Der lebendige Widerspruch

Das spekulative Denken besteht nur darin, dass das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält. Hegel

Das spekulative Denken besteht nur darin, dass das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält.
Hegel1

Dieser Aufsatz beruht auf dem Vortrag des Autors, Philosoph an der Universität Girona/ Italien, auf dem Symposium anläßlich des 80. Geburtstages von Hans Heinz Holz. Es wurde veranstaltet von der Leibniz-Sozietät und der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialetisches Denken.Wir veröffentlichen den Text im Vorabdruck aus einem Sammelband aller Vorträge in dem Symposium am 1. u. 2. März 2007 im Senatssaal der Berliner Humboldt- Universität.

Die im Thema unserer Tagung gestellte Frage nach der Lust am Widerspruch enthält einen – und wie ich vermuten möchte: einen von Hans Heinz Holz so auch gewollten – Doppelsinn: Man kann sie so verstehen, als ginge es darum zu klären, worin denn die Lust am Widersprechen, die ja dem Philosophierenden sozusagen als Erbe und Aufgabe in die Wiege gelegt ist, eigentlich bestehe. Eine so verstandene Fragestellung würde unsere Nachdenklichkeit dahin lenken müssen, warum wir als Philosophierende – und das heisst: als Denkende, die ihre eigenen Aussagen und die Anderer auf vernünftige Überprüfbarkeit verpflichten – denn seit vielen Jahrhunderten immer wieder uns zum Widersprechen angehalten sahen. Und mehr noch: Nicht nur zum Widerspruch gezwungen sahen, sondern – so doch wohl die implizite Unterstellung der Fragestellung – auch noch Lust dabei empfanden und empfinden. Wer Hans Heinz Holz, seinen polemischen Geist und die von ihm lebenslang geübte Praxis kritischen öffentlichen Eingreifens in die bewegenden Fragen der Zeit kennt, wird ohne weiteres sagen, das Tagungsthema „Lust am Widerspruch“ müsse als diese Lust am Widersprechen verstanden werden.

Dieser Auslegungsmöglichkeit will ich auch gar nicht widersprechen, sondern eben nur auf jene andere, im Doppelsinn der Formulierung gelegene Lesart hinweisen und ihr ein wenig nachgehen: Das Problem „Lust am Widerspruch“ kann nämlich auch darauf zielen zu fragen, ob und inwiefern denn die dialektische Struktur des Widerspruchs selbst Lust bereiten könne. Eine so verstandene Fragestellung ist auf ihre Art durchaus polemisch:Während sich der Frage nach der Lust am Widersprechen aufgrund eines in der philosophischen Tradition Europas angelegten Konsenses noch weite Kreise der philosophierenden Zeitgenossenschaft werden anschliessen können, bedarf es schon einiger dialektischer Zurüstungen zu konzedieren, dass die Frage nach der Lust an der Struktur des Widerspruchs auch nur als sinnvoll stellbares Problem anzuerkennen sei. Aber selbst, wenn wir die Frage als Dialektiker betrachten, bleibt sie ein Kuriosum, eine unleugbar polemische Provokation: Wie kann denn – bei aller Liebe zur Dialektik – etwas Lust bereiten, das doch gerade den tieferen Einsichten des Dialektikers gemäss ein „Negatives“, ein „Nicht“, das widerständige „Andere“ zum Ausdruck bringt?

Um der Beantwortung dieser Frage ein wenig näher zu kommen, müssen wir zunächst die dialektische Struktur des Widerspruchs zumindest in ihren Grundzügen kurz bestimmen. Dialektik ist der begriffliche Widerstand gegen den Versuch des verständigen Denkens, die Realität des Widerspruchs zu ignorieren bzw. aus der philosophischen Theoriebildung auszuschliessen. Der Verstand abstrahiert vom Widerspruch, um die allerdings denknotwendige Identität festzuhalten. Nicht erst systematische Konstruktion, sondern schon die unmittelbare Erfahrung sagt uns hingegen etwas Anderes. Drücken wir es mit den Worten von Hans Heinz Holz aus: „Seit den Anfängen der Philosophie antwortet die Ausarbeitung von Formen dialektischen Denkens auf den Grundwiderspruch in unserer Erfahrung, dass wir,um überhaupt denken zu können, Identitäten (...) festhalten müssen, und dass wir zugleich dauernd die Veränderung des als identisch Gedachten, also Nicht-Identität, erleben.“ Die ursprüngliche Frage der Dialektik ist also der reale Widerspruch, „das Problem der inneren Gegensätzlichkeit oder des Selbstwiderspruchs in ein und derselben Sache“. 2 Und es ist eben dieser Widerspruch in unserer Erfahrung, den Hegel logisch zu bewältigen sucht.

