Kulturmaterialismus

Wenn man für ein Lebenswerk ausgezeichnet wird, könnte man auf den Gedanken kommen, man habe seine Arbeit getan. Aber auch während ich die Schwelle zum Alter überschreite, empfinde ich das nicht so. Bestenfalls ist es mir gelungen, die beiden sozialen Fragen, die mich die letzten 40 Jahre hindurch beschäftigt haben, ein wenig ins Licht rücken - nämlich wo Menschen leben und wie Menschen arbeiten. Diese Themen sind nicht statisch, denn Arbeit wie Ort und Raum verändern sich in globalem Maßstab. Jetzt, an der Schwelle zum Alter, versuche ich zu verstehen, wie die beiden miteinander zusammenhängen.

Das große Thema, das mich mein ganzes Leben hindurch beschäftigt hat, ist die Frage, wie Männer und Frauen zu besseren, kompetenteren Materialisten werden könnten. Meine Leserinnen und Leser mag diese Erklärung überraschen. Obwohl ich mich lange für Technik interessierte, habe ich keine Ingenieurausbildung, und ich bin auch kein Sozialwissenschaftler, dem die Sammlung und Analyse statistischer Daten genügt. Die Art Soziologie, die ich praktiziere, kommt von Dilthey her und stützt sich auf die Methoden der modernen Anthropologie. Sie konzentriert sich darauf, welchen Sinn die Menschen in ihren Lebensumständen sehen. Interpretation, Sinndeutung, ist ein chaotisches Unterfangen, denn die Erzählungen der Menschen über die Arbeit, die sie verrichten, oder die Orte, an denen sie leben, fallen zumeist eher vieldeutig als präzise aus. Aber genau das ist der Punkt: Die Interpretationen physischer Tatsachen und materieller Umstände, die die Leute geben, sind in der Regel komplex und oft widersprüchlich. Ebendiese komplizierte Verstehensweise heißt auf kollektiver Ebene "Kultur".

Musik und Soziologie

Vielleicht habe ich diese materialistische Kulturauffassung deshalb entwickelt, weil ich erst von einer anderen Berufswahl her zur Soziologie kam. Als Kind begann ich, Musik zu machen, vor allem Cello zu spielen, studierte schließlich am Konservatorium, bis eine Handverletzung meiner musikalischen Karriere ein Ende setzte. Bei der Kunst, die ein Berufsmusiker ausübt, handelt es sich um eine materielle Tätigkeit. Es herrscht das Konkrete: Beim Üben wie bei der Aufführung ist es die Technik, die den Ausdruck hervorbringt. Kunst ist das Kind handwerklichen Könnens. Bei der Interpretation geht es um den tatsächlich erzeugten Klang und weniger um die Vorstellung, wie Musik klingen könnte.

Gegen Ende seines Lebens habe ich diese Überlegung Theodor W. Adorno vorgetragen, dem Musiker und Soziologen, dessen Berufsweg dem meinigen besonders ähnlich sieht. Als Komponist widersprach er. Musik zu komponieren war für ihn ein innerer Kampf. Man hört dieses Ringen in seinen eigenen Kompositionen, und seine Schriften zur Musik konzentrieren sich oft auf die Absichten, die ein Komponist nicht umzusetzen vermochte. Das schöpferische Ringen könnte, glaubte Adorno, den Soziologen etwas über das Wesen des Konfliktes selbst lehren. Musiker, die zusammen spielen, lernen eine andere soziale Lektion. Der physische Akt des gemeinsamen Musizierens verlangt, dass Spieler, die ungleichgewichtige Parte zu spielen haben, Kooperation, Rücksichtnahme und Durchsetzungsvermögen untereinander ausbalancieren.

Diese Musiziererfahrung formte meine sozialen Überzeugungen. Der soziale Zusammenhalt sollte sich wie das Zusammenspiel im Ensemble an die konkreten Tatsachen der Ausführung halten. Im Alltagsleben sollte sich Kooperation mit Differenz verbinden. In der Realität praktiziert die soziale Welt diese Musikertugenden natürlich nicht. Mehr noch, sie trennt das "Sein" vom "Sollen". Versagen in der Praxis treibt die Leute dazu, sich in sich selbst zurückzuziehen; und der Fluchtmöglichkeit in die Subjektivität opfert man die Konkretheit. Als ich die Welt der Sozialforschung kennen lernte, verblüffte mich besonders diese Flucht in eine konturlose Subjektivität im Alltagsleben. In der Musik hätte dergleichen fatale Folgen. Die anthropologische Untersuchung der Art und Weise, in der die Menschen den Ort, an dem sie konkret leben, und die spezifische Arbeit, der sie nachgehen, interpretieren, erschien mir als taugliche Methode, die Kluft zwischen Ich und Umwelt zu überbrücken.

