Selbstorganisierung fördern

Das Job-Wachstum während des zurückliegenden Jahrzehnts bedeutete vor allem einen Zuwachs an flexiblen, überwiegend prekären Beschäftigungsverhältnissen.

Das Phänomen der Prekarität lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wiederkehr sozialer Unsicherheit in die an sich reichen und sicheren Gesellschaften des Westens. Die Gewerkschaften sind gut beraten, eine wirksame Politik der Entprekarisierung zu entwickeln.

Bis vor kurzem nur Fachleuten bekannt, ist der Begriff "Prekarität" inzwischen in aller Munde. Seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach lässt er sich mit "widerruflich", "unsicher" oder "heikel" übersetzen. Aktuell wird er genutzt, um die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse zu thematisieren. Tatsächlich bedeutete Job-Wachstum während des zurückliegenden Jahrzehnts vor allem einen Zuwachs an flexiblen, überwiegend prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dazu zählen niedrig entlohnte Tätigkeiten, Leih- und Zeitarbeit, befristete Beschäftigung und erzwungene Teilzeitarbeit ebenso wie Mini- oder Midi-Jobs, abhängige Selbstständigkeit oder sozialpolitisch geförderte Arbeitsgelegenheiten. Prekarität bedeutet nicht zwangsläufig absolute Armut oder vollständige soziale Ausgrenzung. Vielmehr lenkt der Begriff die Aufmerksamkeit auf die Wiederkehr sozialer Unsicherheit in die an sich reichen und historisch gesehen überaus sicheren Gesellschaften des Westens.

Infolge der Schwächung sozialer Sicherungssysteme spalten sich die meisten europäischen Arbeitsgesellschaften in drei Zonen. Zwar lebt die Mehrzahl der Beschäftigten zumindest in Deutschland noch immer in einer Zone der Integration mit Vollzeitbeschäftigung und halbwegs intakten sozialen Netzen. Darunter wächst jedoch eine Zone der Prekarität, die sich durch unsichere Beschäftigung und geschwächte soziale Netze auszeichnet. Am unteren Ende der Hierarchie entsteht eine Zone der Entkoppelung, in der sich sozial isolierte Gruppen ohne Chance auf eine reguläre Beschäftigung finden. Über das Ausmaß der Prekarisierung gibt es keine genauen Zahlen. Die Tatsache, dass sich inzwischen jeder Dritte in einem nicht-standardisierten Beschäftigungsverhältnis befindet, liefert nur grobe Hinweise, denn Prekarisierungsprozesse vollziehen sich häufig auch innerhalb formal geschützter Beschäftigungsverhältnisse. Dabei funktioniert der Fahrstuhl nach oben nur noch sehr langsam, abwärts geht es dafür umso rascher.

Drei Kristallisationspunkte der Prekarisierung lassen sich unterscheiden. Dazu gehört erstens die vollständige Ausgrenzung aus regulärer Erwerbsarbeit. Bei Minderheiten bewirkt sie, dass die Not, keine Stelle zu finden, subjektiv in eine Tugend verwandelt wird. Aus einem Nicht-Können wird mit anhaltender Dauer der Arbeitslosigkeit allmählich ein Nicht-Wollen, weil sich die Ausgrenzung nur so ertragen lässt. Davon zu unterscheiden ist zweitens die Verstetigung von prekärer Beschäftigung. Wer dauerhaft auf unsichere Jobs angewiesen ist, findet sich in einer eigentümlichen Schwebelage. Die modernen Prekarier, unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen und Migranten, sind häufig die Mädchen für alles. Sie machen Jobs, die neben niedriger Bezahlung und geringer Beschäftigungssicherheit in der Regel auch mit geringer Anerkennung verbunden sind. Erwerbsarbeit ist für sie nicht länger Grundlage einer zukunftsorientierten Lebensplanung. Ihr Planungshorizont umfasst Tage oder Wochen. Lassen sie in ihren Anstrengungen nach, droht ihnen der Absturz in die Zone der Entkoppelung. Drittens schließlich sind die kollektiven Abstiegsängste von Stammbeschäftigten ebenfalls ein Kristallisationspunkt von Prekarität. Wer heute bei der Allianz oder Deutschen Bank seinen Job verliert und jenseits der 45 ist, der wird große Schwierigkeiten haben, eine gleichwertige Arbeit zu bekommen.

Schon die Ahnung, dass es soweit kommen kann, löst in Gruppen, die den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte zu verlieren drohen, Urängste aus. Indem Stammbelegschaften täglich mit unsicher Beschäftigten konfrontiert werden, verstärkt die Prekarisierung einen Trend zur Produktion gefügiger Arbeitskräfte. Prekarität wirkt jedoch nicht als Sachzwang, der schicksalsergeben zu akzeptieren wäre. Längst sind wirtschaftlich problematische Effekte der Verunsicherung nicht mehr zu übersehen. Die Loyalität der Beschäftigten gegenüber den Unternehmen sinkt, die Arbeitsmotivation leidet, und Qualitätsmängel nehmen zu. Die Gewerkschaften sind gut beraten, eine wirksame Politik der Entprekarisierung zu entwickeln. Gesetzliche Mindestlöhne und eine soziale Grundsicherung können Haltelinien nach unten schaffen. Nicht minder wichtig ist jedoch, dass die Gewerkschaften die Selbstorganisation der vermeintlich unorganisierbaren Prekarier fördern. Ein möglichst grenzüberschreitender Erfahrungsaustausch über Organisierungsansätze im prekären Sektor wäre hier ein erster Schritt.