Contradictio est regula veri heisst es in diesem Sinn schon in der ersten Habilitationsthese Hegels 1801. In der „Wissenschaft der Logik“ hebt er dann den Widerspruch vom Unterschied und vom Gegensatz ab: „Der Unterschied ist die Negativität, welche die Reflexion in sich hat, das Nichts, das durch das identische Sprechen gesagt wird, das wesentliche Moment der Identität selbst ...“ 3 Als Verschiedenheit ist der Unterschied noch ein nur gleichgültiger. Im Unterschied und Gegensatz indes ist das Andere des Einen noch nicht in die Identität des Einen reflektiert. Das Herrsein, um das prominente Beispiel einzuführen, ist Herrsein in bezug auf ein Knechtsein, das, was der Herr ist, kann er nur sein durch den Bezug auf das Knechtsein und umgekehrt. Dies, nämlich das Reflexionsverhältnis als Verhältnis, ist die Sphäre des Widerspruchs: Im Widerspruch „ist jedes vermittelt durch sein Anderes mit sich und enthält dasselbe.“ 4 Das ist das Entscheidende, will man die dialektische Struktur des Widerspruchs verstehen: In diesem Begriff wird logisch ein objektives Verhältnis gedacht, dessen Glieder in ihrer Positivität notwendig aufeinander Bezogene sind, als Positive ein Negatives, als Identität ihr Anderes enthalten und somit als Selbständige unselbständig sind. Um beim Beispiel zu bleiben: Der Herr ist zwar positiv in sich bestimmt, aber diese Positivität wird nur möglich aufgrund seiner Beziehung zum Knecht. Oder, wie Hegel auch sagt: Die „fürsichseienden Selbstständigen ... richten sich zugrunde, indem sie sich bestimmen als das mit sich Identische, aber darin vielmehr als das Negative, als ein mit sich Identisches, das Beziehung auf Anderes ist.“ 5

Wer also den Widerspruch denkt, denkt nicht nur die notwendige Einheit von Positivität und Negativität, sondern er denkt die Wirklichkeit als solche von notwendigen Verhältnissen. Im Widerspruch wird das bestimmte Verhältnis reflektiert, und aufzulösen ist er nicht an sich selbst und seinen Seiten, sondern nur im Grund als dem Ganzen der Verhältnisstruktur, die die Wirklichkeit ist. Das Auflösen heisst jedoch in der dialektischen Logik nicht, dass der Widerspruch verschwindet, sondern dass er, wie Hegel schreibt, „im Grunde sosehr aufgehoben als erhalten” 6 ist. Das bestimmte Verhältnis oder der Widerspruch ist Moment des Ganzen einer Wirklichkeit von Verhältnissen, in der er sich bestimmt und modifiziert. In der Dialektik sind Widersprüche konstitutiv für die Wirklichkeit, also nicht einfach auflösbar, sondern in die übergreifende Einheit des Ganzen der Verhältnisstruktur zurück zu führen. Dialektik ist, um auf den Titel der Geschichte der Dialektik von Hans Heinz Holz anzuspielen, Theorie von ‘Einheit und Widerspruch’, wobei der Widerspruch das Erste und unaufhebbar Konstitutive ist, an dem wir das Wirkliche haben und zu fassen bekommen. Hegel selbst formuliert diesen Sachverhalt am Ende des Abschnitts über den Widerspruch sehr prägnant: „Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, diese Natur der betrachteten Reflexionsbestimmungen, dass ihre Wahrheit nur in ihrer Beziehung aufeinander und damit darin besteht, dass jede in ihrem Begriffe selbst die andere enthält, einzusehen und festzuhalten; ohne diese Erkenntnis lässt sich eigentlich kein Schritt in der Philosophie tun.“ 7