Allerdings würde ich, wie mir bald klar wurde, auch praktizieren müssen, was ich predigte. Ich würde lernen müssen, wie man konkret und fesselnd schreibt. Das Schreiben fällt mir, wie den meisten meiner Soziologenkollegen, nicht leicht. Die meisten von uns schreiben wirklich miserabel, so dass unsere Leser sich durch eine Nebelwand aus Jargon hindurchkämpfen müssen, um zu verstehen, worum es uns wirklich geht. Eine Methode, mit der ich dieses Problem zu lösen versucht habe, besteht darin, dass ich mir einen Idealleser vorstelle, etwa eine Astrophysikerin: Wie kann ich für Wunschleser so schreiben, dass er oder sie wissen möchte, was ich weiß? Im Laufe meines Lebens habe ich gelegentlich auch Romane geschrieben, um zu üben, wie man mit Worten Wirkung erzielt. Diese Ausflüge ins Fiktive halfen mir auch, als Interviewer die Schwierigkeiten besser zu verstehen, die die Befragten bei der Suche nach den richtigen Worten zur Beschreibung ihrer Erfahrungen plagten.

Ich möchte sicherlich keinerlei Originalitätsanspruch erheben, das Problem von Konkretheit und materieller Praxis erkannt oder gar gelöst zu haben. Abneigung gegen den Materialismus ist in der Kultur des Westens tief verankert. Die Kluft zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen, lässt sich bis zu antiken Philosophen wie Aristoteles zurückverfolgen, der einfache Handwerker verachtete, weil es ihnen an Theorie mangele. Diese Abneigung hat auch christliche Wurzeln bei jenen frühen Kirchenvätern, die lehrten, das Materielle tauge nicht zur Ausstattung des Seelenlebens. Für sie war bei jeder praktischen Tätigkeit ein Teil von uns abgesondert, ja abwesend. In der jüngeren Vergangenheit wurde Hegel für den Idealismus verantwortlich gemacht, besonders von Marx, doch die tragische Geschichte des Historischen Materialismus hat dann ihrerseits die Niederungen des Alltagslebens - mit all seinem Durcheinander von Bedürfnis und Begehren - von den höheren Interessen der Partei und des Staates abgetrennt.

Das Problem besteht darin, wie diese Aversion gegen das Konkrete sich überwinden lässt, ohne dem entgegengesetzten Übel zu erliegen, nämlich einem Reduktionismus, der im Namen roher biologischer oder ökonomischer Fakten den Menschen jegliche aktive Rolle bei dem Bestreben, sich ihrer selbst zu vergewissern, verweigert. Lassen Sie mich über meine Versuche berichten, im Laufe meiner Forschungsarbeit zwischen diesen beiden Extremen zu navigieren.
Urbanistische Imaginationen

Meine ersten Untersuchungen hatten buchstäblich Bodenhaftung: Ich begann mich für das konkrete Bild der Stadt im Bewusstsein der Menschen zu interessieren. In dem ersten meiner Bücher, die für deutsche Leser übersetzt wurden, "The Fall of Public Man",1 habe ich untersucht, wie die städtische Umwelt - der Verlauf der Straßen, die Gebäudeformen, die Kleidung der Leute, ihre Körperhaltungen und Bewegungen, ihre Sprechgewohnheiten - Fremde in einem öffentlichen Raum verbinden kann und was die Menschen in der Begegnung mit Fremden über sich selbst lernen. Gestatten Sie mir eine Anekdote am Rande: Als ich das Manuskript dieses Buches meiner ersten Lehrerin, Hannah Arendt, zeigte, gab sie es mir mit der Bemerkung zurück: "Schade, das ist ja nur ein Bericht über Verhaltensweisen."

Ich blieb dabei und setzte diesen Bericht in weiteren Büchern fort, weil er einen wichtigen Unterschied zwischen Theorie und Praxis erhellte. Auf der Seite der Theorie haben wir, was Städte betrifft, die geographischen Vorgaben, Pläne und Architekturmuster, wie eine Stadt funktionieren sollte. Die praktische Seite handelt von Verhaltensweisen, die oftmals das Konzept unterlaufen oder ignorieren, das der Planung zugrunde lag. Diese Verhaltensverstöße schienen mir eine ganz eigene Deutungssphäre zu schaffen, in der Bewohner und Nutzer ihrerseits interpretieren und praktizieren, wozu Raum dient und was er bedeutet. Wer untersucht, wie Menschen wohnen, stößt auf eine fundamentale Machtfrage: In der modernen europäischen Stadt wird den einfachen Bürgerinnen und Bürgern normalerweise das Recht vorenthalten, die Orte, in denen sie leben, selbst zu entwerfen. Die "Deutungssphäre" bezeichnet also eine politische Praxis des Widerstands.

