callcenter der Telekom und der Postbank. Dort gelang es erst der DPG und später dem Fachbereich 9, die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den Callcentern durch Tarifverträge zu verbessern, obwohl in den Callcentern selbst der Organisationsgrad häufig sehr niedrig war. Auch aus anderen Branchen ließen sich Beispiele anführen. Erfolge konnten immer dann gefeiert werden, wenn die Gewerkschaften Organisationsmacht und finanzielle Ressourcen aus ihren Kernbereichen für die Verbesserung der Standards an den Rändern mobilisierten.

Als besonders schwierig haben sich die gewerkschaftlichen Bemühungen in den externen Callcentern erwiesen, die als Dienstleistungsunternehmen branchenübergreifend arbeiten. Zwar ist es ver.di 2002 gelungen, mit einem der Marktführer einen Haustarifvertrag zu schließen. Allerdings ist ein Flächentarifvertrag, der die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den externen Callcentern vereinheitlicht, noch in weiter Ferne. Ohne Unterstützung von den starken Fachbereichen wird es dem zuständigen Fachbereich kaum gelingen, in den externen Callcentern handlungsfähig zu werden. Von den Betriebsräten in den externen Callcentern zu erwarten, die Beschäftigten als Mitglieder zu rekrutieren, stellt eine Überforderung der Betriebsräte dar. Zum einen verfolgen viele Arbeitgeber eine mitbestimmungs- und betriebsratsskeptische Politik, so dass die innerbetriebliche Legitimität der Betriebsräte häufig prekär ist. Zum anderen hat ver.di den Betriebsräten in den externen Callcentern zum jetzigen Zeitpunkt kaum etwas zu bieten, zielt doch die Politik der starken Fachbereiche vor allem auf die Eindämmung des Outsourcings.

Von den Arbeitgebern wird eine tarifpolitische Regulierung der Arbeits- und Entgeltbedingungen in den externen Callcentern nicht gewünscht - weder von den Arbeitgebern in den "teuren" Branchen, die das Outsourcing zu den externen Callcentern nutzen, um ihre eigenen Tarifverträge zu unterlaufen, noch von den externen Callcentern, deren Unternehmensstrategien häufig auf niedrigen Arbeitskosten beruhen. Vergleichbar anderen Branchen wie der Automobilindustrie oder Möbelindustrie, haben sich auch im Bereich der Callcenter häufig hierarchisch organisierte Produktionsnetzwerke herausgebildet. Die komplexen Kommunikationsaufgaben mit hoher Bedeutung für ein Unternehmen werden intern von Beschäftigten erledigt, die dem Tarifvertrag des Mutterunternehmens unterliegen, während die einfachen, häufig repetitiven Dienstleistungen an externe Callcenter outgesourct werden, die keinem Tarifvertrag unterliegen. So ist die Deutsche Telekom nicht nur Deutschlands größter Callcenter-Betreiber, sondern zugleich auch einer der größten Auftraggeber für externe Callcenter.

In einer solchen Situation greift ein einfaches Schwarz-Weiß-Denken, das in den externen Callcentern die Verursacher des Preis- und Flexibilitätsdrucks sieht, zu kurz. Die externen Callcenter leiten den Flexibilitäts- und Kostendruck zwar an ihre Beschäftigten weiter, aber sie sind nicht die alleinige Ursache. Soll der Wettbewerb zwischen den internen und externen Callcentern reguliert und die Arbeits- und Entgeltbedingungen aller Beschäftigten verbessert werden, ist die Entwicklung einer branchenübergreifenden Solidarität zwischen allen Beschäftigten unabdingbar. Nur mit einer einheitlichen Callcenter-Politik für alle Fachbereiche kann ver.di die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den externen Callcentern verbessern und in den bisher noch vergleichsweise gut gestellten Bereichen dauerhaft verteidigen. Dazu müssten ver.di und die organisierten Betriebsräte in den "starken" Fachbereichen ihre Organisationsmacht nutzen, um die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den Outsourcing-Unternehmen zu verbessern. Amerikanische Gewerkschaften haben in der Automobilindustrie vorgemacht, wie man die Hersteller dazu bringt, Einfluss auf die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den Zulieferbetrieben zu nehmen. Ein ähnliches Vorgehen ist auch im Bereich der Callcenter denkbar. Zudem wäre es wichtig, alternative Wege zu den Beschäftigten zu beschreiten, um als Interessenvertretung wieder relevant zu werden. Die Betriebsräte in den externen Callcentern sind - aus gutem Grund - häufig überfordert. Dazu scheint es zwingend notwendig zu sein, sich für verschiedene Formen der Selbstorganisation zu öffnen und sich stärker an den politischen Debatten zu beteiligen.

---

Hajo Holst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Industrielle Beziehungen, Wirtschafts- und Industriesoziologie und politische Ökonomie. Der Beitrag basiert unter anderem auf Ergebnissen aus einem deutsch-österreichischen Forschungsprojekt zu Gewerkschaften und atypischer Beschäftigung, dessen Ergebnisse im Frühjahr bei der edition Sigma unter dem Titel "Die Unorganisierten gewinnen. Gewerkschaftliche Interessenvertretung atypisch Beschäftigter - ein deutsch-österreichischer Vergleich" erscheinen werden.