Damit ist uns etwas klarer geworden, warum es aus der Perspektive der Dialektik in der Philosophie um das Denken von Widersprüchen geht, jedoch noch nicht, was denn dieser reflektierende Umgang mit Widersprüchen mit Lust zu tun hat. Hegel selbst gibt in einer Anmerkung zum Abschnitt über den Widerspruch einen Hinweis, indem er nämlich den Zusammenhang zur Lebendigkeit herstellt, ohne die schliesslich das uns beschäftigende Phänomen der Lust schlechterdings gegenstandslos wäre. Gegenüber der Identität ist der Widerspruch, so Hegel, „für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.“ 8 Hegel definiert Lebendigkeit also als die unmittelbare Realität und das in sich reflektierte Dasein des Widerspruchs. Er bindet den Begriff des Lebens an den Widerspruch, der als „Prinzip aller Selbstbewegung“ geradezu Bedingung für Lebendigkeit ist: „Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.“ 9

Im Leben überhaupt (und nicht erst im menschlichen Leben) wird der Widerspruch zu einem Selbstverhältnis, das sich zu seiner eigenen Wirklichkeit verhält. Das allein allerdings erlaubt es noch nicht, die Beziehung zur Lust herzustellen, weil Lust Bewusstsein voraussetzt. Erst das lebendige Selbstbewusstsein ist der Ort, an dem Lust an der eigenen Wirklichkeit des Lebens, also am lebendigen Widerspruch entspringen kann. Um einen dialektischen Begriff der Lust anzudeuten, kann man sich an Platons Dialog „Philebos“ wenden, der im Kontext des dialektischen Spätwerks steht. 10 Platon stellt das Problem von Lust und Unlust vehement in den Zusammenhang von Veränderung in Verhältnissen: Er entwickelt im ‘Philebos’ eine Theorie des Verhaltens zu äusseren und inneren Widersprüchen. Lust und Unlust sind Befindlichkeiten der Veränderung (der Auflösung bzw.Wiederherstellung eines Masses oder einer Mischung, wie Platon sich ausdrückt), d.h. sie sind in der Vernunft reflektierter Ausdruck veränderter Verhältnisse. Und erst wenn diese notwendige Einheit von Lust und Vernunft festgehalten ist, kann so etwas wie Lust am Widerspruch sinnvoll denkbar gemacht werden. Lust an der Struktur des Widerspruchs bedarf der übergreifenden Natur der Vernunft als Ursache der Lust. Und genau in diesem Sinn, nämlich des Geistes als dem übergreifenden Allgemeinen des menschlichen Selbstunterschiedes bestimmt Platon die Vernunft als Ursache der Lust, weil sie die reflektierte Ursache einer Veränderung hin auf ein adäquateres Verhältnis darstellt. Und genau diese Bewegung hin auf ein adäquateres Verhältnis – das freilich den Widerspruch nicht aufhebt, sondern auf höherer, sozusagen gesteigerter bzw. erfüllterer Ebene reproduziert – verursacht Lust. Im Unterschied etwa zur Begierde, die physischer Natur ist, kann es Lust auch an geistigen Gegenständen geben. Lust drückt immer die Überwindung eines Mangels aus, hat also eine unmittelbar reflexive Seite, weil ja ein Mangel ein 'Nicht' zum Ausdruck bringt, dessen Aufhebung erinnert bzw. erwartet werden muss. Lust entsteht in einem manifesten Mangel und seiner antizipierten Überwindung. Lust entspringt also für Platon aus der Veränderung des Lebendigen, und ist Empfindungsausdruck eines dem Mangelzustand entgegengesetzten Strebens. Mit anderen Worten: Lust entsteht im von der Vernunft übergriffenen Widerspruch selbst und der von diesem Verhältnis verursachten Selbstbewegung. Das Prinzip dieser Selbstbewegung jedoch ist, wie wir bei Hegel sahen, der Widerspruch.

