Kann das Richtige politisch sein, wenn es falsch substantiiert ist?

Über die Aktualität der Frage: Wie weit ist man bereit zu gehen?

in (01.10.2006)

Ob "Kunst" tendenziell ein Medium der Kritik und ihre Displays, Orte wie Präsentationsweisen, geeignete Instrumentarien für radikale gesellschaftliche Kritik sind - darum geht es in diesem Beitrag.

Anhand von zwei Fragestellungen soll erörtert werden, ob das "Richtige" politisch sein kann, wenn etwas "falsch" substantiiert ist.
Die erste Fragestellung betrifft die seit kurzem wieder zu beobachtende "Politisierung" der Kunst, oder genauer: des strategischen Gebrauchs des Politischen im Kunstzusammenhang. Zu dieser gegenwärtig wieder diskursdominant werdenden Tendenz der Indienstnahme des Politischen insbesondere durch in traditionellen Medien wie Malerei, Fotografie oder Zeichnung beheimateten KünstlerInnen soll eine Kritik formuliert werden sowie eine Kritik der Gegenkritik von linksdogmatischer, konservativer und Radical Chic-Seite daran. Die zweite Fragestellung betrifft das Problem der Ästhetisierung des Politischen sowie generell das labile Verhältnis zwischen Kunstpraxis und politischem Aktivismus. Zur Erörterung dieser Problematik soll das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion (RAF) als historischer Maßstab herangezogen werden, denn nicht zuletzt durch die heftig diskutierte RAF-Ausstellung im KW Institute for Contemporary Art (Berlin) zu Beginn des Jahres 2005 rückte die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Kunst wieder auf die Tagesordnung.
Um so genannte politische Kunst kritisch zu hinterfragen, muss sie zunächst auch im Diorama der neoliberalen Marktideologie betrachtet und als konstitutiver Teil der gesellschaftlichen Umschreibungsprozesse beschrieben werden. Wie muss eine Kritische Kunstpraxis beschaffen sein, ohne integraler Bestandteil dessen zu werden, was sie anzugreifen vorgibt, nämlich des so genannten "Systems"? Diese Frage setzt voraus, dass sich die so genannte politische Kunst, wie sie sich derzeit auf dem Kunstmarkt, in den Institutionen und selbstorganisierten Foren ausgestaltet, in einer minoritären Position befindet und dass Kunst generell ein geeignetes Instrument ist, um diese Position majoritär zu wenden. Oder ist politische Kunst gar nicht in erster Linie auf die Veränderung der Praxis bezogen, sondern vielmehr strategisch als Distinktionsverfahren zur Anhäufung von kulturellem Kapital zu verstehen - mit der Folge von Selbstinstitutionalisierung, Positionierungskämpfen und Karriereplanung?
Insbesondere der Anspruch auf eine Totalität der Kritik führt oftmals zur Selbstblockierung. Die Selbstbefragung der Künstlerrolle als AktivistInnen muss die Problematisierung der Tatsache beinhalten, dass so genannte politische Kunst zwar in dem Dilemma steckt, die Institutionen destabilisieren zu wollen und zugleich zu legitimieren, aber dennoch das Display für eine kollektive Produktion bereitstellen kann, an der KünstlerInnen, AktivistInnen und BesucherInnen gleichermaßen teilhaben. So umgeht die Kritische Kunst (eine Bezeichnung, die dem Sammelbegriff "politische Kunst" vorzuziehen ist) nicht nur ihre auf Bereitstellung von Kritikkonsum festgelegte Rolle innerhalb des bürgerlichen Konzepts der kulturellen Repräsentation, sie überschreitet zugleich den im Konzept einer politischen Kunstpraxis auferlegten Antagonismus zwischen künstlerischer Intervention und politischem Scheitern.