Als ich in den 70er Jahren meine urbanistischen Untersuchungen aufnahm, waren Amerikas Städte offenkundig gespalten. Der amerikanische Rassismus hatte hochgradig segregierte Städte hervorgebracht, in denen Schwarze und Weiße nur selten im öffentlichen Raum effektiv miteinander zu tun hatten. Als ich dann in den 90er Jahren nach Großbritannien umzog, stellte ich zu meiner Bestürzung fest, wie spiegelbildlich die ethnische und religiöse Spaltung in London - und in vielen Städten auf dem Kontinent - der rassistischen Spaltung der amerikanischen Städte entsprach. Glaube und Geburtsort haben hier lediglich die Hautfarbe als Faktor sozialer Spaltung ersetzt.

Es kennzeichnet segregierte Milieus, dass die Menschen mit Ähnlichkeit und Örtlichkeit wohlvertraut sind, aber wenig Verständnis für Differenz und Distanz aufbringen. Phantasien über das Andere, den oder die Anderen ersetzen Erfahrungen. Das verzerrt die Deutungsarbeit, mit der die Menschen sich Klarheit darüber verschaffen, wo sie leben und mit wem sie leben. Über Menschen, die wir schon kennen, wissen wir konkret Bescheid, und dieses Bewusstsein kann geprüft und analysiert werden. Aber vom Fremden haben wir eine unkonkrete Vorstellung - sie ist kategorial und symbolisch und durch keinerlei Erfahrung nachprüfbar. Der Fremde wird zu einem Wesen, auf das wir unsere eigenen Verwirrungen und Ängste projizieren. Aus ebendiesem Grunde bin ich in Sachen Urbanistik ein Verfechter der Vorzüge öffentlicher Räume geworden - und ein Kritiker des Lokalismus, der kleinen Einheiten und der Gemeinschaft. Um eine komplexe Gesellschaft lebensfähig und lebenswert zu machen, müssen wir den Wert der Gemeinschaft niedriger, den des öffentlichen Raums höher veranschlagen.

Um das tun zu können, muss man sich um ein schwerer zu fassendes Problem kümmern, nämlich darum, wie die Menschen arbeiten. In den 70er Jahren konnten die Bewohner amerikanischer Städte, so sehr Rassenunruhen diese bedrohten, in ihrem Arbeitsleben von einer wohlbekannten, verständlichen, greifbaren und scheinbar stabilen Struktur ausgehen. Mit dem Aufkommen globalerer Investitionsmuster, neuer Kommunikationstechnologien und der Neustrukturierung der Bürokratien, innerhalb derer die Menschen arbeiten, begann die Situation sich zu ändern. Wie die meisten anderen Menschen trafen diese Veränderungen mich unvorbereitet. Im Jahre 1975 etwa wäre es schwer gefallen, die Turbulenzen vorauszusagen, in die ein Riesenkonzern wie General Motors im Jahre 2000 geriet - oder gar den Wandel zu prognostizieren, den die große Transformation des modernen Kapitalismus in den Städten bewirken würde.

Der moderne Kapitalismus

Da mein Handwerk als Soziologe darin besteht, andere Leute zu interviewen, beschloss ich Anfang der 90er Jahre zu untersuchen, welchen Reim sich die Leute auf diese große Transformation machen. Seither habe ich eine Dekade damit verbracht, mit Betroffenen zu reden. Mich interessierten weniger die Herren der neuen Ordnung als vielmehr ihre Knechte - die ganz gewöhnlichen Angehörigen der Mittelschicht, die ihre Technologien bedienen und das Personal ihrer Dienstleistungsbranchen stellen.