In der Moderne hat Leibniz die Lust als Empfindungsausdruck der Veränderung hin auf eine gesteigerte Wirklichkeit verstanden. Leibniz erwägt: „Ich weiss nicht, ob eine grösste Lust möglich ist; ich würde eher denken, dass sie ins Unendliche wachsen kann, denn wir wissen nicht, bis wohin unsere Kenntnisse und Organe in all der Ewigkeit gebracht werden können, die uns erwartet. Ich glaube daher, dass das Glück eine dauernde Lust ist, was ohne einen dauernden Fortgang zu neuen Freuden nicht statthaben kann.“ 11 Glück jedoch ist für Leibniz explizit an Realitätssteigerung als dem insofern eigentlichen Gegenstand der Lust gebunden. Lust drückt in der subjektiven Empfindung graduelle Vollkommenheit als Wirklichkeitssteigerung aus, als etwas also, „dadurch in einer Sache mehr Selbst-Wesens (Realität) ist als zuvor.“ 12 Vollkommenheit ist als Grad der Verwirklichung zu verstehen: ein grosser Gedanke, der die Lust vom bloss Subjektiven fernhält und sie von der Entwicklung der Wirklichkeit her zu verstehen erlaubt.

Wenn wir an diesem Punkt die Problembereiche von Lust und Widerspruch wieder in die Einheit der Frage nach dem lebendigen Widerspruch zusammenführen, dann wird sich – gerade mit Blick auf die Gestalt, die der Begriff der Lust bei Leibniz erreicht hat – der Bezug auf Hegels „Phänomenologie des Geistes“ fast wie von selbst aufdrängen, einem Werk, dessen 200. Geburtstag wir ebenfalls in diesem Jahr feiern. Die „Phänomenologie des Geistes“ ist sozusagen das dialektische Grundbuch des lebendigen Widerspruchs. Und dies zunächst deshalb, weil sie den Widerspruch in den Begriff der Erfahrung aufgenommen hat. Hegel hat wohl als Erster die Erfahrung vom Widerspruch und seiner Struktur her verstanden: Erfahrung ist definiert dadurch, sich in Widersprüchen, d. h. in den substantiellen Verhältnissen von Bewusstsein und Wirklichkeit zu entwickeln. Ohne Widersprüche keine Erfahrung – und ohne Erfahrung keine Lust, als welche ja im Lebendigen und damit im Element der Erfahrung ihren Ort hat. Hegels „Phänomenologie“ beschreibt den Prozess der Erfahrung, in dem das Denken die fremde Wirklichkeit in die eigene, die geistige Wirklichkeit verwandelt. Denken ist die Aneignung der Erfahrung eines Anderen seiner selbst, also Reflexion von Widersprüchen. Auf jeder Stufe, in jeder Bewusstseinsgestalt, die die „Phänomenologie“ entwickelt, ist der Widerspruch das entwickelnde Moment und damit die regula veri. Diese Widersprüche begreift Hegel zurecht als das immanente Leben des Erkenntnisprozesses, in der dialektischen Bewegung der Widersprüche verwandelt sich das Andere nicht nur ins Denken, sondern ebensosehr im Denken: Unsere Erfahrung der Wirklichkeit verändert unsere Beziehung zu ihr, d.h. sie modifiziert den Widerspruch, in dem wir alle Realität haben. Das Wissen verändert und korrigiert sich, weil das Wirkliche – wir sagten: das Fremde, dem Denken nicht Identische – ihm Widerstand entgegensetzt, da es sich als komplexer erweist als es im Wissen bisher erscheint. Der Widerspruch, die jeweilige Inkongruenz von Bewusstsein und Wirklichkeit ist folglich der Motor zum Überschreiten dieser jeweiligen Grenze des Wissens. Die „Phänomenologie des Geistes“ hat dergestalt die Transzendenz des Bewusstseins festgestellt: Das Denken wird sich gegenüber einer sich ständig verändernden Wirklichkeit dauernd seiner Grenzen bewusst und muss sich erweitern, sein Verhalten ihr gegenüber verändern. Das Bewusstsein ist das übergreifende Allgemeine des Unterschieds von Sein und Denken, es ist die Einheit seiner selbst und seines Anderen: Im Bewusstsein selbst entwickeln sich die Widersprüche als Beziehung von Subjekt und Substanz.