In der Selbstmarginalisierung ist ein zweites Problem der Kritischen Kunstpraxis zu finden, wo sie sich tendenziell auf ein fragwürdiges Avantgarde-Modell bezieht, das eine Affinität zum Elite-Gedanken aufweist. In der Elite-Diskussion, die im Bereich von Wirtschaft, Kultur und Bildung seit geraumer Zeit geführt wird, verschränkt sich geistiger Führungsanspruch mit materiellen Umverteilungsinteressen; einen Bereich allerdings klammert die Elite-Diskussion bewusst aus, die Sozialpolitik - wo die Avantgarde nicht etwa darin besteht, die materielle Umverteilung in gerechtere Bahnen zu lenken, sondern darin, die wachsende Armut auf einem erträglichen Niveau zu konsolidieren. Die Umverteilung von unten nach oben hat dazu geführt, dass sich die deutsche Wirtschaft laut einem Gutachten der Deutschen Bank vom Dezember 2004 in einem 30-Jahre-Profithoch befindet. Zu einem militanten Aufbegehren gegen den massiven Abbau der Sozialleistungen, gegen Massenarbeitslosigkeit und -verelendung, wie noch vor wenigen Jahren in Frankreich, ist es in Deutschland und Österreich bislang nicht gekommen.
Ironisch gefragt: Wenn schon die sozial Gefallenen und Marginalisierten, die Unterdrückten und Ausgebeuteten kein wirksames Aktionsbündnis, geschweige denn eine Revolution zu Stande bringen, welche Hilfe können dann die KunstaktivistInnen sein? Statt in einer grundlegenden politischen Analyse die Verhältnisse zu durchleuchten und möglicherweise eine revolutionäre Situation mit herbeizuführen, nehme die punktuelle künstlerische Intervention die Form einer sozialromantischen Dienstleistung an, welche die realen Konflikte scheinversöhnt - so lautet die linksdogmatische Gegenkritik der so genannten Politlinken an den Kulturlinken. Diese Gegenkritik erscheint nicht nur polemisch überspitzt, sie spielt auch der von konservativer Seite an der Kritischen Kunstpraxis geübten Kritik in die Hände. Im Radical-Chic-Milieu, das trotz aller Solidarisierung und Sympathiebekundung für die Underdogs letztlich bürgerlich grundiert ist, gehört es mittlerweile zum habituellen Standard, jede noch so marginale Schwachstelle im Projekt aufzuspüren und sie gegen die Kritische Kunst selbst zu wenden. Es hat sich eine habituelle Kultur des kritischen Blicks etabliert, welche die Demaskierung von Kritik als Sozialdienstleistung zur obersten KritikerInnenpflicht erklärt. In diesem Punkt treffen sich Radical-Chic-Milieu, Politlinke und Konservative.

Das "Stadtguerilla"-Konzept der RAF
Die Militanz, die sich Ende der 1960er Jahre im linken Milieu und in Boheme-KünstlerInnen-Zirkeln angedeutet hatte, radikalisierte sich Anfang der 1970er Jahre im Konzept "Stadtguerilla" der RAF. Eine der ersten programmatischen Schriften der Roten Armee Fraktion trug den Titel Stadtguerilla und Klassenkampf (1971) - eine Analyse der damaligen politischen Situation in der BRD und zugleich ein Aufruf zum bewaffneten Kampf in den Metropolen. Zunächst einmal wird darin die Bedeutung der Studentenbewegung für die militante Praxis herausgestellt. Das erste Verdienst der Studentenbewegung bestand laut RAF darin, mit Straßenkämpfen, Brandstiftungen, Anwendung von Gegengewalt etc. den Marxismus wieder ins Bewusstsein gebracht zu haben. Die Abkapselung der alten Linken von der gesellschaftlichen Realität durchbrochen zu haben, war das zweite Verdienst der Studentenbewegung. Während die Volksfrontstrategie der alten Linken auf Ostermärsche und bürgerliche Wahlen setzte und auf das System des Parlamentarismus fixiert war, konzentrierte sich die Studentenbewegung auf die politische Praxis und stellte einen internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen her.
Das Konzept "Stadtguerilla" war ursprünglich in Lateinamerika entwickelt worden, um bewaffnet gegen die dortige Unterdrückung durch Oligarchie, Militär und Polizei zu kämpfen. Aber konnte es ohne weiteres auf die Verhältnisse in den Industriestaaten des Nordens übertragen werden? Im RAF-Papier heißt es: "Stadtguerilla ist eine Waffe im Klassenkampf. Stadtguerilla ist bewaffneter Kampf, Stadtguerillla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen. Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören. Stadtguerilla setzt die Organisierung eines illegalen Apparates voraus (Â…). Wichtig ist, dass man, bevor man sich entschließt, bewaffnet zu kämpfen, legale politische Erfahrungen gemacht hat. Wo der Anschluss an die revolutionäre Linke auch noch einem modischen Bedürfnis entspricht, schließt man sich besser nur da an, von wo man wieder zurück kann."