Für sie stellt sich die Frage der konkreten, materiellen Kultur, wie ich herausfand, vor allem als eine Frage von Zeit und Dauer. Die praktischen Qualifikationen, die sie brauchen, befinden sich jetzt in ständiger und beschleunigter Weiterentwicklung. Die "Haltbarkeitsdauer" der Ingenieurqualifikationen beispielsweise, die ein junger Mensch heute erlernt, wird auf zehn bis zwölf Jahre geschätzt, während man vor einer Generation noch mit 20 bis 25 Jahren rechnete. Der moderne Kapitalismus ist undenkbar ohne physische Mobilität - und zwar nicht nur die Mobilität einzelner Migranten, sondern ganzer Arbeitskategorien. In London zum Beispiel ist eine solche Kategorie - das Auswerten von Computer-Tomographien und anderer klinischen Untersuchungen - weitgehend nach Indien ausgelagert worden, wo sie von indischen Analysten bearbeitet werden. Am häufigsten stoßen meine Mitarbeiter und ich auf Menschen, die sich damit herumschlagen, wie man - wenn überhaupt - aus wechselnden Kurzzeitbeschäftigungen in Geschäftszweigen, die ihrerseits permanenter Umstrukturierung unterliegen, so etwas wie eine Karriere zusammenschustert. Unter solchen Umständen wird es schwierig, strategisch zu denken, und die Menschen kämpfen, subjektiver ausgedrückt, darum, Lebensnarrative zu ersinnen, die ihrem Ringen eine Richtung geben können. Diese zeitlichen Verwerfungen im Bereich der Berufsarbeit wirken sich auf das Verständnis des Ortes aus. Vorurteile gegen Immigranten haben offenkundig in dem Maße zugenommen, wie die Weltwirtschaft in Bewegung geraten ist, ungeachtet der Tatsache, dass viele Einwanderer in den Städten Amerikas und Europas Arbeiten verrichten, die wir Einheimischen nicht erledigen wollen. Die Homogenisierung der heutigen Welt hat die Nostalgie der Menschen für ihre geschichtliche, je verschiedene Vergangenheit geweckt oder vermehrt - was in der jüngsten Vergangenheit vielleicht in Deutschland weniger als in der angelsächsischen Welt ein Problem ist. Allgemeiner gesehen jedoch sind Sinn und Bewusstsein des eigenen Orts zu einer Stätte der Zuflucht vor den Verwerfungen der Zeit geworden.

Im modernen Kapitalismus verbinden sich ökonomische Innovation und kultureller Fundamentalismus. Diese unselige Verbindung ist es, über die ich mir in Büchern wie "Der flexible Mensch" und "Respekt im Zeitalter der Ungleichheit" Klarheit zu verschaffen suchte2 - eine Verbindung von Widersprüchen, die Beschäftigte der New Economy mir gegenüber folgendermaßen veranschaulicht haben: Amerikanische Ingenieure, die die Tröstungen der Religion suchen, ohne an die Bibel zu glauben; britische Krankenschwestern, die ebenjene Dörfer idealisieren, aus denen sie bei der ersten Gelegenheit flohen; islamische Einwanderer in London, die, ohne die geringste Absicht, in ihre frühere Heimat zurückzukehren, das Leben ihrer Großeltern verklären. Für sie alle klafft ein Abgrund zwischen dem "Sollen" der Kultur und den heutigen Gegebenheiten der Gesellschaft.

Alles in allem habe ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit zu zeigen versucht, aus welcher Substanz Kultur besteht - und die Abneigung gegen diese materielle Beschaffenheit, welche die moderne Gesellschaft heute unverkennbar auslöst. Die Notwendigkeit, gute Interpreten der materiellen Wirklichkeit zu werden, tritt in der Umweltkatastrophe, mit der wir jetzt konfrontiert sind, sicherlich klar zu Tage, denn diese Krise haben wir selbst herbeigeführt. Aber die gleiche Notwendigkeit zeigt sich auch in unseren Erfahrungen mit Arbeit und Ort. Ich möchte sowohl die Chancen als auch die Schwierigkeiten betonen, die sich beim Interpretieren von Fakten und Verhältnissen eröffnen. Davon, dass Menschen gute Interpreten sein können, bin ich fest überzeugt. Als Künstler habe ich diese Erfahrung gemacht, und als Soziologe halte ich daran fest.
* Dieser Beitrag ist die Dankesrede Richard Sennetts anlässlich der Verleihung der Hegel-Preises in Stuttgart am 27. März 2007, die wir hier mit freundlicher Genehmigung des Autors in eigener Übersetzung präsentieren. 1 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1983 (engl. The Fall of Public Man, New York 1977). 2 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998 (engl.: The Corrosion of Character. The Transformation of Work in Modern Capitalism, 1998); ders., Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002 (engl.: Respect in a World of Inequality, New York 2002).

Analysen und Alternativen - Ausgabe 05/2007 - Seite 585 bis 590