Erfahrung ist und bleibt folglich konstitutiv eine solche von Widersprüchen. Soweit der Grundgedanke des gesamten Werkes.Wo aber in ihm entspringt die Phänomenologie des lebendigen Widerspruchs? Er erscheint im Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein oder die in sich reflektierte Lebendigkeit enthält in sich sowohl den immanenten Widerspruch zwischen Bewusstheit und Lebendigkeit als auch den Widerspruch dieser in sich unterschiedenen Einheit zum Anderen ihrer selbst. Die Entwicklung dieses Selbstverhältnisses in seiner Beziehung auf das Andere ist für Hegel „das Leben als Prozess“ 13 und näher die Geschichte der Gattung, da das Andere ja auf der Stufe des Selbstbewusstseins als das andere Selbstbewusstsein begriffen werden muss und die Beziehungen zur Wirklichkeit als in diesem Verhältnis der Intersubjektivität vermittelte erscheinen. Hegel spricht vom „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ 14 und also von der notwendig gesellschaftlichen Vermittlung des lebendigen Selbstbewusstseins, das „seine Befriedigung nur in einem andern Selbstbewusstsein“ 15 erreichen kann.

Dies ist nun der Grund, warum Hegel die im Selbstbewusstsein erscheinende „Gewissheit seiner selbst“ sogleich in die Erörterung der „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins„ übergehen lässt und diese am Beispiel von Herrschaft und Knechtschaft rekonstruiert. Das Herr-Knecht- Verhältnis entsteht im ‘Kampf um Leben und Tod’, mit der Unterwerfung des Knechtes, um sein Leben zu bewahren. Das gesellschaftliche Verhältnis konstituiert sich um des Lebens willen, und der Kampf sowohl um Anerkennung als auch um die Mittel der Bedürfnisbefriedigung wird auf eine gesellschaftlich vermittelte Ebene verlagert. Der Knecht arbeitet, der Herr geniesst. Ursprünglich scheint also der Herr selbständig, der Knecht dagegen abhängig zu sein. Da aber der Herr mit dem Wirklichen nur noch über die Arbeit des Knechtes vermittelt ist und seine Bedürfnisbefriedigung von ihr abhängt, erweist sich diese Selbständigkeit als eine abhängige. Der Knecht dagegen erfährt in der Arbeit seine Unabhängigkeit vom Herrn, vom Ding und von der Unmittelbarkeit der Begierde. Er kommt zum Bewusstsein seiner Selbständigkeit und kehrt so das ursprüngliche Verhältnis um.

Uns interessiert jedoch an dieser Stelle nicht so sehr die Dialektik von Herr und Knecht als solche, sondern was sie für den lebendigen Widerspruch und die mögliche Lust an ihm ergibt. Wie auch immer man zu den Ausführungen im einzelnen stehen mag: Hegel modelliert an Herr und Knecht den gesellschaftlichen Widerspruch als ursprüngliche Gegebenheit selbstbewusster Wirklichkeit, in dem sich die Lebendigkeit darstellt und entwickelt. In der Auseinandersetzung von Herr und Knecht geht es dabei allenfalls eingangs um das Leben selbst und eigentlich vielmehr um seine Bedingungen: um Bedürfnisse nämlich, die sich in der Begierde manifestieren, aber in ihrer Befriedigung im gesellschaftlichen Widerspruch vermittelt sind.Wenn der Herr geniesst und der Knecht arbeitet, dann bedeutet dies, dass der Herr verzehrt und der Knecht bildet.Vor dem Hintergrund des oben skizzierten Lustbegriffs bedeutet dies, dass die Lust auf die Knechtseite fällt: Der Knecht bildet Wirklichkeit, er hat in der Arbeit ein vermitteltes, ein reflektiertes Verhältnis zum Mangel und seiner Aufhebung. Er bildet und steigert Wirklichkeit. In der Arbeit entwickelt sich, so Hegels schönes Wort, des Knechtes „eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien“ 16 Es ist der Eigensinn, der den gesellschaftlichen Widerspruch entwickelt.