Noch immer aktuell an diesem Statement erscheint eine Beobachtung, die auch auf die politisch distinkte Praxis der so genannten politischen Kunst unserer Tage zutrifft - die Wie-weit-ist-man-bereit-zu-gehen-Frage. Die Schlüsselbegriffe in diesem RAF-Papier sind: "der Mythos von der Allgegenwart des Systems", "die Organisierung eines illegalen Apparates" sowie - besonders aufschlussreich - die Formulierung: "Â… schließt man sich besser nur da an, von wo man wieder zurück kann." Auf die Wirksamkeit und Radikalität der politischen Kunst unserer Tage übertragen heißt das: Der Kunstzusammenhang markiert genau jenen gesellschaftlichen Grenzbereich zur politischen Praxis, von wo aus man jederzeit wieder zurück kann, ohne irgendetwas riskiert zu haben - zurück in den Kunstmarkt, zurück in den Theoriemarkt, auf jeden Fall zurück an den warmen Ofen der bürgerlichen Welt. Damit ist eigentlich alles gesagt: Fest eingebunden in einem System der bürgerlichen Repräsentation, erscheint an dieser Stelle die politische Aufladung der Kunst bzw. der strategische Gebrauch des Politischen aus modischen oder kulturkapitalen Gründen evident.
Das Grundkonzept der Stadtguerilla beruhte darauf, dass der bewaffnete Kampf in den Metropolen ein Klassenkampf sei und dass der/die RevolutionärIn die Massen mobilisiert und in die Selbstbefreiung führt. Zu einem Klassenkampf ist es in der Bundesrepublik Deutschland nicht gekommen. Im Verlauf der 1970er Jahre wurde die Verbindung zwischen Stadtguerilla und Klassenkampf zwar noch postuliert, und einige Aktionen versuchten entsprechend anzusetzen, aber sie verschwand aus dem Fokus der RAF, der Bewegung 2. Juni oder der Revolutionären Zellen. In Theorie und Praxis spielte der Klassenkampf eine immer geringere Rolle, zumal sich die Arbeiterklasse, das heilig gesprochene Subjekt der Geschichte, von den militanten Aktionen entsolidarisierte und sich zur Ballermann-Arbeiterklasse entwickelte. Auch wendeten sich die UnterstützerInnen und SympathisantInnen immer mehr ab, je stärker sich die Aktionen der RAF gegen Menschen richteten. Schließlich setzte sich in der Öffentlichkeit eine "terroristische" Lesart der militanten Aktionen durch, d. h. die selbst ernannten RevolutionärInnen wurden zu so genannten "Terroristen" umgedeutet - bis die RAF schließlich 1998 zermürbt ihre Selbstauflösung bekannt gab, weil in der Bundesrepublik keine revolutionäre Situation hergestellt werden konnte.
Anders als in Frankreich und Italien gelang es der bundesdeutschen 68er-Bewegung nicht, ein Bündnis mit Gewerkschaften und ArbeiterInnen zustande zu bringen. Während die Bekenntnisse zur Arbeiterschaft eine rhetorische Übung der Intellektuellen blieben, verstanden die Gewerkschaften die antiautoritäre Revolte der StudentInnen als Angriff auf ihre korporatistische Politik. Zwar sollte die Tragweite des Versuchs nicht überschätzt werden, doch betrachteten sich die linken Intellektuellen im Frankreich der Nachkriegszeit als Verbündete der Arbeiterbewegung. In dieser Tradition haben sich Foucault, Bourdieu oder Derrida an sozialen Kämpfen von Deklassierten, MigrantInnen und ArbeiterInnen beteiligt.

Die drei Handlungsformate der Kritischen Kunst
Was folgt nun aus den historischen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Kunst und Politik für die heutige Situation, die durch die Gleichzeitigkeit von Dafür- und Dagegensein gekennzeichnet ist? Im Neuen Berlin hat sich das auf Distinktionsgewinn zielende Kunst/Politik-Produktionsmodell am deutlichsten herauskristallisiert.