Genau dieser Gedanke aber zeigt: Lust am gesellschaftlichen Widerspruch kann nicht die Freude an Herrschaft, an Abhängigkeit und Unterdrückung bedeuten. Lust am gesellschaftlichen Widerspruch bezieht sich vielmehr auf die trotz Herrschaft und Unterdrückung sich durchsetzende Bildung und Realitätssteigerung, das Recht des Knechtes auf Bildung, wie Leibniz es nannte und in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Widerspruchs dann doch eher in der Gestalt der Insistenz des Eigensinns auftritt. An diesem Punkt meine ich angeben zu können, warum auch die Lust an der Struktur des gesellschaftlichen Widerspruchs dem Denken von Hans Heinz Holz eigen ist: Immer geht es ihm doch darum, in den gesellschaftlichen Widersprüchen, sie begreifend, Möglichkeitsräume dieser sich dennoch und gerade in Herrschaftsstrukturen sich durchsetzen könnenden Bildungsund Steigerungspotentiale freizulegen, ein Mehr an Wirklichkeit zu erkämpfen. Die darin sich ausdrückende intellektuelle Haltung ist das genaue Gegenteil jener Reaktion auf den gesellschaftlichen Widerspruch, den Hegel unter dem Titel Stoizismus analysiert: Die Absicht des Stoikers ist es danach, „wie auf dem Throne so in den Fesseln, in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins frei zu sein, und die Leblosigkeit sich zu erhalten, welche sich beständig aus der Bewegung des Daseins, aus dem Wirken wie aus dem Leiden, in die einfache Wesenheit des Gedankens zurückzieht. (...) Die Freiheit im Gedanken hat nur den reinen Gedanken zu ihrer Wahrheit, die ohne die Erfüllung des Lebens ist; und ist also auch nur der Begriff der Freiheit, nicht die lebendige Freiheit selbst.“ 17 Hegel kennzeichnet hier eine Haltung, die den gesellschaftlichen Widerspruch leugnet, sich in den Schein der Selbständigkeit zurückzieht und somit herrisches Bewusstsein ist. Lebendige Freiheit dagegen ist dialektisch, d. h. sie weiss um ihre grundsätzliche Stellung im gesellschaftlichen Verhältnis und Widerspruch. Mit anderen Worten: sie weiss um ihre Abhängigkeit vom Anderen. Dass Abhängigkeit ein Moment der Freiheit ist – ein vielleicht noch viel zu wenig entwickelter Anstoss dialektischer Philosophie, den gerade eine Theorie des gesellschaftlichen Widerspruchs entwickeln könnte, da sie schliesslich systematisch vom Verhältnis, folglich vom Widerspruch als ontologischem Prinzip ausgeht, das logisch eine intrinsische Abhängigkeit des Einen vom Anderen impliziert. Konkrete Freiheit in gesellschaftlichen Verhältnissen enthält Abhängigkeit als ein positives Moment.

Genau so wie Herr und Knecht im realen gesellschaftlichen Widerspruch ihre scheinhafte Selbständigkeit festhalten und so beide nicht zu einem Begriff des Ganzen des gesellschaftlichen Verhältnisses kommen, so verlieren auch die Gestalten des freien Selbstbewusstseins über ihrer Freiheit die Abhängigkeit, über ihrer Selbstständigkeit ihr Reflektiertsein ins Andere aus dem Auge. Erst in der Gestalt der Vernunft kann sich das Selbstbewusstsein als ein Moment des gesellschaftlichen Widerspruchs sehen und zugleich begreifend aus ihm heraustreten: „Damit, dass das Selbstbewusstsein Vernunft ist, schlägt sein bisher negatives Verhältnis zu dem Anderssein in ein positives um. Bisher ist es ihm nur um seine Selbstständigkeit und Freiheit zu tun gewesen, um sich für sich selbst auf Kosten der Welt oder seiner eignen Wirklichkeit (...) zu retten und zu erhalten. Aber als Vernunft, seiner selbst versichert, hat es die Ruhe gegen sie empfangen, und kann sie ertragen ...“ 18 Das entscheidende Moment ist hier der Umschlag von einem bloss negativen in ein positives Verhältnis: Das Selbstbewusstsein ist nicht mehr nur ein Glied des Reflexionsverhältnisses bzw. des gesellschaftlichen Widerspruchs, das sich in ihm isoliert festhält und mehr oder weniger naturwüchsig darin bewegt und verhält. Ein positives Verhältnis zum Widerspruch gewinnt das Selbstbewusstsein, indem es in der Gestalt der Vernunft das Ganze des Reflexionsverhältnisses übergreift, d. h. es sich als solches zum Gegenstand der Reflexion macht.

Das führt unsere Betrachtung wieder auf die platonische Ausgangslage zurück, wonach Lust Vernunft voraussetzt: Denn erst das „positive“ Verhältnis zur widersprüchlichen Wirklichkeit – das Bewusstsein weiss sich in sie verwickelt, hat ihre Erfahrung in sich aufgenommen, steht jedoch zugleich sozusagen über ihr und kann sie so als Einheit und Zusammenhang wie ein Beobachter betrachten – erlaubt etwas wie Lust am Widerspruch. Solange das Denken in den Widersprüchen umhergeworfen wird, ohne den Widerspruch als Ganzes begreifen zu können, erleidet es die Widersprüche und kann allenfalls, wie die Gestalten des freien Selbstbewusstseins zeigen, sich partikular und einseitig, jedenfalls aber ‘unglücklich’ dazu verhalten. Erst die Vernunft als Begriff bzw. Identität von Identität und Differenz stellt den reflexiven Abstand her und macht so die Einheit der Widersprüche erkennbar. Erst in der Vernunft kommt der dialektische Charakter des Bewusstseins zu sich: Denn Dialektik ist nicht nur der Widerspruch, sondern Einheit und Widerspruch, ein Umstand, der allerdings erst auf der Stufe der Vernunft Gegenstand des Wissens wird. Deshalb gibt es auch erst an dieser Stelle eine Lust am Widerspruch: Der Geist hat das Unglück der Unmittelbarkeit des Widerspruchs hinter sich gelassen, ohne von ihm abzusehen. Es sieht jetzt, dass sich die Veränderung und Bildungsgeschichte im Widerspruch abspielt, er also die Voraussetzung jener Realitätssteigerung ist, den die „Phänomenologie des Geistes“ in deutlicher Nähe zu den oben angedeuteten Gedanken von Leibniz rekonstruiert.

Lassen Sie mich mit einer Anmerkung zu Leibniz schliessen, die uns einen Fingerzeig geben kann, in welchem Sinn auch die Auffassung des Widerspruchs von Hans Heinz Holz von der Hegels abweicht. Hegel entwikkelt Dialektik in der Tradition seit dem späten Platon als Dialektik des Begriffs, der Widerspruch ist phänomenologisch in Kategorien des Bewusstseins und logisch im Begriff entwickelt. Diese Möglichkeit haben wir hier in den Blick genommen, da sie für das Problem der Lust am Widerspruch als dem reflektierten Verhältnis des lebendigen Selbstbewusstseins zum Widerspruch leitend zu sein scheint und wir ja auch in der Tat den Widerspruch nur in der bestimmten Form eines Wissens philosophisch fassen können. Leibniz geht dagegen einen anderen Weg, über das Prinzip der Identität hinauszugehen und so den Widerspruch in den Blick zu bekommen: Er stellt nämlich dem Prinzip der Identität, das denknotwendig und logisch evident, aber seinerseits logisch nicht mehr begründbar ist, die empirische Evidenz des Prinzips der Varietät zur Seite: “Jene zwei ersten Prinzipien – nämlich das eine der Vernunft: was identisch ist, ist wahr, und was einen Widerspruch enthält, ist falsch, das andere der Erfahrung: dass Mannigfaltiges von mir wahrgenommen wird, sind so beschaffen, dass von ihnen bewiesen werden kann erstens, dass ein Beweis ihrer unmöglich ist; zweitens, dass alle anderen Sätze von ihnen abhängen...“ 19 Damit sind zwei Sachverhalte hervorgehoben: Wir heben logisch-formal aus der realen Mannigfaltigkeit des Wirklichen Identitäten ab, um Dinge in der Welt denken und handelnd mit ihnen umgehen zu können; ontologisch gesehen indes haben wir es mit einer Pluralität und das heisst inneren Widersprüchlichkeit der Welt zu tun, die zwar metaphysisch als Modell des Gesamtzusammenhangs konstruiert werden muss, um sie philosophisch denken zu können, aber immer schon als unmittelbare Erfahrungstatsache gegeben ist.Folgen wir diesem Leibnizschen Gedanken, dann hält die Erfahrung selbst uns dazu an, den Widerspruch nicht allein logisch, sondern als ontologisches Prinzip, als „durchgängige Bestimmtheit der Welt“ 20 zu verstehen. Dann ist der Widerspruch, wie Holz anlässlich seiner Erörterung der Widerspruchstheorie Maos gesagt hat, „der Welt immanent, er ist Prinzip, nicht Mangel; dialektisches Wesen des Seins, das das Nicht- Sein übergreift ...“ 21 So besehen wird der Widerspruch nicht mehr nur als Moment der Bewegung, sondern als Strukturmerkmal der Einheit des Ganzen begreifbar, die sich zwar ständig verändert, aber als Einheit eines gegebenen Ganzen doch wesentlich Gegenwart ist. 22 Was bedeutet die reale Gegenwärtigkeit der mannigfaltigen und damit widerspruchsvollen Wirklichkeit für die Lust? Heisst nicht Lust an der Struktur des Widerspruchs im Rahmen einer materialistischen Dialektik vor allem dies: Als der lebendige Widerspruch, der wir in der Welt sind, Freude zu empfinden, dass diese Welt ist und in uns sich spiegelnd in der vielfach differenzierten Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinung da ist?