Demgegenüber scheint sich aber ein Aktionsfeld für eine Kritische Kunstpraxis zu öffnen, die das Politische nicht strategisch oder ornamental in Gebrauch nimmt. Im Feld der Kunst und Kultur könnte, sobald sie sich mit politischen und sozialen Widerstands- und Antiglobalisierungsbewegungen verbinden, eine Perspektive erwachsen, die künstlerische Aktivitäten als Chance auf einen Kritikentwurf sieht. Der Vermischungsprozess von Kultur und politischem Widerstand generiert tendenziell drei Handlungsformate, die sich gegenseitig durchdringen und verstärken: 1. Aktivismus als Kunstform; 2. Kooperationen zwischen KünstlerInnen und AktivistInnen; 3. Kunst als aktivistische Manifestation. Es gilt, künstlerische Praxis als ein gesellschaftliches Handlungsformat - und eben nicht als abgelebte bürgerliche oder als Radical-Chic-kompatible Form des Distinktionsgewinns zu begreifen. Das künstlerische "Werk" ist so gesehen der Ausgangspunkt einer umfassenden Betrachtung seiner Entstehungs- und Rahmenbedingungen sowie seiner Wirkungsmacht bei der Herstellung, Verfertigung und Verfestigung von Bildern, Images, Einstellungen und Dispositiven. Allerdings ist diese Aufgabe kaum mit traditionellen Medien wie Malerei, Zeichnung oder Fotografie zu leisten.
Kunst und Kultur als Gegenentwurfsresiduen sind keineswegs nur Resonanzfelder gesellschaftlicher Entwicklungen, vielmehr konstruieren sie aktiv eine Politik der Repräsentation mit, an der sie in doppelter Weise partizipieren - als Produzenten und Repräsentanten zugleich, was in der zuletzt wieder aufgewärmten Quotendiskussion für Deutschpop deutlich wird. Anlässlich der weltgrößten Popmusikmesse Popkomm 2004 in Berlin fand im Deutschen Bundestag eine Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien und der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland über die Einführung der Radio-Quote für Deutschpop statt. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, rückte eine noch vor zehn Jahren undenkbare Allianz aus Altpunks, Grünen und Kulturkonservativen gegen die Globalisierung zusammen, um der anglo-amerikanischen Monokultur die deutsche Vielfalt entgegenzusetzen. In Frankreich wurde bereits 1996 eine Radio-Quote von 40 Prozent für französischsprachige Musik eingeführt. Die Identität von Pop national aufzuladen, ist ein Widerspruch in sich, weil Pop schon immer einem Globalisierungsprozess unterworfen war und erst dadurch nationale Monokulturen in interkulturelle Vielfalt transformieren half. Aufschlussreich an der Initiative für Deutschpop ist vielmehr die Identitätsbehauptung von Pop als schützenswertes nationales Kulturgut gegenüber einer als zerstörerisch empfundenen, globalisierten anglo-amerikanischen Monokultur, sowie der Zeitpunkt, zu dem die Quoten-Forderung erhoben wurde. In einer Zeit, in der sich Europa politisch, wirtschaftlich und militärisch als Gegenentwurf zur Supermacht USA positioniert, erscheint die Quoten-Diskussion in einem anderen Licht.
Die neuartige kulturideologische Rolle der Kunst im Globalisierungsprozess als Mit-Produzentin einer Politik der Repräsentation zur Durchsetzung und Konsolidierung kapitalistischer Wertvorstellungen zu analysieren, zu kritisieren und umzukehren - diese Aufgabe sollte nicht Kunstgeschichtsseminaren und Kongressen vorbehalten sein, sondern von den KünstlerInnen und AktivistInnen selbst angegangen werden. Zwar darf das große Ganze nicht aus dem Blick verloren werden, jedoch genügt das die Künstlerposition aufladende strategische Dagegensein nicht mehr. Die Wie-weit-ist-man-bereit-zu-gehen-Frage, kombiniert mit einer Kritik des sich stets erneuernden Konzepts bürgerlicher Repräsentation, das in seinem identitären Kern durch politische Legitimität und kulturellem Selbstbild zusammengehalten wird, scheint die größte Herausforderung einer Kritischen Kunstpraxis heute zu sein.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Orte der Kritik", Herbst 2006.