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1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. In: Werke, ed. Moldenhauer/Michel, Ffm. 1969, Bd. 6, S. 76

2 H.H. Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart/ Weimar 1997, S. 2 und 2 f.

3 Hegel,Wissenschaft der Logik, a. a. O., S. 46

4 Ebd., S. 64 f.

5 Ebd., S. 67

6 Ebd., S. 69

7 Ebd., S. 73

8 Ebd., S. 75

9 Ebd., S. 76

10 Platon, Philebos. In: Sämtliche Werke (ed. Schleiermacher), Bd. 7, Ffm. 1991 (vgl. 31 a ff.)

11 G.W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. In: Philosophische Schriften, hg. von W. Engelhardt und H.H. Holz, Ffm. 1996, Bd. 3, S. 305

12 G.W. Leibniz, Von der Glückseligkeit. In: Philosophische Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 391

13 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 124

14 Ebd., S. 127

15 Ebd., S. 126

16 Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a.O., S. 136

17 Ebd., S. 138 und 139

18 Ebd., S. 157

19 G.W. Leibniz, Opuscules et fragments inédits (ed. Couturat), Paris 1903, Nachdruck Hildesheim 1966, S. 183; die Übersetzung nach H. H. Holz, Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt/ New York 1992, S. 47

20 H.H. Holz,Widerspruch in China. Politisch-philosophische Erläuterungen zu Mao Tse-Tung, München 1970, S. 85

21 Ebd., S. 78; zu Maos Theorie des Widerspruchs vgl. Mao Zedong, Über den Widerspruch, Peking 1968. In dieser Perspektive wäre nicht nur mit Leibniz eine logische Verengung des Widerspruchsproblems vermeidbar, sondern mit Bezug auf eine andere, nicht-europäische Hintergrundkultur die Verengung der Widerspruchskonzeption auf teleologische Prozessualität. Holz zeigt, dass in Maos Theorie des Widerspruchs „das Weltgeschehen immer als Aufhebung bestehender und Entstehung neuer Widersprüche“ zu verstehen ist: “...jede Harmonie bringt aus sich Widersprüche hervor und in jeder widerspruchsvollen Situation ist die Wiederherstellung der Harmonie die Aufgabe des Menschen.“ (a. a. O., S. 85)

22 Auch dieses präsentische Moment hat Holz in der Widerspruchstheorie Maos aufgespürt: „Natur und Gesellschaft treten in China nicht als wesentlich Andere ins Bewusstsein, Dialektik wird deshalb nicht als Re- flexionsbestimmung des Denkens, sondern als Strukturbestimmung des Seins gedacht. Als Seinsbestimmung ist der Widerspruch präsentisch, nämlich Gleichzeitigkeit kontradiktorischer Elemente in einem Seienden, in einem Ganzen. So ist er ewig, wenn auch selbst in dauernder Wandlung begriffen, und kann nicht eschatologisch als ganz und gar aufhebbar beseitigt werden; nur der jeweils aktuelle Widerspruch ist aufzuheben, so dass an seine Stelle ein neuer Widerspruch tritt.“ (ebd., S. 92)

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